Von Timofei W. Bordatschow
Der Aufstieg Polens am politischen Firmament der Europäischen Union ist an sich schon ein deutlicher Beweis für die abnehmende Bedeutung dieser Union im globalen Weltgeschehen. Dies zeigt sich in der rein protokollarischen Rolle, die Brüssel bei der Diskussion fast aller aktuellen Krisen spielt, und auch in seiner Unfähigkeit, irgendeine Alternative zur US-amerikanischen Politik anzubieten.
Seit der "Rückkehr" in die westeuropäische Familie spielte Polen stets die Rolle des Störenfrieds bei jeglichem Versuch, die Europäische Union als eine globale Institution zu stärken oder auch nur mit Russland in gute Beziehungen zu treten. In jener Vision einer EU, von der Paris und Berlin vor 30 Jahren träumten, wäre Warschau ein braves Anhängsel des deutsch-französischen Tandems geblieben. Die Tatsache, dass das Land mittlerweile eine überproportionale Rolle innerhalb der EU spielt, bedeutet nicht nur, dass die Westeuropäer die Initiative aus der Hand gegeben haben, sondern es beweist auch, wie sehr die Politik der Europäischen Union sich tatsächlich auf das Provinzielle zurückgezogen hat.
Für Russland spielt Polen in Wirklichkeit keine bedeutende Rolle. Bedeutender für Moskau sind die neuen Bedingungen im geostrategischen Spiel, das Russland mit dem Westen spielen muss. Es ist dem Kreml egal, welche politische Partei in Warschau gerade an der Macht ist. Jede Regierung dort ist nichts weiter als eine zweckmäßige Regierung, deren einzige Überlebensmöglichkeit darin besteht, die Interessen der USA zu vertreten und die transatlantische Einheit aufrechtzuerhalten. Dies erstickt natürlich jede Hoffnung auf eine nachhaltige eigenständige europäische Ordnung im Keim. Schließlich wurde die strategische Ausrichtung der Konfrontation Russlands gegen den Westen immer gerade von seinen inneren Spaltungen bestimmt.
Sollte die neue polnische Regierung von der Partei "Bürgerplattform" (Platforma Obywatelska, PO) gebildet werden, die zuvor in der Opposition war, wird das Land mit einer Krise der doppelten Machtzentren konfrontiert sein, da ein Vertreter der ehemaligen Regierungspartei im Amt des Staatspräsidenten bleiben wird. Dies wird das Gewicht der Außenpolitik Warschaus vorübergehend schwächen und zu Verwirrungen und Zwietracht führen. Natürlich ist es nicht auszuschließen, dass man in Washington, D.C. angesichts solcher Bedingungen aktiver bei der Bewältigung der polnischen innenpolitischen Widersprüche mitspielen wird. In jedem Fall wird "der Kampf gegen Russland" eine tragende Säule in der polnischen Politik bleiben, weil dies etwas ist, das die polnische Politik in sich vereint – unabhängig von den innenpolitischen Positionen der einzelnen Politiker.
Der Konflikt zwischen Polen und Deutschland wird sich wohl für eine Weile beruhigen, und die Forderungen nach Reparationszahlungen für die erlittenen Leiden im Zweiten Weltkrieg werden wohl für eine Weile von der polnischen Tagesordnung verschwinden. Der Grad der Konfrontation zwischen Warschau und Brüssel bezüglich unterschiedlicher Vorstellungen über Werte wird abnehmen.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sich an der strategischen Position Polens als Außenposten der USA innerhalb der EU ernsthaft etwas ändern wird. Der Machtwechsel in Warschau wird auch nicht zu einer Kehrtwende in der Politik bezüglich der Ukraine führen. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass sich eine liberale polnische Regierung als bequemerer Partner für das Regime in Kiew erweisen wird. In jedem Fall bleibt das Territorium Polens ein Umschlagplatz für Waffen und Söldner, die vom Westen in den vom Krieg zerrütteten Nachbarn einsickern. Wir sollten nicht erwarten, dass sich die an die Macht gekommenen Liberalen in Warschau in Bezug auf die russische Enklave Kaliningrad vertragskonformer verhalten werden. Andererseits ist ein weiterer Faktor, dass möglicherweise die polnische Außenpolitik hinsichtlich der Militarisierung etwas weniger demonstrativ auftreten wird.
Das Wesentliche wird in Warschau zwar unverändert bleiben, aber es werden wohl weniger Schreie und weniger empörende Kommentare von dort zu hören sein. Allerdings glaube ich nicht, dass der sehr extremistische Charakter der Rechtspopulisten in der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ein Problem für Russland darstellt, Und auch nicht für Deutschland, das Warschaus zweitwichtigster außenpolitischer Gegenspieler ist. Die Realität ist, dass Polen hinsichtlich seines Überlebens als Staat und Gesellschaft zu unsicher ist, um als ein wirklich souveräner Staat aufzutreten.
Die Geschichte der Unabhängigkeit Polens endete Mitte des 18. Jahrhunderts. Zwei Versuche, diese Unabhängigkeit wiederzubeleben – zwischen den Weltkriegen und unter kommunistischer Herrschaft – blieben erfolglos. Der heutige polnische Staat ist ein Resultat einzigartiger globaler Umstände, die sich aus dem Sieg der USA im Kalten Krieg ergeben haben. Polens Zukunft – unter welcher Regierung auch immer – hängt von der anhaltenden Präsenz der USA in Europa ab. Daher hat der Wechsel der Parteien und sogar der Ideologien in Warschau keine große Bedeutung für die entscheidende Frage, die Polen und Russland trennt – so wie Polen und Deutschland, sofern der Wunsch nach Unabhängigkeit in Berlin jemals wieder aufkommen sollte.
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Übersetzt aus dem Englischen
Timofei W. Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der HSE Universität in Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.