Von Gert Ewen Ungar
Es ist klar, dass mit der Gründung einer Wagenknecht-Partei das Ende der Partei Die Linke am Horizont aufscheint. Es ist anzunehmen, dass man dies auch im Karl-Liebknecht-Haus und in der Führung der Partei klar sieht, auch wenn man dort noch große Töne spuckt. Im August meinte der ehemalige Parteivorsitzende Bernd Riexinger, das Wählerpotenzial der Partei liege bei 18 Prozent. Er ist sich noch immer sicher, dass nach einem Ausscheiden von Sahra Wagenknecht die Partei ihr Potenzial wieder besser ausschöpfen kann. Er sagte dem Nachrichtenportal The Pioneer angesichts der bevorstehenden Parteigründung Wagenknechts:
"Für die Linke ist es eine Befreiung. Alle, die durch Frau Wagenknecht daran gehindert wurden, uns zu wählen oder sogar bei uns Mitglied zu werden, sind herzlich eingeladen."
Ob er damit richtig liegt, wird sich bei den kommenden Wahlen zeigen. Für seine These spricht insgesamt wenig. Dass die Partei durch den Weggang von Wagenknecht mehr Wähler hinzugewinnt, als sie verliert, kann bezweifelt werden.
Dass man an die Rückkehr zu zweistelligen Wahlergebnissen auch in der Parteiführung nicht recht glaubt, machen die Schuldzuweisungen der Parteispitze an Wagenknecht deutlich. Unlauter wirken die Versuche jedoch, die Schuld für das absehbare Scheitern der Partei auf sie abzuwälzen.
Parteichefin Janine Wissler wirft Wagenknecht in einem Interview mit der Tagesschau vor, auf einem Egotrip zu sein. Das ist angesichts des seit Jahren schwelenden Konflikts und der Bereitschaft Wagenknechts, ihn bis zur Klärung auszuhalten, eine bizarre Wortwahl. Im Juni war es Wissler selbst gewesen, die verkündet hatte:
"Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagneknecht."
Im Anschluss an ihre Anschuldigung wirft Wissler den Floskel-Automaten an und behauptet, die Linke setze sich für bezahlbaren Wohnraum, gerechte Löhne, gegen Zwei-Klassen-Medizin und für die soziale Frage ein. Das wirkt angesichts der jüngsten Positionierungen der Partei unglaubhaft.
Hätte sie dies in den letzten Jahren tatsächlich und uneingeschränkt getan, stünde die Partei für die Wähler deutlich wahrnehmbar für linke, soziale Politik. Es gäbe dann zum einen den massiven Einbruch bei der Wählerzustimmung nicht.
Zum anderen gäbe es auch den innerparteilichen Streit nicht, der zum Bruch führte. Der zentrale Vorwurf Wagenknechts ist, dass die Partei die Sorgen und Belange ihrer eigenen Klientel aus dem Blick verloren hat. Die Linke setzt sich eben nicht mehr vorrangig für soziale Politik, gerechte Löhne und bezahlbare Mieten ein, wie Wissler behauptet, sondern hat sich der woken Lifestyle-Themen und Polit-Moden der urbanen Mittelschicht angenommen.
Dass der Vorwurf Wagenknechts an die Parteiführung nicht von der Hand zu weisen ist, führt eine Personalie ganz deutlich vor Augen: Für die im nächsten Jahr anstehende Wahl zum EU-Parlament kürten die Parteivorsitzenden Wissler und Schirdewan die Seenotretterin Carola Rackete an allen Gremien und vor allem an den Interessen der Stammwähler vorbei zur Spitzenkandidatin. Viel deutlicher als mit dieser Personalie kann eine vormals linke Partei ihrer Wählerklientel nicht mitteilen, dass sie sich bitte eine andere Partei zur Vertretung ihrer Interessen zu suchen habe.
Wissler macht dies im Interview selbst deutlich, wenn sie sagt, die Interessen von Flüchtlingen dürften nicht gegen die soziale Frage ausgespielt werden. Wie sie das konkret umsetzen will, sagt sie allerdings nicht. Sie will die Kommunen stärken, floskelt sie wenig überzeugend vor sich hin. Mit Rackete als Spitzenkandidatin hat die Linke ein Statement abgegeben: Seenotrettung und Flüchtlinge sind als Wahlkampfthemen gesetzt und die soziale Frage eben nicht. Der Wähler wird es goutieren. Die 18 Prozent rücken in ganz weite Ferne.
Die Ursachen für den Niedergang der Linken liegen nicht im internen Streit. Der mag das Problem verschärft und dem Ansehen der Partei geschadet haben, aber er ist nicht ursächlich für den Vertrauensverlust beim Wähler. Die Linke, es wurde oft gesagt und kann hier daher nur wiederholt werden, unternahm einen anbiedernden Schwenk in Richtung urbanes, liberales Bürgertum. Die Linke angelt nun ihre Wähler in dem Teich, in dem auch die Grünen ihre Netze auswerfen. Seitdem geht's bergab.
Zu erklären ist der Abstieg einfach. Wem das Wohlergehen der LGBT-Community am Herzen liegt, wer an die Existenz von 72 Geschlechtern glaubt und meint, Deutschland habe Platz für alle, die kommen wollen, der wählt gleich das Original. Die Grünen repräsentieren Identitätspolitik besser und authentischer als die Linke, die sich immer noch genötigt sieht, faktisch grüne Forderungen rötlich anzupinseln und in ein paar sozial klingende Phrasen einzubetten, wie das Wissler im Tagesschau-Interview vorführt. Das wirkt weder für die Stammklientel glaubwürdig, noch zieht es in einem nennenswerten Maß Wähler der Grünen ab.
Wer in einer strukturschwachen Region wohnt, über ein niedriges Einkommen verfügt und sich mit steigenden Preisen für Miete, Energie und Lebenshaltung konfrontiert sieht, wer seine sexuelle Identität darüber hinaus politisch unkorrekt mit "normal" angibt sowie Familie und Kinder für ein erstrebenswertes Lebensziel hält, der wählt eben nicht mehr die nun hippe und woke Linke. Auch wer Frieden mit Russland und ein Ende der Sanktionspolitik will, wem zudem die Maßnahmen während der COVID-19-Pandemie repressiv und die Forderung nach einer Impfpflicht autoritär erschienen, dem blieb bisher – man muss es deutlich sagen – eigentlich nur die Wahl, bei der AfD sein Kreuz zu machen – auch dann, wenn das Wähler-Herz eigentlich kräftig auf der linken Seite schlug. Dass diese Wähler nun nach dem Weggang von Wagenknecht den Weg zurück zur Partei die Linke finden, kann ausgeschlossen werden. Sie finden eher den Weg in die neue Wagenknecht-Partei.
Dass eine angeblich linke Partei ihre eigenen Wähler politisch heimatlos gemacht und so in die Arme einer rechtskonservativen Partei getrieben hat, ist das eigentliche Versagen der Partei Die Linke, das die Parteiführung aber ganz offenkundig unaufgearbeitet lassen möchte. Sie hat es schließlich selbst maßgeblich mitzuverantworten. Stattdessen ergeht sich in Schuldzuweisungen an Wagenknecht. Das ist billig und unaufrichtig.
Seit dem Schwenk der Partei Die Linke in Richtung urbanes Bürgermilieu gibt es in Deutschland faktisch keine linke Alternative im Parteienspektrum mehr. Aus diesem Grund ist der Schritt Wagenknechts zu begrüßen, eine eigene Partei zu gründen. Es braucht in Deutschland dringend eine linke Alternative, eine soziale und sozialistische politische Interessenvertretung.
Der Streit wird noch ein wenig weitergehen, denn es geht auch um die Existenz der Fraktion Die Linke im Bundestag. Es ist sozusagen das letzte Zucken einer in Agonie liegenden Partei. Verlassen Wagenknecht und mit ihr noch weitere Abgeordnete die Fraktion, dann verliert die Partei ihren Fraktionsstatus. Dabei geht es auch ums Geld und um Mittel.
Es wird also noch ein bisschen Dreck in Richtung Wagenknecht geworfen werden. Dann aber, dann ist es vorbei. In Deutschland ist ab Montag das Parteienspektrum voraussichtlich endlich wieder vollständig.
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