Von Elem Chintsky
Wegen der Bombardierung des im Norden von Gaza gelegenen Krankenhauses Al-Ahli-Arab-Hospital wurde auf dringende Bitte Russlands und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) für den heutigen Tag eine offene Sitzung des UN-Sicherheitsrats einberufen.
Das Krankenhaus bestand seit dem Jahr 1882 als ein christliches, missionarisches Zentrum in Gaza. Ersten Meldungen des Gesundheitsministeriums Palästinas zufolge seien weit über 500 palästinensische Zivilisten bei diesem Angriff umgekommen. Von den überlebenden Ärzten vor Ort wird befürchtet, dass die Opferzahl noch steigen wird – nicht alle Opfer wurden bisher geborgen. Wenige Zeit später hatte sich auch Peking der Forderung Russlands und der VAE nach einer Sitzung angeschlossen. Zum Zeitpunkt dieser Publikation ist sowohl noch unklar, ob diese Sitzung des UN-Sicherheitsrates offen oder hinter verschlossenen Türen abgehalten wird, als auch, ob und zu welcher Einigung man dort kommen wird.
Die offensichtliche Grundsatzfrage, die sich stellt, ist, ob die Vereinten Nationen jemals die Institution gewesen sind, die sich die gepeinigten Länder der Erde anfangs, nach dem Zweiten Weltkrieg erträumt haben. Sind sie ein Garant für den Weltfrieden? Ein Vehikel des internationalen Rechts und Wächter über das Völkerrecht? Nicht ganz, denn schon allein, dass der Hauptsitz der UNO in den USA ist – auf einem von Finanzoligarchen John D. Rockefeller Jr. gespendeten Stück Land in New York – lässt vermuten, dass es in der Nachkriegszeit, also von Anfang an eine gewisse Gewichtung und einen roten Faden der Bevorzugung gegeben hat.
Zwischenstaatlicher Kleingeist – Made in New York
Der jüngste "Durchbruch" in der mutigen Unvoreingenommenheit der UNO war wohl die "prinzipientreue und tugendhafte" Ablehnung eines russischen Entwurfs für eine humanitäre Resolution zum Waffenstillstand zwischen Gaza und Israel – durch den UN-Sicherheitsrat! Die Begründung lautete: "Die Hamas wurde in der Resolution nicht erwähnt." The Associated Press berichtete außerdem, dass "der Hamas-Überraschungsangriff, bei dem 1.300 Israelis getötet wurden, das schlimmste jüdische Massaker seit dem Nazi-Holocaust im Zweiten Weltkrieg war". Am Mittwoch ist dann von Brasilien eine Resolution zum selben Thema eingereicht worden. Dort wird das Zerbomben Gazas durch Israel gar nicht erwähnt – stattdessen konzentrierte man sich darin ausschließlich auf den Überraschungsangriff der Hamas am 7. Oktober 2023. Die Abstimmung über diese Resolution soll noch am selben Tag geschehen.
Jedenfalls hätte es grünes Licht für einen solchen Vorschlag sicherlich gegeben, wenn die zionistisch gleichgeschalteten USA eine solche Resolution vorgetragen hätten. UNO-Generalsekretär António Guterres und die Meinungsclique hätten in New York dann gewusst, dass man niemandem Wichtigen auf den Schlips tritt und wie man sich nach außen zu geben hat. Frieden, der von den USA gesegnet werden würde, ist allemal wertvoller, als von irgendwelchen aufmüpfigen, regionalen Hegemonen aus Eurasien. In letzter Zeit jedoch – also in den letzten 100 Jahren zumindest – sind die USA nicht gerade auf der Überholspur, was "Friedensresolutionen" anbelangt. Ganz im Gegenteil: Der Krieg in Vietnam, das hinterhältige Provozieren der Sowjets zu einem Präventivschlag in Afghanistan (siehe Buch vom damaligen CIA-Chef Robert M. Gates, "From The Shadows"), der Afghanistankrieg und eine fast zwanzigjährige US-Okkupation ab 2002, insgesamt drei Golfkriege (mit dem Irakkrieg ab 2003 als das Ende dieser US-Trilogie) sowie der ungesühnte NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Dies sind allesamt Beispiele, in denen die UNO samt ihrer Institutionen nicht mehr als vorsichtige Mahnungen herausstotterten und damit gleichzeitig ihren eigentlichen "Vermieter" in New York mit einem Zugehörigkeitssiegel kennzeichneten.
Die UNO war aber zumindest in der Frage des Verhältnisses zwischen Israel und Palästina nicht immer so desorientiert und zersprengt. Schaut man auf die Geschichte der Vetos gegen Resolutionen, die Israel und seine Kriegs- und Siedlungspolitik gegen die Palästinenser verurteilten, zeigt sich durchaus ein anderes, grundsatzgetreueres Bild. Nämlich eines, das weit über 50 Vetos offenlegt gegen die mehrheitlich Israel-kritischen Resolutionen. In den allermeisten Fällen waren es die USA, die über Jahrzehnte hinweg ihrer bedingungslosen Unterstützung für Israel durch Vetos Ausdruck verliehen.
Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit, das die Dynamik und die Aufstellung der relevanten Akteure von heute in vielen Facetten widerspiegelt, ist die Resolution (von Kuwait) des UN-Sicherheitsrates vom 1. Juni 2018, welche unter anderem festhielt, dass dieses höchste UNO-Gremium damit seine "große Besorgnis über die Eskalation der Gewalt und der Spannungen" seit Beginn der palästinensischen Proteste in Gaza am Grenzzaun zu Israel und "tiefe Besorgnis über den Verlust von Menschenleben unter der Zivilbevölkerung und die hohe Zahl der Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung, insbesondere im Gazastreifen, einschließlich der Opfer unter Kindern, durch die israelischen Streitkräfte" zum Ausdruck brachte.
Laut den Angaben von Gazas Gesundheitsministerium erschossen damals israelische Scharfschützen bei den Protesten an der Grenze im Laufe eines ganzen Jahres mindestens 266 Menschen und verletzten etwa weitere 30.000 Zivilisten.
Die heute als US-Präsidentschaftskandidatin wieder aktive Republikanerin Nikki Haley hatte zu jener Zeit in ihrem damaligen Amt als US-Botschafterin unter Trump bei den Vereinten Nationen ihr Veto mit folgender Begründung kundgegeben: Die Resolution "repräsentiert ein sehr einseitiges Bild von den Ereignissen der letzten Wochen in Gaza". Außerdem beschwerte sie sich, dass die "Hamas in der Resolution nicht erwähnt wurde".
Beides, aber besonders letztere Anmerkung, wird auch heute wieder – wie bereits weiter oben festgehalten – an der jüngst von Russland eingebrachten und umgehend abgelehnten Friedensresolution bemängelt.
Umso interessanter ist der Fakt, dass die Hamas de facto vom israelischen Geheimdienst Mossad mitbegründet wurde. Halbwegs unabhängige Politiker in der westlichen Hemisphäre, wie zum Beispiel Gregor Gysi (2014) und Ron Paul (2009) teilten dies sogar auf den größten ihnen zugänglichen politischen Plattformen öffentlich mit. Man will also beim Veto gegen die jeweilige Friedensresolution immer scheinheilig die böse "Hamas erwähnt sehen" – andererseits müsste man dann im UN-Sicherheitsrat oder in der UN-Generalversammlung auch ein Exposé darüber eröffnen müssen, wie die Hamas eine Schöpfung der USA und Israels ist. Die Ratio hinter der Schaffung und Finanzierung der Hamas war damals, den wachsenden Einfluss der immer besonnener werdenden Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) unter Führung von Jassir Arafat und somit auch der Fatah-Partei zu entschärfen – in dem man einen radikal-extremistischen, innenpolitischen Konkurrenten einschleust und ihr, der PLO, entgegenstellt. Alles auch damals schon, um die Gründung eines Palästinensischen Staates im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung zu vereiteln – wie Benjamin Netanjahu übrigens im März 2019 öffentlich eingestand. Also warum nicht die Hamas bei der nächsten Friedensresolution tatsächlich doch beim Namen nennen? Diese Frage gilt besonders der russischen Delegation.
Russland nicht im UN-Menschenrechtsrat
Eine weitere zwischenstaatliche Errungenschaft harter Realpolitik der UNO als Organisation muss wohl der Ausschluss Russlands aus dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen sein, der in einer Abstimmung innerhalb der UN-Generalversammlung entschieden wurde. Der in der UNO als Direktor der internationalen Krisengruppe bestallte Richard Gowan erläuterte gegenüber The Associated Press: "Ich denke, die Russen werden sich freuen, dass sie eine beträchtliche Minderheit der UN-Mitglieder überzeugen konnten, sie zu unterstützen, was darauf hindeutet, dass Moskau trotz wiederholter westlicher Kritik kein völliger Paria im UN-System ist."
Was man aber dem UN-Menschenrechtsrat durchaus gutschreiben kann, ist, der Initiative Pakistans zu folgen und eine Schweigeminute für die Menschen im okkupierten Palästina abzuhalten. Da dies wenige Tage nach dem Hamas-Angriff und den damit verbundenen großen Opferzahlen auf israelischer Seite geschah, zeigte parteiübergreifend die AfD-Politikerin Beatrix von Storch im Deutschen Bundestag ihre Empörung und wies dabei zugleich auf einen fundamentalen Konflikt mit der sogenannten deutschen Staatsräson hin.
Um den Kreis zu schließen: Derselbe Gowan beschrieb die oben zitierte, überzeugte Zionistin Nikki Haley im Kontext ihrer Entwicklung in der politischen Laufbahn: "Es gab immer einen klaren Unterschied zwischen ihrer relativ pragmatischen Herangehensweise an die meisten Themen und einer unglaublich performativen, puristischen Herangehensweise an die Diplomatie gegenüber Israel."
"Translesbians First" – Gender-Gaga wichtiger als die Krisenherde der Welt
Nachdem man beim aserbaidschanisch-armenischem Konflikt um Bergkarabach im UN-Sicherheitsrat zu keiner autoritativen Einigung kommen konnte, wurde eine Friedensmission erst dann entsandt, als die Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus dem Krisengebiet geradezu abgeschlossen war. Die letzte UN-Friedensmission dorthin gab es vor 30 Jahren.
Stattdessen werden aber in der UNO-Tochtergesellschaft – "UN Women" – angeblich offenbar viel drängendere Fragen gelöst, etwa wie das richtige Einhalten von internationalen Feiertagen: "Denkt daran, dass Trans-Lesben auch Lesben sind. Lasst uns JEDEN Ausdruck von Liebe und Identität würdigen und ehren! Herzlichen Glückwunsch zum internationalen #LesbianDay!"
Obwohl der täglich immer weiter eskalierende Nahost-Krieg nun eigentlich das volle Handlungsspektrum der UNO mobilisieren sollte. Zumindest erst einmal rhetorisch. Denn, wenn sich nicht einmal die Sprache klarer und schärfer fassen lässt, ist das Scheitern im Handeln bereits gesetzt. Die große diplomatische Herausforderung ist, dass westliche Institutionen große Schwierigkeiten haben, ihre Blase der angeblichen westlichen Unfehlbarkeit zu verlassen. Das Thema von Israels Bombardierung des Gazastreifens darf nicht zu einem weiteren verwässerten, anekdotischen "Empfehlungsmotto", das niemanden in Israel kränken darf, heruntergespielt werden. So sind die folgenden Tweets der Vereinten Nationen weitaus zu anonym und oberflächlich – auch wenn sie im Prinzip richtig sind: "Schulen sind #KeinZiel. Krankenhäuser sind #KeinZiel. Kinder sind #KeinZiel. Zivilisten sind #KeinZiel. Humanitäre Helfer sind #KeinZiel."
Ja, sie sollten keine Ziele sein – sie sind aber allesamt Ziele.
Wer wird hier also ermahnt? Wer wird hier von der UNO des Völkermordes bezichtigt? Niemand. Es ist nicht klar. Es wird niemand direkt und verbindlich bezichtigt. Es wird zwar gesagt, wie es sein soll, aber niemand wird zur Verantwortung gezogen dafür, wie es derzeit und seit langer Zeit faktisch ist.
Bisher folgten keinerlei verbindliche Verpflichtungen oder Aufrufe zur Verhängung von internationalen Sanktionen oder ähnlichen Restriktionen über Israel, mit denen aber andererseits die Russische Föderation seit den Jahren 2008, 2014 und 2022 überzogen wird. Der UN-Generalsekretär persönlich oder der UN-Sicherheitsrat und die UN-Generalversammlung müssten (außer der einen oder anderen gewissen Stimme) geradezu einstimmig das Wort erheben gegen den größten Unterstützer und "Ermöglicher" Israels und seiner Verbrechen gegen die Palästinenser – gegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Formulierungen der UN müssten als direkte Anklage, mit gut sortierter Indizien-Mappe und ungekürzten Beweisen für einen tragischen Mangel an politischer Korrektheit transparent vorgetragen werden. In einer perfekten Weltorganisation jedenfalls. Die Realität hingegen wird sein, dass die Vereinten Nationen sicherlich ein ähnliches Schicksal ereilen wird, wie einst ihre Vorgängerorganisation – der Völkerbund ("League of Nations") von 1920 bis 1946. Nämlich eine Entlassung in die Irrelevanz, bis der nächste zwischenstaatliche Zusammenschluss wieder aus der Asche eines großen Krieges zusammengebastelt werden muss.
Man kann die Vereinten Nationen lange kritisieren, aber es gibt durchaus auch eine Kehrseite, die beim Betrachten oft zu kurz kommt. Ein stärkerer, autoritativer Völkerbund müsste als politischer Körper souveräner werden, was aber den simultanen Abbau der Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten, der Nationalstaaten, zur Folge hätte. Anhand der Entwicklung der Europäischen Union auf dem "alten Kontinent" kann man sich bereits vorstellen, wie solche Prozesse weltweit auf Hürden stoßen würden. Auf diesen beiden Hochzeiten kann man nicht gleichzeitig tanzen. Das heißt, über eine gewisse Schwelle können die Vereinten Nationen nicht springen, ohne anderswo Irritationen – hinsichtlich der Selbstbestimmung und Autonomie ihrer Mitglieder – zu verursachen.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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