Pepe Escobar: Die Geopolitik hinter der sogenannten Operation Al-Aksa-Flut

Der globale Fokus hat sich gerade von der Ukraine nach Palästina verlagert. Diese neue Arena der Konfrontation wird den Wettbewerb zwischen dem atlantischen und dem eurasischen Block weiter verschärfen. Dieser Wettbewerb wird zunehmend zum Nullsummenspiel.

Von Pepe Escobar 

Die sogenannte Operation Al-Aksa-Flut der Hamas vom vergangenen Wochenende war sorgfältig geplant. Der Starttermin dieser Operation wurde durch zwei auslösende Faktoren bestimmt.

Zuerst präsentierte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, während der UN-Generalversammlung im vergangenen September, mittels einer Landkarte seine Vision des "Neuen Nahen Ostens", auf der er Palästina vollständig ausradierte und somit jede einzelne UN-Resolution zum Thema Palästina ins Lächerliche zog.

Zweitens sind es die ständigen Provokationen rund um die heilige Al-Aksa-Moschee in Jerusalem, darunter eine ganz bestimmte Provokation, die als Tropfen das Fass endgültig zum Überlaufen brachte: Zwei Tage vor dem Beginn der Operation Al-Aksa-Flut, am 5. Oktober, starteten mindestens 800 israelische Siedler einen Angriff in der Gegend rund um die Moschee und begannen damit, muslimische Pilger zu schlagen und zu treten. Sie zerstörten und plünderten zudem palästinensische Geschäfte, alles unter den Augen tatenlos zusehender israelischer Sicherheitskräfte.

Jeder mit einem funktionierenden Gehirn weiß, dass die Al-Aksa-Moschee eine definitive rote Linie ist – nicht nur für die Palästinenser, sondern für die gesamte arabische und muslimische Welt.

Aber es kommt schlimmer. Die Israelis vergleichen die Operation Al-Aksa-Flut mit Pearl Harbor. Das ist so bedrohlich, wie es nur geht. Der Angriff der Japaner auf den US-Marinestützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii, am 7. Dezember 1941, war der Grund für die USA, in einen bereits tobenden Weltkrieg einzutreten und Japan im Jahr 1945 schlussendlich mit Atomwaffen zu bombardieren. Dieses "israelische Pearl Harbor" könnte Tel Avivs Rechtfertigung sein, einen Völkermord in Gaza loszutreten.

Teile des Westens begrüßen die bevorstehende ethnische Säuberung – darunter auch Zionisten, die sich als "geopolitische Analysten" ausgeben und ungeniert verlautbaren, dass der Austausch der Bevölkerung in Palästina, der 1948 begann, abgeschlossen werden muss. Und sie glauben, dass man mit massiver Waffengewalt und massiver proisraelischer Berichterstattung in den Medien die Dinge im Handumdrehen umkehren, den palästinensischen Widerstand brechen und die Verbündeten der Hamas, wie die Hisbollah und Iran, geschwächt zurücklassen könne.

Das Ukraine-Projekt des Westens ist ins Stocken geraten und hat nicht nur mächtige westliche Politiker dumm dastehen lassen, sondern ganze europäische Volkswirtschaften in den Ruin getrieben. Doch während sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere: Man wechselt einfach vom Verbündeten Ukraine zum Verbündeten Israel und richtet den Blick auf den Gegner Iran statt auf den Gegner Russland.

Es gibt noch andere triftige Gründe für den Westen, in dieser Region jetzt mit voller Kraft loszulegen. Ein friedliches Westasien bedeutet den Wiederaufbau Syriens – an dem China nun offiziell beteiligt ist. Es bedeutet eine aktive Sanierung für den Irak und den Libanon, während Iran und Saudi-Arabien jetzt Teil von BRICS-11 sind. Die strategische Partnerschaft zwischen Russland und China wird bedingungslos respektiert und es wird mit allen regionalen Akteuren interagiert, einschließlich mit den wichtigsten US-Verbündeten im Persischen Golf.

Inkompetenz. Absichtliche Strategie. Oder beides.

Das bringt uns zu den Kosten für den Beginn dieses neuen "Kriegs gegen den Terror". Die Propaganda ist in vollem Gange. Netanjahu in Tel Aviv setzt die Hamas auf dieselbe Stufe wie den Islamischen Staat. Für Wladimir Selenskij in Kiew ist die Hamas gleichbedeutend mit Russland. An einem Oktoberwochenende geriet der Krieg in der Ukraine in den westlichen Mainstream-Medien plötzlich völlig in Vergessenheit. Am Brandenburger Tor, am Eiffelturm und selbst im brasilianischen Senat ist man jetzt neu für Israel.

Ägyptische Geheimdienste behaupten, dass sie Israel vor einem bevorstehenden Angriff der Hamas gewarnt hätten. Die Israelis entschieden sich jedoch, diese Warnung zu ignorieren, so wie sie auch die militärischen Übungen der Hamas ignorierten, die sie in den Wochen zuvor beobachtet hatten. Dies mit einer Selbstgefälligkeit in ihrem überlegenen Glauben, dass die Palästinenser niemals den Mut aufbringen würden, eine militärische Operation gegen Israel zu lancieren.

Was auch immer als Nächstes geschehen wird, die Operation Al-Aksa-Flut, hat die mächtige und populäre Mythologie über die Unbesiegbarkeit der israelischen Volksarmee, des Mossad, des Shin Bet, der israelischen Merkava-Panzer, des Iron Dome und den israelischen Streitkräften im Gesamten bereits unwiederbringlich zerstört.

Billige palästinensische Drohnen schlugen in mehrere Überwachungstürme mit Sensoren ein und setzten sie außer Funktion. Dies erleichterte den Vorstoß einer Kampfgruppe auf Gleitschirmen über die Grenze nach Israel. Damit wurde der Weg für Angriffstrupps geebnet, die in T-Shirts bekleidet und mit AK-47 bewaffnet waren. Diesen gelang es, die Grenzmauern zu durchbrechen und von Gaza aus nach Israel einzudringen – etwas, was zuvor nicht mal streunende Katzen gewagt hätten.

Israel antwortete umgehend mit der systematischen Bombardierung aus der Luft des Gazastreifens, diesem 365 Quadratkilometer großen Freiluftgefängnis, in dem 2,3 Millionen Menschen leben. Die wahllose Bombardierung von Flüchtlingslagern, Schulen, Wohnblöcken und Moscheen hat begonnen. Die Palästinenser haben keine Marine, keine Luftwaffe, keine Artillerie, keine gepanzerten Kampffahrzeuge und keine Berufsarmee. Sie haben kaum oder gar keinen Zugriff auf Hightech, während Israel Daten von Satelliten der NATO abrufen kann, wann immer es dies möchte. Der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant verkündete eine "vollständige Belagerung des Gazastreifens". Es werde keinen Strom, kein Essen, keinen Treibstoff geben, alles werde abgeriegelt. Man bekämpfe "menschliche Tiere" und werde entsprechend handeln.

Die Israelis können sich unbesorgt auf eine kollektive Bestrafung einlassen, denn mit drei garantierten Vetorechten im UN-Sicherheitsrat in der Tasche – jene der USA, Großbritannien und Frankreich – wissen sie, dass sie damit durchkommen. Es spielt keine Rolle, dass Haaretz, Israels angesehenste Zeitung, offen einräumt, dass "tatsächlich allein die israelische Regierung für das, was passiert, verantwortlich ist, weil sie die Rechte der Palästinenser missachtet". Die Israelis sind dabei absolut konsequent. Bereits 2007 sagte der damalige Chef des israelischen Verteidigungsgeheimdienstes Amos Yadlin: "Israel würde sich freuen, wenn die Hamas die Kontrolle über Gaza übernehmen würde, weil die israelischen Streitkräfte dann mit Gaza als feindlichem Staat umgehen könnten."

Die Ukraine liefert Waffen an die Palästinenser

Noch vor einem Jahr sprach der Komiker im verschwitzten grünen Sweatshirt in Kiew davon, die Ukraine in ein "großes Israel" zu verwandeln. Dafür erhielt er gebührenden Beifall von einer Gruppe von Sprechpuppen aus dem Umfeld der Denkfabrik Atlantic Council.

Nun, es kam ganz anders, eine Quelle alter Schule aus dem Tiefen Staat hat mich über Folgendes informiert:

"Für die Ukraine bestimmte Waffen sind in den Händen der Palästinenser gelandet. Die Frage ist, welches Land dafür aufkommt. Iran hat gerade einen Deal mit den USA über sechs Milliarden Dollar abgeschlossen, und es ist unwahrscheinlich, dass Iran diesen Deal gefährden würde. Ich habe eine Quelle, die mir den Namen des Landes gegeben hat, aber ich kann den Namen des Landes nicht preisgeben. Tatsache ist, dass ukrainische Waffen in den Gazastreifen gelangt sind und jemand dafür bezahlt hat, aber es war nicht Iran." 

Nach ihrem atemberaubenden Überfall am vergangenen Wochenende, hat sich die kluge Hamas bereits mehr Verhandlungsmacht gesichert, als die Palästinenser dies in Jahrzehnten erlangen konnten. Während Friedensgespräche von China, Russland, der Türkei, Saudi-Arabien und Ägypten unterstützt werden, lehnt Tel Aviv bezeichnenderweise diese Forderung ab. Benjamin Netanjahu ist besessen davon, Gaza dem Erdboden gleichzumachen, aber wenn das geschieht, ist ein größerer regionaler Krieg fast unvermeidlich.

Die libanesische Hisbollah – ein bedingungsloser Verbündeter der palästinensischen Achse des Widerstands – möchte lieber nicht in einen Krieg hineingezogen werden, der auf ihrer Seite der Grenze verheerende Folgen haben kann. Aber auch diese Haltung könnte sich ändern, wenn Israel de facto einen Völkermord im Gazastreifen begeht.

Die Hisbollah verfügt über mindestens 100.000 ballistische Raketen mit Reichweiten von 40 bis 300 Kilometer. In Tel Aviv weiß man, was das bedeutet, und erschaudert angesichts der häufigen Warnungen des Anführers der Hisbollah, Hassan Nasrallah, dass der nächste Krieg mit Israel innerhalb von Israel geführt werden wird.

Das bringt uns zu Iran.

"Plausible Deniability"

Die wichtigste unmittelbare Folge der Operation Al-Aksa-Flut ist, dass der feuchte Traum der Washingtoner Neokonservativen von einer "Normalisierung" zwischen Israel und der arabischen Welt einfach ausgeträumt sein wird, wenn sich daraus ein langwieriger Krieg entwickelt. Tatsächlich normalisieren große Teile der arabischen Welt bereits ihre Beziehungen zu Teheran – und das nicht nur innerhalb der neu erweiterten BRICS-11.

Im Streben nach einer multipolaren Welt, wie sie von den BRICS 11, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) und Chinas Gürtel- und Straßeninitiative (BRI) sowie anderen bahnbrechenden Institutionen des eurasischen Raums und des Globalen Südens vertreten wird, gibt es einfach keinen Platz für einen ethnozentrischen Apartheidstaat wie Israel, der die kollektive Bestrafung großer Teile der palästinensischen Zivilbevölkerung bevorzugt.

Erst dieses Jahr wurde Israel vom Gipfel der Afrikanischen Union ausgeschlossen. Eine israelische Delegation erschien trotzdem und wurde kurzerhand aus der großen Halle geworfen. Bilder, die in den sozialen Medien viral gingen. Bei den UN-Plenarsitzungen im vergangenen Monat, versuchte ein einzelner israelischer Diplomat die Rede des iranischen Präsidenten Ibrahim Raisi zu stören. Kein westlicher Verbündeter stand ihm zur Seite und auch er wurde aus dem Plenarsaal entfernt.

Wie der chinesische Präsident Xi Jinping im Dezember 2022 es formulierte, unterstützt Peking "nachdrücklich die Gründung eines unabhängigen Staates Palästina, der auf der Grundlage der Grenzen von 1967 eine volle Souveränität genießt und Ostjerusalem seine Hauptstadt nennen darf. China unterstützt Palästina, Vollmitglied der Vereinten Nationen zu werden."

Teherans Strategie ist weitaus ehrgeiziger – es bietet strategische Beratung für westasiatische Widerstandsbewegungen, von der Levante bis zum Persischen Golf: Hisbollah, Ansarallah, Hashd al-Shaabi, Kataib Hisbollah, Hamas, Palästinensischer Islamischer Dschihad und unzählige andere Gruppierungen. Es ist, als wären sie alle Teil eines neuen großen Schachbretts, das de facto vom Großmeister Iran dominiert wird.

Die Figuren auf dem Schachbrett wurden sorgfältig von niemand anderem als dem ermordeten Kommandeur der Quds-Streitkräfte des Korps der Islamischen Revolutionsgarde, General Qassem Soleimani, aufgestellt. Soleimani war ein militärisches Genie. Er war maßgeblich daran beteiligt, die Grundlagen für die kumulativen Erfolge der iranischen Verbündeten im Libanon, in Syrien, im Irak, im Jemen und in Palästina zu schaffen und die Voraussetzungen für eine komplexe Operation wie die Operation Al-Aksa-Flut zu schaffen.

Anderswo in der Region scheitert der Versuch der Atlantiker, strategische Korridore über die fünf Meere – das Kaspische Meer, das Schwarze Meer, das Rote Meer, den Persischen Golf und das östliche Mittelmeer – zu eröffnen. Russland und Iran zerschlagen mit dem Internationalen Nord-Süd-Handelskorridor (INSTC) bereits die Pläne der USA im Kaspischen Meer und im Schwarzen Meer, das auf dem Weg ist, ein russischer Binnensee zu werden. Teheran beobachtet die Strategie Moskaus in der Ukraine sehr genau, auch wenn es seine eigene Strategie verfeinert, wie man den Hegemon USA ohne direkte Beteiligung schwächen: Nennen wir es "Plausible deniability" – geopolitisch glaubhafte Bestreitbarkeit.

Tschüss Handelskorridor EU-Israel-Saudi-Indien

Das Bündnis Russland-China-Iran wird von westlichen Neokonservativen als neue "Achse des Bösen" verteufelt. Diese infantile Wut offenbart eine kosmische Ohnmacht. Russland, China und Iran sind echte souveräne Staaten, mit denen man sich nicht anlegen sollte. Und wenn doch, ist der zu zahlende Preis unvorstellbar hoch.

Ein Schlüsselbeispiel: Wenn der von einer amerikanisch-israelischen Achse angegriffene Iran beschließen würde, die Straße von Hormus zu blockieren, würde sich die globale Energiekrise dermaßen verschärfen, dass ein Zusammenbruch der westlichen Volkswirtschaften unvermeidlich wäre. Für die unmittelbare Zukunft bedeutet dies, dass der amerikanische Traum, sich über die fünf Meere hinweg einzumischen, nicht einmal als Fata Morgana abzeichnen würde. Die Operation Al-Aksa-Flut hat auch den kürzlich angekündigten und viel beschworenen Handelskorridor zwischen der EU, Israel, Saudi-Arabien und Indien zunichtegemacht.

China ist sich all dieser Aufregung, die nur eine Woche vor seinem BRI-Forum in Peking stattfindet, sehr wohl bewusst. Auf dem Spiel stehen die wichtigen BRI-Verbindungskorridore – quer durch das Kernland, quer durch Russland, sowie die maritime Seidenstraße und die arktische Seidenstraße. Dann gibt es noch den INSTC, der Russland, Iran und Indien verbindet – und nebenbei auch die Golfmonarchien mit anschließt.

Die geopolitischen Auswirkungen der Operation Al-Aksa-Flut werden die geoökonomischen und logistischen Verbindungen zwischen Russland, China und Iran beschleunigen und den Hegemon USA und sein Imperium an militärischen Stützpunkten umgehen. Bei zunehmendem Handel und ununterbrochenem Güterverkehr geht es vor allem um gute Geschäfte auf Augenhöhe, mit gegenseitigem Respekt – und nicht um das Szenario eines destabilisierten Westasiens der Kriegstreiber.

Erstaunlich, was eine langsam fliegende Gleitschirm-Infanterie, die eine Grenzmauer überfliegt, alles bewirken kann.

Dieser Meinungsbeitrag erschien zuerst in englischer Sprache auf The Cradle.

Pepe Escobar ist ein unabhängiger geopolitischer Analyst und Autor. Sein neuestes Buch heißt "Raging Twenties" (Die wütenden Zwanziger). Man kann ihm auf Telegram und auf X folgen.

Mehr zum Thema - Pepe Escobar: "Die totale Demütigung der NATO steht unmittelbar bevor"