Von Andrei Medwedew
Großbritanniens Politik machen nicht Halbbekloppte wie Boris Johnson oder Karrieristen wie Grant Shapps aus. Wer über den Einsatz solcher Figuren auf vermeintlich wichtigen Posten lacht oder aber von den Kaderumstellungen in der britischen Regierung ausgehend Prognosen zur britischen Politik aufstellen will, verliert aus den Augen: Die echte britische Politik, im Inneren wie im Ausland, wird von alten Familien kontrolliert, darunter die Königsfamilie und das "Old Money", der alteingesessene Geldadel. Oder die Bank HSBC.
Diese Clans, Strukturen, Banken und Familien waren einst in die Aktivitäten der Ost India Company und anderer kolonialer Institute eingebunden.
Beispielhaft für echte britische Realpolitik ist die Biographie des James Le Mesurier – jenes Typen, der erst in Syrien die Weißhelme erschuf und, als die Syrien-Krise etwas abgeebbt war, aus dem Fenster oder vom Balkon fiel. Aus der Höhe von geballten sieben Metern, wie es hieß. Und zwar nicht nur tödlich, sondern so, dass er sich so gut wie alle Knochen brach. Sie erinnern sich doch, oder?
Also, Le Mesurier ist ein Vertreter gerade so eines Clans – in diesem Fall eines militärischen. Ungefähr stets dieselben geheimdienstlichen Aufgaben nahm er nahezu 20 Jahre lang wahr. Die letzten Jahre vor seinem Tod (seiner Liquidierung? Ermordung? seinem Selbstmord?) lebte er in Istanbul, ebenso wie die Meister der britischen Geheimdienste Ármin Vámbéry oder David Urquhart. Ein musterhafter Offizier eines kolonialen Geheimdienstes.
Überlegen Sie einmal: Wer stellte ihm denn die Aufgaben? Die Minister wechselten, die Regierungen wechselten, die Geheimdienstleiter wechselten. Nur die Ziele Großbritanniens – sie blieben unverändert bestehen.
"Old British Money" sieht zum Beispiel keinen grundlegenden Unterschied zwischen den reichen arabischen Monarchien und den reichen Partnern in Washington: Erstere sieht man als Beduinen an, die ihren Platz vergessen haben, nachdem bei ihnen Erdöl gefunden wurde; die zweiten als ebenso dummdreiste Kolonisten, oft ehemalige Verbrecher und religiöse Extremisten, die zu viel von sich selbst halten. Die hohe Gesellschaft Großbritanniens ist mit einem imperialen Selbstbewusstsein durchtränkt – und das nicht erst seit der Disraeli-Ära. Es hat sich nichts daran geändert, welche Mantras über Demokratie und Gleichheit öffentlich angestimmt werden.
Nun war das britische Imperium, nominal einer der Sieger im Zweiten Weltkrieg, de facto ein Verlierer im Ergebnis der nachfolgenden Neugestaltung der Weltordnung. Großbritannien als Kolonialreich gab der Krieg schlicht den Rest. Doch heute versuchen die britischen Eliten – derlei Ansichten gibt es –, sich den verlorenen Einfluss mithilfe anderer Instrumente zurückzuholen.
Von Suez über Shanghai bis Tokio: In allen ehemaligen Kolonien ist die wichtigste Bank die HSBC – ein Vermächtnis der Ost India Company und der Opium-Kriege.
G4S, ein britischer privater Militärdienstleister, ist dreimal so zahlreich aufgestellt wie die britische Armee.
Die Eliten der ehemaligen Kolonien verwahren ihr Geld in London und schicken ihre Kinder zum Lernen und Studieren eben dorthin.
Ganz Südasien lernt bis heute verpflichtend Englisch und spielt Cricket.
Und wer druckt bis heute den Hongkong-Dollar? Drei Banken. Darunter – wer hätte es auch gedacht – wieder die HSBC.
Auch die Unterstützung, die London an Kiew leistet, spiegelt die Positionen der britischen Eliten wider, die ihre glückliche Zukunft strategisch planen. Ebendarum mischten die Briten bei der Destabilisierung Syriens in den vordersten Reihen mit. Schon wieder wird an Transkaukasien gezündelt – zwar vermittels türkischer Eliten, dafür aber mit demselben Ziel.
Und der Grund ist nicht bei Russland als solchem oder bei Iran zu suchen.
Damit Großbritannien stärker wird, muss jede Art Überland-Transitweg ausgemerzt werden. Denn es sind die Seewege, die die Briten traditionell unter ihrer Kontrolle halten: früher mit kanonenbewehrten Fregatten, heute mittels Schiffsversicherungsgesellschaften und der Kontrolle über die großen Häfen.
Wichtig zu verstehen ist Folgendes: Wer Premier ist, spielt keine Rolle; unwichtig ist auch die Person des Verteidigungsministers. Nicht sie entscheiden darüber, ob London weitere Waffen an Kiew liefert oder ob britische Offiziere die neuen – diesmal ukrainischen – Sipahees ausbilden werden. Umstellungen jeglicher Art in der britischen Regierung haben keinen Einfluss auf die Politik. Voraussagen kann man auf ihrer Grundlage nicht machen.
Schon eher werden Umstellungen dadurch widergespiegelt, ob der aktuelle Kurs Korrekturen erfährt oder nicht: Wird zum Beispiel ein tollwütiger Russophober durch einen lediglich Moderaten ersetzt, dann ist das wirklich ein Signal – für eine allerdings eher leichte Vektoränderung. Und auch diese ist nur als provisorisch zu verstehen. Denn neben dem Augenmerk auf Transitwege hat die Denkweise der britischen Eliten eine weitere Konstante: Russland ist für sie ein Feind auf Ewigkeit. Kein Konkurrent, kein bloßer Gegner – ein Feind.
Übersetzt aus dem Russischen.
Andrei Medwedew ist ein russischer Fernsehjournalist mit nahezu 30 Jahren Erfahrung. Er arbeitete als Kriegsberichterstatter der Sendung "Westi" in Tschetschenien, in Serbien (darunter im Kosovo), Nordmazedonien, Palästina, Afghanistan, Pakistan, Südossetien und im Irak. Er ist stellvertretender Leiter der Direktion für Informationsprogramme des Konzerns WGTRK.
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