Von Tom J. Wellbrock
Die Vorlage kam von Alice Weidel, AfD. Im ARD-Sommerinterview sagte sie, dass sie Wagenknecht zwar schätze und ihr alles Gute wünsche, keine Partei aber nur mit Häuptlingen funktioniere, es brauche auch die Indianer. Abgesehen vom politisch unkorrekten und damit gelungenen Wortspiel kann man Weidel sicher in diesem Punkt zustimmen, auch wenn noch nicht bekannt ist, wie viele Indianer es am Ende sein werden, die mit Sahra der Abendsonne entgegenreiten.
Aber die eigentliche Bombe war eine andere Aussage Weidels. Eine Wagenknecht-Partei würde womöglich Wähler von der AfD abziehen und daher die Opposition schwächen. Damit werde Wagenknecht zur "Erfüllungsgehilfin" der Ampel. Ein geschickter Schachzug, ohne Frage. Aber eben auch nur das: ein Schachzug.
Rücksicht für die AfD?
Was Weidel macht, ist nicht weniger als die Deutungshoheit der Opposition für sich in Anspruch zu nehmen. Das ist insofern richtig, als von der AfD abgesehen keine Partei eine wirkliche Opposition darstellt. Genaugenommen wäre da ja ohnehin nur "die LINKE", die sich jedoch jeden Tag einen neuen Finger abhakt und sich mit dem kümmerlichen Rest selbst ins Auge sticht. Opposition? Mit der LINKEN einfach nicht möglich, die woke Cancel-Culture-Partei kann froh sein, wenn sie bei der nächsten Wahl nicht unter "Andere" aufgeführt wird.
Nun kann man Politik aber nicht nur als strategische Veranstaltung sehen. Strategisch wäre es wohl klug, der AfD keine Wähler abzugreifen, was dann eine wirksame Oppositionsarbeit von Weidel & Co. erschweren würde. Aber erstens kann man die Frage stellen, was genau denn "wirksame Oppositionsarbeit" ist und ob die AfD diese leisten kann. Immerhin wird sie bei so ziemlich jedem Versuch, Politik zu gestalten, durch die Altparteien vors Schienbein getreten.
Und zweitens ist es absurd, den Plan einer neuen Parteigründung als den einer Erfüllungsgehilfin abzutun. Das wäre höchstens der Fall, wenn Wagenknecht und die AfD politisch übereinstimmen würden. Doch davon sind sie weit entfernt.
Opposition der Opposition
Politik und Medien – und letztlich auch die AfD selbst – weisen immer wieder auf Gemeinsamkeiten hin, die es ja auch gibt. In der Corona-Episode waren es Wagenknecht und die AfD, die ähnlich argumentierten und sich positionierten. Auch beim Ukraine-Krieg sieht man Übereinstimmungen. Es ist aber der deutschen Oberflächlichkeit geschuldet, damit eine grundlegend gemeinsame Linie von AfD und Wagenknecht zu sehen.
Die AfD ist eine durch und durch neoliberale Partei, sie lässt es auch immer wieder mal anklingen. Im Parteiprogramm wird das nett versteckt, und zwar durch inhaltsleere Floskeln, die dem Bürger gefallen sollen. Einige der Forderungen wirken tatsächlich ansprechend, doch am Kern der neoliberalen Politik ändert das nichts (der Autor dieses Textes war auf AfD-Veranstaltungen, die den Kurs hinter wohlklingenden Imageaussagen bestätigen). Eine geradezu unmögliche Unternehmung ist die Beschäftigung mit dem Rentenkonzept der AfD. Das mag daran liegen, dass sie noch immer keines hat (man möge es im Wahlprogramm suchen, viel Glück!). Man reduziert sich auf Forderungen nach Einzahlungen von Politikern in die gesetzliche Rentenversicherung (GKV) und die Stärkung der GKV an sich. Mehr als eine Spur heißer Luft ist das aber nicht.
In Anbetracht des neoliberalen Charakters der AfD ist die zwischen den Zeilen ausgesprochene Erwartungshaltung Weidels, Wagenknecht solle das mit der Partei mal lieber lassen, will sie nicht als Steigbügelhalterin bzw. Erfüllungsgehilfin für die Ampel tätig werden, schon über die Grenze der Unverschämtheit hinausgehend.
Passend zu ihren Äußerungen bezüglich der Wagenknecht-Partei hat Alice Weidel im selben Interview jedoch einen weiteren Punkt angesprochen, der die gravierenden Unterschiede zwischen der AfD und der politischen Überzeugung einer Sahra Wagenknecht deutlich macht. Aus persönlichen Gründen würde sie – anders als ihr Parteifreund Tino Chrupalla – nicht der Einladung in die russische Botschaft zum "Tag der Befreiung" folgen, da sie der Meinung ist, diesen Tag der deutschen Kapitulation Hitler-Deutschlands nicht als "die Niederlage des eigenen Landes befeiern" zu wollen. Dass der ARD-Journalist darauf nicht näher einging, geschenkt. Schließlich wird alles, was irgendwie gegen Russland geht, sogar in den deutschen ARD-Redaktionsräumen "befeiert", wenn es von der AfD kommt.
Es hat in der damaligen Zeit wohl kaum eine Niederlage gegeben, die wichtiger gewesen wäre als die, die Weidel nicht so recht feiern möchte.
"Bringt eh alles nix!"
Im Netz gibt es natürlich noch die Fraktion "Bringt eh alles nix". Die ist der Meinung, dass eine weitere Partei auch nichts mehr bringe, zudem sei sie wahrscheinlich ohnehin staatlich unterwandert, und eine Konkurrenz zur AfD sei ohnehin eine schlechte Idee, Stichwort: Spaltung der Opposition.
Was auch immer diese Fraktion sich vorstellt, man kann es getrost unter "Ferner liefen" abhaken. Die einen dieser Gruppe werden AfD-Anhänger sein, die anderen Wagenknecht-Hasser, und dazwischen sind dann noch die frustrierten Parteimitglieder der "LINKEN" und die, die auf Nichtwähler schimpfen, weil sie dadurch der falschen Seite ihre Stimme gäben.
Man kann den Autor dieses Textes übrigens ebenfalls der Bringt-nix-Fraktion zuordnen, hat er doch schon vor einer ganzen Weile das Wählen eingestellt. Das hängt damit zusammen, dass ich das prinzipielle System dieser nur noch auf dem Papier existierenden Demokratie so sehr infrage stelle, dass mein Wahlkreuz diese Scheindemokratie bejahen würde. Dennoch sehe ich die Parteigründung Wagenknechts positiv, und sie lässt mich hoffen, dass das durch und durch unehrliche und weitgehend interessengeleitete und darüber hinaus korrumpierende bis korrupte System vielleicht doch noch eine Chance auf Heilung hat.
Ich möchte erläutern, warum ich das so sehe.
Spinnefeind und doch wirksam?
Ich denke nicht, dass es zwischen der Wagenknecht-Partei und der AfD viele Gemeinsamkeiten geben wird, auch wenn Überschneidungen immer wieder erkennbar waren und womöglich auch künftig sein werden. Das ist unproblematisch, denn anders als die "Brandmauer-Fetischisten" denke ich, dass es sehr wohl vernünftig ist, Dinge durchzusetzen, wenn man inhaltlich übereinstimmt. Es ist das inzwischen totalitäre Denken, das sich in die Gesellschaft gepflanzt hat, das dazu führt, mit bestimmten Leuten oder Parteien keine "gemeinsame Sache" zu machen. Die naheliegende Frage muss lauten: Was soll der Unsinn? Wenn zwei Parteien, die sich grundsätzlich uneinig sind, gemeinsam für einen neuen Kinderspielplatz stimmen, was um alles in der Welt soll dagegensprechen?
Entscheidender ist die Gesamtwirkung zweier Parteien wie der AfD und der von Wagenknecht. Selbst wenn es in absehbarer Zeit zu keiner Koalition von Wagenknecht-Partei und AfD kommen sollte (ohnehin ein Lied, das noch lange nicht gesungen werden kann, wenn es überhaupt jemals anklingen wird), ist das Oppositionspotenzial nicht ohne. Unabhängig von Umfragen, die nur ein sehr vages Bild ergeben, weil die Wähler sich dann doch oft umentscheiden, wenn es "ernst" wird, wäre es wohl nicht unrealistisch, beide Parteien zusammen irgendwo zwischen 20 und 30 Prozent (vielleicht sogar etwas mehr, nach jetzigem Stand) anzusiedeln. Das ist ein echtes Pfund!
Das Problem mit der AfD als alleinige Opposition ist doch das dieser absurden "Brandmauer". Sie verhindert jede Art politischer Arbeit und erlaubt den anderen Parteien, sich mit keinem einzigen Antrag oder Argument der AfD auseinanderzusetzen. Fraglos gibt es Forderungen der AfD, die abzulehnen sind. Aber eben nicht alle, das sehen lediglich die Parteien so, die für die desaströse Politik verantwortlich sind und sich mit dem Feindbild AfD einen schlanken Fuß machen wollen.
Sicher, eine Wagenknecht-Partei würde Stimmen der AfD abgreifen, auch Stimmen anderer Parteien. Na und? Wo steht geschrieben, dass die Stimmen der AfD in Stein gemeißelt sind? Heißt es denn nicht immer, Wettbewerb sei eine gute Sache?
Auf dem Gebiet der Sozialpolitik ist eine weitere Partei neben der AfD dringend nötig, und vermutlich wird es hier auch vonseiten der AfD wenig Aufmunterung für Wagenknecht geben. Und wenn doch, umso besser. Sahra Wagenknecht könnte letztlich sogar dafür sorgen, bei der AfD eine klare Positionierung für oder gegen eine sozial gerechte Politik zu erzwingen.
Das große Fressen
Schon Anfang März 2023 habe ich in einem Artikel ein mögliches Medienszenario entwickelt, das es im Falle einer Parteigründung durch Sahra Wagenknecht geben könnte. Ich vermute nach wie vor, dass es so oder so ähnlich kommen könnte, sprich: Der Mainstream wird mit allem, was sich ihm bietet, auf Wagenknecht losgehen und dabei weder Stilfragen beachten noch Lügen und Anfeindungen scheuen. Warten wir es ab …
Die Parteigründung könnte aber definitiv die politische Landschaft verändern, denn das große Thema Wagenknechts lautet Sozialpolitik. In den letzten Jahren wurde sie nicht müde, immer wieder auf diesen Komplex hinzuweisen, und das auch bei Themen, von denen ihre Widersacher glaubten, Wagenknecht könne es nicht in einen gemeinsamen Zusammenhang bringen. Doch sie konnte. Und sie tat es. Und damit trifft sie einen empfindlichen Nerv.
Denn wenn wir uns das politische und gesellschaftliche Leben in Deutschland ansehen, kann man hier Details bestaunen und dort Einzelheiten bewundern, über all diesen zahlreichen Debatten schwebt aber die soziale Frage. Corona? In erster Linie eine Krise mit massiven sozialen Auswirkungen. Klima? Hauptsächlich ein Problem mit enormer sozialer Sprengkraft. Der Ukraine-Krieg? Ebenfalls nicht nur ein militärisches, sondern damit verbunden für die Menschen ein sozial brisantes Thema. Man könnte die Liste fortsetzen, immer wieder geht es um soziale Ungerechtigkeit, immer wenn kein Geld, wofür auch immer da ist, wird zuerst im sozialen Bereich gespart.
Politik, Medien, Wissenschaft und eben auch die AfD umschiffen bzw. ignorieren dieses Thema, im Falle der AfD wird ausnahmslos über die Migranten argumentiert, was zwar nicht gänzlich falsch, aber doch nur ein Kratzen an der Oberfläche neoliberaler Grausamkeiten ist.
Meiner Meinung nach sind es die sozialen Themen, die in Deutschland den größten Schaden anrichten, die zu Armut führen, aber auch zu Lethargie, Depression, Hoffnungslosigkeit und einer sinkenden Lebenserwartung.
Wenn Sahra Wagenknecht es mit einer neuen Partei schafft, für dieses unfassbar gravierende und zerstörerische Problem ein gesellschaftliches und politisches Bewusstsein zu schaffen, hat ihre Partei nicht nur eine Chance verdient. Sie ist zwingend und ohne Wenn und Aber notwendig, ja: unverzichtbar.
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Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.