Von Wladislaw Sankin
Der verheerende Raketenschlag mitten in die Menschenmenge auf einem Markt im ukrainisch kontrollierten Teil der Donezker Volksrepublik hat sich am Mittwoch exakt um 14:04 Uhr ereignet. Nur 35 Minuten später veröffentlichte der Präsident der Ukraine, Wladimir Selenskij, auf seinem Telegram-Kanal ein Video, das die Wucht des Angriffs der empörten Weltöffentlichkeit vor Augen führen sollte. Mit einem Kommentar in englischer Sprache. Diesen lohnt es sich, trotz der drastischen Wortwahl in voller Länge wiederzugeben:
"Wenn jemand in der Welt immer noch versucht, sich mit irgendetwas Russischem zu befassen, bedeutet das, die Augen vor dieser Realität zu verschließen. Die Frechheit des Bösen. Die Dreistigkeit der Niedertracht. Absolute Unmenschen.
In diesem Moment hat der Angriff russischer Terroristen 16 Menschen in der Stadt Konstantinowka in der Region Donezk getötet. Ein normaler Markt. Geschäfte. Eine Apotheke. Menschen, die nichts verbrochen haben. Viele Verwundete. Leider kann die Zahl der Toten und Verletzten noch steigen.
Mein Beileid an alle, die Angehörige verloren haben!
Dieses russische Übel muss so schnell wie möglich besiegt werden."
Russland als Hort der Unmenschlichkeit und des absoluten Übels – wie oft hat Selenskij schon diese Propaganda-Formel wiederholt? Unzählige Male. Und wie auch schon so oft in der Vergangenheit, haben die deutschen Medien den Vorwurf fast vollständig wiederholt – ohne nur eine Minute an seinem Wahrheitsgehalt zu zweifeln.
Es schien sogar so, dass sich Selenskijs Meldung gut in die gewünschte Agenda einfügen ließ. So nutzte die ARD-Redaktion die Nachricht, um zu unterstreichen, wie wichtig es sei, der Ukraine die deutschen Taurus-Langstreckenraketen zu liefern – "um die russische Armee ins Landesinnere zu verjagen". Auch US-Außenminister Antony Blinken wurde gezeigt, der "überraschend" in diesen Stunden in Kiew zu Besuch weilte. Er sichere der Ukraine weitere Unterstützung zu – "auch nach dem Angriffskrieg". Die Meldung schaffte es auch in die ARD-Tagesthemen, wobei sich der Moderator beklagte, dass man sich an die Nachrichten über den Krieg gewöhnt habe – aber an Tagen wie heute "können wir nicht vorbeischauen".
Zu welchem Zweck aber sollte die russische Armee einen Markt voller Zivilisten angreifen, wenn wir die These Selenskijs, Russland handele aus reiner Mordlust, als propagandistischen Müll beiseite räumen? Das ist völlig unbegreiflich. Denn aus russischer Sicht würde Russland friedliche Menschen am helllichten Tag auf seinem eigenen Territorium angreifen, schließlich ist Konstantinowka gemäß der russischen Verfassung Teil der Donezker Volksrepublik.
In seiner Hast hat Selenskij nicht gemerkt, dass ausgerechnet sein Video Hinweise für die Hypothese liefert, die seinen Vorwurf im Handumdrehen ins Gegenteil umkehren könnte.
Diese Hinweise waren so offensichtlich, dass sogar Bild-Propagandist Julian Röpcke in einem inzwischen schon berühmten Tweet der Version seiner eigenen Redaktion widersprochen hat – RT DE berichtete. Nun mehren sich auch im pro-ukrainischen Lager die Zweifel, sodass sogar die in Washington ansässige Journalistengruppe Conflict Intelligence Team (kurz CIT) zur Überzeugung gekommen ist, dass der Angriff vom ukrainisch kontrollierten Territorium stammte.
CIT wird unter den russischen Exil-Oppositionellen, die fest an der Seite der Ukraine stehen, als seriöser Faktenchecker gefeiert. Die Behauptung dessen Chefs Ruslan Meschujew, dass die Ukraine hinter dem Angriff stecken könnte, löste in deren X-Blase heftige Debatten aus. Die Annahme, dass die Ukraine Zivilisten in den eigenen Städten beschießt, um die Angriffe den Russen in die Schuhe zu schieben, gilt als russische Propagandalüge, die natürlich, ach ja, völlig unbegründet sei. Laut einem Bericht der New York Times gibt es aber ausgerechnet in Konstantinowka Menschen, die an "so etwas" glauben.
In Russland hingegen sind ukrainische Angriffe auf Zivilisten ein juristisches Faktum. Viele in Mariupol und anderen Städten gefangengenommene Kämpfer haben inzwischen gestanden, dass sie auf Einwohner schossen, um deren Flucht aus den umkämpften Orten zu verhindern. Ihre Verbrechen werden rekonstruiert, und die Schuldigen bekommen nach und nach langjährige Strafen. Mit der Zahl der Verfahren mehren sich auch die Hinweise, dass diese Soldaten nur die Befehle von oben ausgeführt haben.
Diese weisen auf die zynische Politik Kiews hin, die Zivilisten lediglich als lebende Schutzschilde für die eigene Armee betrachtet. Mit dem doppelten Nutzen, die Opfer und Leiden für die Dämonisierung des Gegners ausschlachten zu können.
Dabei scheut Kiew auch vor False-Flag-Methoden nicht zurück. Spätestens seit dem Maidan-Massaker im Frühjahr 2014 gehören sie zum erprobten Arsenal der ukrainischen Nationalisten. Der Angriff mit einer Totschka-U-Rakete auf den Bahnhof in Kramatorsk am 8. April 2022, der 61 Menschen tötete, oder die Sprengung des Mariupoler Theaters sind nur einige Beispiele dafür. Von den Beweisen, die die ukrainische Schuld nahelegen, kaum beeindruckt, argumentieren viele im Westen bis heute noch mit Kramatorsk und Mariupol.
Nun ist Konstantinowka dran. Die zufällige Anwesenheit des Fotoreporters Jewgeni Maloletka hat sich dabei als böses Omen für die Einwohner erwiesen. Er war es, der die weltberühmten Bilder der "Schwangeren von Mariupol" gemacht hat. Auch diesmal war er plötzlich in der Nähe und lieferte für Associated Press schaurige Fotos von verkohlten und zerfetzten Leichen, die auf dem zerstörten Markt von Konstantinowka von den ukrainischen Soldaten geborgen werden. Diese Zurschaustellung hat einen Grund: Die Gräuel müssen ganz nah zum Anfassen sein – vorausgesetzt, die westliche Weltgemeinschaft ist der Überzeugung, dass Russland der Urheber ist.
Wenn aber klar erwiesen wird, dass am Donnerstag nicht Russland die tödliche Rakete abfeuerte, sondern die Ukraine (diese Zeiten werden sicherlich kommen), um ihre westlichen Partner aufs Neue mit der angeblichen russischen Grausamkeit zu beeindrucken, dann hat sich Selenskij selbst der "dreisten Niedertracht" und der "absoluten Unmenschlichkeit" bezichtigt. Und obendrein – der Lüge, deren Zynismus mit unserer Sprache nicht zu erfassen ist.
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