Von Rüdiger Rauls
Die Ergebnisse des BRICS-Gipfels von Johannesburg sind weitreichend. Sie widersprachen in nahezu allen Bereichen den Spekulationen der westlichen Medien im Vorfeld des Treffens. Der Tod Jewgeni Prigoschins bot ihnen eine willkommene Gelegenheit, über diese Fehleinschätzungen hinwegzugehen. Auf Dauer aber helfen Wunschdenken und das Ignorieren der Wirklichkeit nicht weiter bei den Auseinandersetzungen, vor denen der politische Westen steht.
Anders als gedacht
Die Häufung von Fehleinschätzungen des westlichen Führungspersonals ist nicht zu übersehen. Immer öfter bringt die Wirklichkeit andere Ergebnisse hervor, als es nach Einschätzung der Propheten aus Medien und Politik hätte sein müssen. Die westlichen Geheimdienste waren vom Fall der Mauer ebenso überrascht wie vom schnellen Fall Kabuls. Der Krieg gegen den Terror hatte ebenso wenig die erwarteten Ergebnisse gebracht wie der provozierte Krieg in der Ukraine. Nicht die russische Wirtschaft zerbricht unter den Sanktionen, vielmehr schwächelt die westliche. Nicht Russland ist isoliert, sondern dem Westen gehen immer mehr alte Freunde von der Fahne.
Alles kam anders, als Experten wissenschaftlich berechnet und Geheimdienste analysiert hatten. Alles kam anders, als Medien und Politiker den Bürgern im Westen in Aussicht gestellt hatten. Die Welt hätte jedes Mal eine bessere werden sollen gemäß den optimistischen Weissagungen all dieser unerschütterlich Überzeugten und gemäß den wissenschaftlichen Theorien all jener von Berufs wegen Zuversichtlichen. Und wie sieht sie heute aus nach all diesen politischen Geisterfahrten?
Die nächsten riskanten Reisen ins Ungewisse sind schon gebucht: Der Krieg mit Russland ist noch im vollen Gange, da wird schon der nächste Waffengang in der westlichen Öffentlichkeit als unausweichlich dargestellt – dieses Mal gegen China. In der Sahelzone scheint sich das nächste Gewitter zusammenzubrauen. Dort bilden sich Bündnisse, die sich von nationalen Konflikten zu regionalen ausweiten können. Überall hat der politische Westen als Brandbeschleuniger die Finger im Spiel, nicht als Friedensstifter.
Verblendet und rechthaberisch offenbart das westliche Führungspersonal seine Unfähigkeit, die Veränderungen auf der Welt anzunehmen. Man hatte sich im Laufe der Jahrzehnte daran gewöhnt, dass der Rest der Welt nach der eigenen Pfeife tanzte. Man hatte das Kapital, den technologischen Vorsprung sowie die wirtschaftliche und militärische Macht, um den eigenen Interessen Geltung zu verschaffen. Man glaubte, dass das auf alle Zeiten so bleiben werde. Aber diese Zeiten sind vorbei. Dem politischen Westen fehlt die Fähigkeit, mit der veränderten Wirklichkeit zurechtzukommen.
Nirgendwo wurde das deutlicher als bei der Einschätzung der Erfolgsaussichten der Ukraine im derzeitigen Krieg und den veränderten Kräfteverhältnissen zwischen Russland und der NATO. Ein weiteres Beispiel westlicher Verblendung ist die Berichterstattung über den Gipfel der BRICS-Gemeinschaft in Johannesburg. Keine der Voraussagen, die in den westlichen Medien im Vorfeld breitgetreten worden waren, passte zu den Ergebnissen am Ende des Gipfels.
Anders als in Wirklichkeit
Mit dem wirtschaftlichen Erstarken Chinas und besonders mit dem militärischen Erstarken Russlands hat sich der Blick des politischen Westens auf die BRICS-Staaten geändert. Beide werden als Kern einer neuen gegen ihn gerichteten Blockbildung angesehen, um den herum sich immer mehr Staaten anlagern. Diese Sichtweise wird aus Äußerungen von Politikern des NATO-Lagers deutlich und bestimmt die Berichterstattung seiner Medien über die BRICS im Allgemeinen und den Gipfel von Johannesburg im Besonderen.
"Wer nicht für uns ist, ist automatisch gegen uns", ist die kindische Einstellung hinter diesem westlichen Blockdenken. An dieser Sicht prallen alle gegenteiligen Erklärungen von Vertretern der BRICS-Staaten ab. Weil Russland und China ihre eigenen Interessen verfolgen und sich nicht westlichen Vorgaben unterwerfen, kann deren Politik nichts anderes als antiwestlich sein – so das Denken der Blocktheoretiker.
Dass es der Westen selbst ist, der sich immer mehr gegen China und Russland aufstellt, wird nicht gesehen. Er sieht sich vielmehr zu dieser Politik gezwungen, weil die beiden sich nicht an die Regeln der sogenannten regelbasierten Ordnung halten. Diese glaubt der politische Westen der gesamten Welt auferlegen zu dürfen, ohne die Welt gefragt zu haben. Zum Gegenpol werden Russland und China erst infolge der Ausgrenzung durch den Westen.
Da können sie noch so oft klarstellen, dass sie nicht antiwestlich eingestellt sind, vielmehr sogar Zusammenarbeit wünschen, wohl aber unter Berücksichtigung der eigenen Interessen. Das geht in die Köpfe der westlichen Meinungsmacher nicht hinein. Das übersteigt ihren Horizont, ist mit ihren einfachen Denkmustern nicht zu erfassen. In nahezu jedem Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) über die Konferenz in Südafrika wird diese Sicht eines antiwestlichen Blocks bedient und dadurch verfestigt. Damit ist sie nicht allein unter den westlichen Medien.
Andererseits aber werden immer wieder in der Berichterstattung Hinweise gesucht auf Differenzen zwischen den Teilnehmern. Es scheint, als wollte die westliche Presse die Geschlossenheit des Blocks selbst widerlegen, der in seiner antiwestlichen Ausrichtung ja eigentlich nur dadurch besteht, dass er in ihren Köpfen zusammengefügt wurde.
In diesem Sinne wird dann auch eine Sollbruchstelle zwischen Russland und China auf der einen Seite und den restliche drei auf der anderen herbeigeredet, denn "drei der fünf BRICS-Staaten teilen Xis antiwestlichen Furor nicht". Als weiterer Beleg für die Zerbrechlichkeit des Staatenverbunds glaubt man feststellen zu können: "Außer Peking und Moskau will jedoch kein BRICS-Staat auf gute Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union verzichten." Wird da versucht, eine Wirklichkeit zu widerlegen, deren Trugbild man sich selbst geschaffen hat?
Selbst protokollarische Belanglosigkeiten werden als Hinweise für größere Unstimmigkeiten unter den Teilnehmern gedeutet. So wird es als Anzeichen für Spannungen zwischen China und Indien gesehen, wenn der indische Präsident seine Maschine noch nicht verlassen will, weil er genauso wie der chinesische von einem hochrangigen Mitglied der südafrikanischen Regierung begrüßt werden will. Es entsteht der Eindruck, dass die westlichen Meinungsmacher mit allen Mitteln ein Scheitern des Gipfels herbeischreiben wollen, so wie sie auch seit etwa anderthalb Jahren glauben, Russlands Armee mit dem Sand zu besiegen, den sie dem westlichen Medienkonsumenten in die Augen streuen.
Am Ende kam es anders
Aber alle Kaffeesatzleserei und Erbsenzählerei der westlichen Meinungsmacher erwiesen sich am Ende als Hirngespinste, Ausgeburten der eigenen verwirrten Gedankengänge und einer Weltsicht, die der Welt nicht entspricht. Die herbeigeredeten Unstimmigkeiten zwischen China und Indien führten nicht zum Scheitern des Gipfels. Anscheinend hatten viele im politischen Westen gehofft, dass es nicht zu einer Aufnahme weiterer Staaten kommen würde und ein weiterer Machtzuwachs des Staatenverbundes verhindert werden könnte.
In der Theorie hätte es gar nicht zur Erweiterung des Staatenverbundes kommen dürften, weil nach Meinung westlicher Kaffeesatzleser Indien im Gegensatz zu China keinen schnellen Aufnahmeprozess wolle. Man hielt es für "fraglich, ob die von Xi schon seit mehreren Jahren vorangetriebene Erweiterung der BRICS um weitere Mitgliedsstaaten in seinem Sinne ausgerechnet auf dem Gipfel in Johannesburg gelingt, [und] auch Analysten in Südafrika halten einen langsamen Aufnahmeprozess für wahrscheinlich".
Dann ist es natürlich klar, dass es mit der Erweiterung nichts werden kann, wenn in der Fachwelt Einigkeit herrscht. Nur stellt sich die Frage, auf welchen Grundlagen diese Einschätzungen beruhten. Für die westliche Expertenriege war die Sache klar und einfach: "Insbesondere Indiens Ministerpräsident Narendra Modi nähert sich immer stärker den USA an und würde schon allein wegen des eigenen Grenzkonflikts mit China kaum Xi Jinping folgen."
Die politische Welt scheint für die Beobachter aus dem Westen nur in kleinkarierten Rivalitäten und persönlichen Rangeleien zu bestehen. Es scheint im westlichen Denken nicht mehr die Möglichkeit vorzukommen, dass man sich in strittigen Fragen auch gütlich einigen kann. Wer gewohnt ist, alles mit Druck, Gewalt und Hinterlist zu regeln, dem kommen vernünftige Lösungen im Interesse aller Beteiligten und unter Wahrung aller Interessen nicht mehr in den Sinn.
Trotz aller ungünstiger Voraussagen aus der Gerüchteküche der westlichen Welt haben die BRICS-Staaten sich einstimmig auf die Aufnahme neuer Mitglieder einigen können. Das gelang ihnen innerhalb weniger Tage, sozusagen an einem verlängerten Wochenende. Das geht, wenn die Vernunft regiert. Auch die Unstimmigkeiten zwischen China und Indien, wo es immerhin entlang der gemeinsamen Grenze um Krieg oder Frieden geht und nicht um ein verkorkstes Gebäude-Energie-Gesetz, konnten in dieser Frage zurückgestellt werden.
Statt des großen Bruchs zwischen Indien und China kam es zu einer neuen Annäherung. Auch das ist möglich, wenn die Vernunft regiert und die gegenseitigen Interessen geachtet werden. Man verständigte sich auf "einen weiteren Abbau der Spannungen". Beide Seiten einigten sich darauf, "die Bemühungen um einen raschen Rückzug der Truppen und eine Deeskalation zu verstärken".
All das war in den Sichtweisen und Erwartungen der westliche Meinungsmacher nicht vorgesehen. Aber Johannesburg zeigt, dass solche Erfolge möglich sind, wenn der gute Wille auf allen Seiten vorhanden ist.
Eine andere Welt bricht an
Die Welt, in der der Westen zu leben glaubt, ist eine andere als jene, die sich täglich um die Sonne dreht. Man ist hilflos, denn man weiß nicht, was man gegen den Wandel unternehmen kann. Man versucht es weiterhin mit den alten Mitteln militärischer Bedrohung schwächerer Gegner und den neueren der Wirtschaftssanktionen gegen stärkere. Das hat schon in der Vergangenheit wenig Erfolg gehabt gemessen am angerichteten Schaden. Die neuen Gegner aber sind stärker. Gegen die militärische Stärke Russlands ist im politischen Westen kein Kraut gewachsen.
Chinas wirtschaftliche und vor allem seine finanzielle Stärke ermöglichen sein Vordringen auf allen Kontinenten und eine gesellschaftliche Entwicklung, die der Westen in all den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg nicht hatte auf die Beine stellen können. Er hat seine unangefochtene Führungsrolle verloren. Die bisher noch unterentwickelten Länder sind nicht mehr auf Gedeih und Verderb auf ihn angewiesen.
Mit Russland und China sind Alternativen entstanden, die über das nötige Kapital und auch technologische Qualitäten verfügen, die dem politischen Westen in nichts mehr nachstehen. Alte Freunde gehen dem Westen von der Fahne. Sie waren nie wirklich Freunde. Es blieb ihnen nur in der Vergangenheit nichts anderes übrig, als Freunde der USA und des politischen Westens zu sein. Das ändert sich jetzt.
Rüdiger Rauls ist Buchautor und betreibt den Blog Politische Analyse.
Mehr zum Thema - Pepe Escobar: Willkommen bei BRICS 11!