Von Dagmar Henn
Der Bildungsmonitor 2023 des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) ist eine schwierige Lektüre. Nicht nur, weil die verarbeitete Menge an Informationen enorm ist, sondern auch, weil der Ursprung, ein Institut, das in der Regel als "arbeitgebernah" bezeichnet wird, durchaus dafür sorgt, dass die Ergebnisse in eine bestimmte Richtung interpretiert werden, die eben ganz bestimmten Interessen folgt.
Die Darstellung in den Medien stürzt sich vor allem auf das Bundesländerranking, als handele es sich um ein Wettrennen, und als würden Eltern massenhaft das Bundesland wechseln, weil dessen Ergebnisse besser sind. Tatsächlich wird das Ranking primär genutzt, um daraus politische Vorteile zu ziehen, wobei Sachsen, Baden-Württemberg und Bayern schon ewig an der Spitze von Bildungsvergleichen zu stehen scheinen, und das letztlich vermutlich weit mehr mit dem ökonomischen Stand der jeweiligen Bundesländer zu tun hat als mit der konkreten Bildungspolitik.
Denn das ist etwas, was bei der Betrachtung völlig ausgeblendet wird. Wenn insbesondere Sachsen, Baden-Württemberg und Bayern mehr Absolventen in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) ausbilden als andere Bundesländer, dann lassen sich dafür zwei naheliegende Faktoren finden, die nicht in der Studie auftauchen: Zum einen ist es weitaus wahrscheinlicher, dass jemand einen Beruf in diesem Bereich anstrebt, wenn im Umfeld tatsächlich Industrie vorhanden ist, und zum anderen sind es noch relativ wohlhabende Bundesländer, die trotz der sozialen Entwicklung der letzten 20 Jahre genug mögliche Aufsteiger liefern, die diese Fächer studieren wollen. Es sind nämlich nicht die Kinder aus den oberen Schichten, die technische und naturwissenschaftliche Fächer anstreben. Trotzdem reicht die Zahl der Absolventen in diesen Bundesländern selbst nicht aus, um den nötigen Nachwuchs für Forschung und Entwicklung zu bilden.
Man merkt, das ist die Frage, die die Autoren und vermutlich auch die Auftraggeber der Studie am stärksten umtreibt. Woher soll der Nachwuchs im MINT-Bereich kommen? Schließlich hängt auch das Wohl der Industrie, für die das IW arbeitet, davon ab, dass es diesen Nachwuchs gibt. Letztlich ist das der Aspekt, unter dem das gesamte Bildungssystem, von Kindertagesstätten bis zu den Hochschulen, betrachtet wird.
Dabei ist zuerst einmal eine Tatsache auffällig, anhand der gleich der erste Widerspruch auftaucht. Nach der ersten PISA-Studie begann eine Welle von Reformen und Verbesserungsbemühungen, die beispielsweise zu einem starken Ausbau der Kinderbetreuung und der Einführung von Ganztagsunterricht führten, den mittlerweile fast die Hälfte der Schüler besucht. Bis 2013 zeigte auch der Bildungsmonitor eine Verbesserung; danach aber wurden die Ergebnisse wieder schlechter.
"Der Bundesdurchschnitt im Jahr 2021 entspricht damit in etwa dem Niveau des schlechtesten Bundeslands Bremen im Jahr 2011 (463 bzw. 467 Punkte). Auch die durchschnittliche Risikogruppe in Deutschland weist aktuell in etwa das Niveau Bremens im Jahr 2011 auf."
Bremen ist ebenso traditionell das Schlusslicht solcher Untersuchungen, wie die drei südlichen Bundesländer an ihrer Spitze stehen. Aber was löste diese Entwicklung aus? Warum wird seitdem das Leseverständnis, die Leistung in Mathematik und Anderes wieder schlechter?
Eine Erklärung liefert der Bericht.
"Lag der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund im Jahr 2005 noch bei 18,7 Prozent, liegt er im Jahr 2022 mit 28,7 Prozent zehn Prozentpunkte höher. Mehr noch als in der Gesamtbevölkerung steigt der Migrationsanteil bei den jungen Generationen. Unter den Viertklässlerinnen und Viertklässlern ist der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund von 24,7 Prozent im Jahr 2011 auf 38,3 Prozent im Jahr 2021 gestiegen – ein Anstieg um 13,6 Prozentpunkte innerhalb eines Jahrzehnts."
Das sind 38,3 Prozent im Bundesdurchschnitt, und das war im Jahr 2021. Im Jahr 2022 kamen dazu dann noch die Ukrainer. In den Großstädten bedeutet das: Über die Hälfte der Kinder hat in den Grundschulen Deutsch nicht als Muttersprache und beherrscht es nur mangelhaft. Mehr noch, nachdem sich die Wohnbevölkerung stark entmischt hat, sind noch weit höhere Anteile möglich. Das hat zur Folge, dass der Spracherwerb in der Kommunikation mit Gleichaltrigen nicht mehr stattfinden kann, der aber ein wichtiger Teil des Lernprozesses ist.
Wenn das das einzige Problem wäre … Trotz dieser massiven Veränderung in der Zusammensetzung der Schülerschaft ist die Ausbildung für den Unterricht von Deutsch als Zweitsprache immer noch nicht verpflichtender Teil der Lehrerausbildung. Man kann es lernen, muss aber nicht. Abgesehen davon, dass die Lehrerschaft in Deutschland immer noch im Verhältnis zu anderen Ländern relativ alt ist, wird das zentrale Wissen, das erst die Voraussetzung für die Vermittlung anderer Dinge wie Mathematik schafft, nach wie vor nicht vermittelt. Das ist sowohl gegenüber den Schülern als auch gegenüber den Lehrern eigentlich eine Zumutung.
Was eine Studie, die im Auftrag des Arbeitgeberverbands erstellt wurde, natürlich nicht erwähnt, ist, dass sich in der Zwischenzeit noch etwas anderes geändert hat in Deutschland. Stichwort Niedriglohnsektor. An anderer Stelle kommt man nämlich zu dem Ergebnis, dass sich auch der Zusammenhang zwischen Bildungsstand und Einkommen der Eltern und Schulerfolg der Kinder wieder verstärkt hat. Sind weniger als hundert Bücher im Haus, ist der Bildungserfolg geringer. Wird viel vorgelesen, schneiden die Kinder besser ab, aber das ist vorrangig in Akademikerhaushalten üblich. Nachhilfe ist das Privileg desjenigen, der sie bezahlen kann – wobei das Thema Privatschulen in diesem Zusammenhang in der Studie nicht einmal erwähnt wird. Die Umgebung hat ebenfalls einen starken Einfluss, nicht nur, weil Schulen in ärmeren Vierteln meist schlechter ausgestattet sind, sondern auch, weil sich Kinder und Jugendliche vielfach nach dem richten, was ihnen vorgelebt wird.
Es gibt einen konkret benennbaren Faktor, der die räumliche Trennung von Arm und Reich in Deutschland gefördert hat. Das war Hartz IV, und damit die Höchstgrenzen für die Kosten der Unterkunft. War dieser Nebeneffekt beabsichtigt? Wahrscheinlich nicht, die Folge ist aber, dass sich sowohl die arme als auch die Migrationsbevölkerung seitdem verstärkt in bestimmten Vierteln ballen. Ungünstige Voraussetzungen.
"Studien zeigen, dass sich ein grösserer Klassenanteil an Migrantinnen und Migranten sowohl negativ auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund auswirkt als auch auf die Kinder ohne Migrationshintergrund. Daher sollte auf eine gleichmässigere soziale Durchmischung geachtet werden, besonders vor dem Hintergrund, dass sich die Qualität der Grundschulen immer stärker nach der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft unterscheidet."
Nun, die tatsächliche Tendenz geht immer noch in Richtung einer Entmischung und jeder Schritt, der die Mieten weiter steigen lässt und das verfügbare Einkommen weiter senkt, verstärkt das Problem. Exakt diese Frage kann das IW allerdings nicht offen ansprechen, schließlich sind seine Auftraggeber die Profiteure dieser Entwicklung, auch wenn sie jetzt feststellen müssen, dass ihnen der nötige Nachwuchs für die Forschungsabteilungen ausgeht.
Zuwanderung ist dabei nur begrenzt hilfreich. Die Zahl ausländischer Studenten, bei denen man sich Hoffnungen machen könnte, dass sie nach ihrem Abschluss bleiben, steigt zwar der Studie zufolge, aber die Ursprungsländer sind vorrangig Indien und China. Vor Kurzem erst hat die Bundesregierung beschlossen, chinesische Studenten, die ihr Studium vom chinesischen Staat finanziert bekommen, nicht mehr zuzulassen, weil sie ein Sicherheitsrisiko darstellten. Damit fällt eine der beiden Gruppen weitgehend aus. Wie lange es noch dauert, bis auch indische Studenten abgewiesen werden, weil Indien Teil der BRICS ist, kann man nur vermuten. Noch ein Punkt, an dem unterschiedliche Interessen und Ziele miteinander kollidieren.
Die Einwanderergruppen der letzten Jahre sind übrigens recht unergiebig, was diese Studienfächer betrifft. Der Bericht meldet das zwar als positive Nachricht, aber in Wirklichkeit ist es keine – ganze Zehntausend haben bisher ein Studium aufgenommen. Bei Erwachsenen oder fast Erwachsenen, von denen viele als Analphabeten hier eintreffen, ist auch kaum mehr zu erwarten. Bei den Ukrainern dürfte die "Ausbeute" deutlich besser sein. Doch das Problem, das das IW am meisten umtreibt, ist kaum so einfach zu lösen.
Der Elefant im Raum ist natürlich das dreigliedrige Schulsystem. Seit dem Scheitern des Volksentscheids zur Schulreform in Hamburg im Jahr 2010 traut sich niemand mehr, die Forderung nach einer Aufhebung dieser Teilung zu erheben. Dabei war der Vorschlag in Hamburg schon darauf begrenzt, die Kinder bis zur sechsten Klasse gemeinsam zu unterrichten. Damals waren auch sämtliche Wirtschaftsvertreter dafür, aber die Mittelschicht war in großen Teilen vehement dagegen; die Entscheidung fiel zugunsten sicherer Karrierechancen für die eigenen Kinder und gegen einen gesellschaftlich notwendigen Schritt.
Das Problem an diesem Schulsystem ist nicht nur die frühe Trennung der Kinder, es sind noch weit stärker die Folgen, die es für die Ausrichtung des Unterrichts und das Verhalten der Lehrer hat. Der Bildungsmonitor schlägt unter anderem vor, die Leistung der Lehrer bei ihrem Gehalt zu berücksichtigen, und meint mit Leistung, wie gut die Schüler abschneiden. Die ganze Struktur ist allerdings darauf ausgerichtet, dass mehr und mehr Schüler ausgesiebt werden. Das gilt nicht nur für die Grundschule, das gilt für die gesamte Schulzeit. Das System mit seinen Traditionen setzt schlicht den genau gegenteiligen Anreiz. Die Studie kritisiert das nur sehr vorsichtig.
"Die Segregation von lernstarken und lernschwachen Schülerinnen und Schülern etwa verstärkt bestehende Leistungsunterschiede, besonders auch weil Schulen in sozialen Brennpunkten – trotz Mittelzuteilung nach Sozialindex – oft geringere Mittel zur Verfügung stehen als Schulen in einkommensstarken Wohngebieten."
Wie stark sich Unterricht unterscheiden kann, wenn dieser Ausleseanreiz nicht besteht, kann man an den Berufsschulen sehen, die mit dem projektorientierten Unterricht einem völlig anderen Modell folgen. Statt ständig gegeneinander, arbeiten die Schüler miteinander, an konkreten Vorhaben, die als Aufhänger für die theoretischen Teile des Unterrichts dienen. Dass eine solche Pädagogik möglich ist, beruht auf zwei Voraussetzungen.
Die erste gilt mittlerweile für das gesamte Schulsystem – man benötigte eine Antwort auf den hohen Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, was dazu führte, das Gewicht nichtsprachlicher Handlungen zu erhöhen und auch die nötige Sprache dabei mit zu vermitteln, die zweite gilt allerdings nicht: Die Berufsschule arbeitet mit Jugendlichen, die eine betriebliche Ausbildung absolvieren, und die Betriebe erwarten, dass die Berufsschule den Jugendlichen, die sie schicken, auch die nötigen Kenntnisse vermittelt. Dieser einzige Bereich des deutschen Bildungswesens, der nicht aussieben soll, könnte für den ganzen Rest als Vorbild dienen und die Blaupause für eine Erneuerung liefern, aber nur, wenn das Auslesesystem gekippt wird.
Wie viel es bewirken kann, wenn der Auslesedruck entfällt, belegt die Studie selbst, ohne es zu bemerken. In Deutschland gibt es zwei Arten von Ganztagsschulen – offene und gebundene. Der Unterschied besteht darin, dass in der gebundenen Ganztagsschule der ganze Tag als Unterricht gilt und den Schulregeln unterliegt, während die offene Ganztagsschule (die oft aus Geldmangel entsteht) bei den nachmittäglichen Zusatzangeboten meist auf die freie Jugendhilfe zurückgreift. Die Ergebnisse der offenen Ganztagsschule sind bezogen auf den Ausgleich sozialer Benachteiligungen effektiver.
Der Grund? Hierarchie und Selektion, die das Schulwesen dominieren, bleiben außen vor. Die Grundlage für die Tätigkeit der freien Jugendhilfe ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz, das eine völlig andere Vorstellung von Bildung bietet als die Erziehungs- und Unterrichtsgesetze der Bundesländer. Auch hier ist ein Bereich, in dem es nicht darum geht, unterwegs möglichst viele Passagiere zu verlieren.
Die Bildungsausgaben, auch ein Ergebnis dieser Studie, sind übrigens seit dem ersten Bildungsmonitor 2004 deutlich gestiegen, von 2005 bis 2021 um 87,7 Prozent. Das signalisiert, dass mangelnde Finanzierung nicht das Hauptproblem ist.
Bezogen auf das Kernproblem für das IW, den fehlenden MINT-Nachwuchs, lässt sich das relativ einfach zusammenfassen. Nachdem diese Studiengänge immer schon eher von Kindern aus Nichtakademikerhaushalten belegt wurden und vor allem als Möglichkeit des sozialen Aufstiegs gedient haben, lässt sich das Problem nicht mit ein paar Fördermittelchen hier und ein paar Lehrern dort lösen. Manche Vorschläge, die das IW macht, wie eine noch stärkere Akademisierung der vorschulischen Erziehung, sind geradezu kontraproduktiv, weil sie den Abstand zwischen der Lebenswelt der Kinder, aus denen das IW gerne Ingenieure machen würde, und den Betreuern noch erhöhen. Andere, wie eine stärkere Gestaltungsfreiheit der einzelnen Schulen, würden die Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen verstärken, nicht verringern. Lösungen, die auf Kooperation setzen statt auf Konkurrenz, sind dem IW naturgemäß fremd.
Aber der Knackpunkt bei einem Aufsteigerstudium ist, dass es dafür in der Gesellschaft tatsächlich die Möglichkeit eines Aufstiegs benötigt. Spätestens seit dem Jahr 2005 ist Deutschland eine Abstiegsgesellschaft, ein Zustand, der sich in naher Zukunft noch deutlich verstärken dürfte. Das bedeutet, dass – genau das signalisierte bereits der Hamburger Volksentscheid – die Konkurrenz in den Schulen nicht nur über das System und die Lehrer vermittelt wird, sondern auch über die Eltern, zumindest über jene, die noch einen Abstieg fürchten können. Der Bildungsmonitor nennt das "Intensivierung der Elternschaft". Eine erhöhte soziale Selektivität führt aber dazu, dass immer weniger potenzielle MINT-Studenten überhaupt die Studienberechtigung erwerben.
Um die Demokratie macht sich das IW übrigens auch Sorgen. Und zitiert in diesem Zusammenhang folgende Erkenntnis:
"Ein grundlegendes Problem sei, dass Jugendliche eine abnehmende Bereitschaft zu längerfristigem politischem Engagement aufweisen – und dass, obwohl sie ihre Bedürfnisse durch die Politikerinnen und Politiker nicht ausreichend vertreten fühlen. Weiterhin sei eine starke soziale Selektivitat feststellbar unter jenen, die sich politisch engagieren. An Bewegungen wie etwa 'Fridays for Future' zeige sich, dass Kinder aus bildungsnahen Familien überproportional vertreten sind."
Das könnte daran liegen, dass diese Bewegungen die Bedürfnisse ärmerer Jugendlicher genauso wenig vertreten wie die Politiker. Und wie das IW. Am Ende jedoch stellt sich heraus, dass man zwar eine Zeit lang auf Niedriglöhne und Politik ausschließlich für die obersten 0,1 Prozent setzen kann, die langfristigen Perspektiven der Gesellschaft damit aber zunichtegemacht werden. Das Problem mit dem MINT-Nachwuchs ist da ein hervorragendes Beispiel.
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