Von Dagmar Henn
Zweieinhalb Monate nach Beginn der groß angekündigten ukrainische Offensive ist klar, dass die angestrebten Ziele nicht einmal ansatzweise erreicht werden; Tag für Tag gibt es neue Meldungen, wie ukrainische Einheiten immer wieder versuchen, die gleichen menschenleeren Dörfer zu erobern, aber selbst wenn sie sich irgendwo festsetzen können, nach wenigen Tagen bereits wieder vertrieben oder aufgerieben werden.
Inzwischen ist zumindest die US-amerikanische Presse sogar soweit, diesen Zustand zuzugeben, und der letzte Woche aus dem Umfeld von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg lancierte Vorschlag "Gebiet gegen NATO-Mitgliedschaft" zeugt zwar nicht wirklich von einem Anfall von Vernunft, aber doch von zunehmenden Überlegungen, irgendwie dieses gescheiterte Projekt wieder loszuwerden.
Auf Seiten der Analytiker läuft schon längst die Debatte, ob auf das Scheitern der ukrainischen Offensive eine russische Gegenoffensive folgen wird, wann und wo. So beispielsweise Bernhard von Moon of Alabama:
"Die ukrainische Gegenoffensive wird vermutlich nächste Woche ihren Höhepunkt erreichen. Sie hat ihr maximales Potenzial erreicht und wird nun abklingen.
Das ist der Moment, an dem die russische Armee in die Offensive gehen wird. Ein sicheres Zeichen dafür war der Besuch von Präsident Putin letzte Nacht in Rostow-am-Don, von wo aus die militärische Sonderoperation gelenkt wird."
Und dann verweist er auf das Interview von Lukaschenko, der auf die Verluste der ukrainischen Offensive verwies, auf 250.000 Mann der russischen Armee, die noch nicht an den Kämpfen beteiligt sind, und dann gegenüber der ukrainischen Interviewerin hinzufügte:
"Ihr werdet zermalmt... und die Polen reiben sich freudig die Hände. Von den Amerikanern ermutigt, werden sie die westlichen Regionen abschneiden... Ihr müsst euren Kopf einsetzen und auf der Grundlage der Realität handeln, im Interesse dieses großen und schönen Landes."
Nun, eine russische Offensive ist eine Möglichkeit, wobei es durchaus Argumente gibt, sich damit nicht allzu sehr zu beeilen. Schließlich ist weder die Granatenproduktion des Westens in einem halben Jahr so groß, dass sie eine wirkliche Bedrohung für die russische Armee darstellen könnte, noch dürften die angekündigten F-16 eine entscheidende Veränderung herbeiführen.
Die Tatsache, dass die USA die Ausbildung von gerade mal sechs ukrainischen Piloten angekündigt haben, die zumindest so viel Englisch beherrschen würden, dass sie nach einigen Monaten vom Sprachunterricht zum Flugunterricht übergehen könnten, deutet darauf hin, dass die Bereitschaft westlicher Piloten, die Ukrainer zu geben, die in diesen Fliegern abgeschossen werden, sich in sehr engen Grenzen hält. Und die Ausbildung von Kampfpiloten ist derart langwierig und teuer, dass selbst nach der von Selenskij so freudig verkündeten Zusage aus den Niederlanden noch einige Widrigkeiten entdeckt werden dürfen, die dieser Vergeudung im Weg stehen. Eine ukrainische Niederlage jedenfalls würde dieses Problem elegant beseitigen.
Die EU wird derweil in ihrer selbst gebrauten Suppe aus wirtschaftlichen Übeln auf kleiner Flamme gar gekocht, und die Temperatur zu erhöhen, bringt dabei keinen wirklichen Nutzen. Das einzige wirklich wichtige Argument für eine nähere russische Offensive ist der nach wie vor permanente Beschuss des Donbass, der immer wieder Opfer fordert. Wie sich der russische Generalstab entschieden hat, ist jedenfalls vorerst nicht bekannt.
Allerdings gibt es eine Variante, die die Entscheidungsmöglichkeiten auf einen Schlag zunichte machen könnte. Was, wenn die ukrainische Armee zusammenbricht? Wenn sie sich einfach auflöst? Angesichts der ungeheuren Verluste eine durchaus denkbare Möglichkeit. Schließlich ist kaum noch etwas übrig von den besser ausgebildeten Einheiten; die letzte westlich ausgebildete und mit Challenger-Panzern bestückte Brigade ist gerade damit beschäftigt, noch einmal gegen das Dorf Rabotino anzurennen. Und dann?
Ein Vorzeichen für einen solchen Zusammenbruch könnte die Tatsache sein, dass in letzter Zeit sich öfter ganze Gruppen ukrainischer Soldaten ergeben haben – von sich aus und nicht, weil ihre Stellung eingenommen wurde. Die Art und Weise der Kriegsführung, überwiegend mit Distanzwaffen und weit weniger unmittelbarem Kontakt zwischen den Truppen als bei einem Bewegungskrieg, macht Gefangennahmen zu einem vergleichsweise seltenen Ereignis; bei massivem Artilleriebeschuss und dem Einsatz von Kamikaze-Drohnen gegen Stellungen, wie man sie dutzendfach in Videos beobachten kann, besteht fast die einzige Option, sich überhaupt ergeben zu können, in einer verabredeten Kapitulation. Wenn das nicht mehr einzelne Soldaten sind, sondern Einheiten (oder das, was von ihnen übrig blieb), dann kann das auf einen massiven Verlust an Moral hinweisen.
Aber solche Zusammenbrüche sind plötzliche Ereignisse, wie die historischen Fälle der russischen wie der deutschen Armee im ersten Weltkrieg belegen. Es gibt nur Vorzeichen, wie beispielsweise Befehlsverweigerungen. Auch das findet sich dokumentiert in Videos. Aber es gab solche Befehlsverweigerungen bereits 2014, zu Beginn des Bürgerkriegs, damals wurde auch vielfach die Erwartung geäußert, die ukrainische Armee werde sich nicht in einen Bürgerkrieg schicken lassen, und es kam doch anders.
Nur, die Möglichkeit ist real, und sie hat Konsequenzen. Wie viel funktionierender Staat bliebe danach noch in der Ukraine übrig? Die Mobilisierungen waren längst schon so umfassend, dass sie funktionale Löcher gerissen haben, und selbst wenn es unzählige Menschen gibt, die im korruptesten Land Europas in der einen oder anderen Weise von diesem Krieg profitieren, wären sie tatsächlich willens und im Stande, trotz eines Zusammenbruchs der Armee den darauf folgenden Zusammenbruch der staatlichen Struktur zu verhindern?
Wahrscheinlichkeit und historische Erfahrung sprechen dagegen. Die Profiteure dürften eher ihre Koffer packen und sich schnellstens auf den Weg zu ihren ausländischen Konten und/oder Wohnsitzen machen. Das Land ist hoch verschuldet, die Staatskasse enthält immer nur, was auf dem letzten westlichen Scheck stand, Gehälter und Sozialleistungen können nicht mehr finanziert werden und die Wirtschaft steht weitgehend still.
Es waren ohnehin bereits seit Monaten nur die westlichen Gaben, die dafür sorgten, dass noch irgend etwas funktionierte. Und jedem in der Ukraine ist klar, dass nach einem solchen Zusammenbruch der russischen Armee nichts mehr im Weg steht, und dementsprechend werden die Entscheidungen fallen. Sprich, wer auch immer davon etwas zu befürchten kann, dürfte sich auf den Weg nach Westen machen.
Wie aber wird der Westen auf eine solche Entwicklung reagieren? Mag sein, die Polen können es nicht lassen und holen sich tatsächlich Galizien. Mag aber auch sein, dass nicht – Galizien hat weder nennenswerte Industrie noch besonders fruchtbare Böden, all das liegt weiter östlich. Was bedeutet, Polen würde sich ein Stück Land aneignen, das es alimentieren müsste, während es selbst als größter Nettoempfänger am Tropf der EU hängt, also eigentlich keinen Spielraum für ertragslose Erwerbungen hat.
Würde die EU weiter finanzieren, würden die USA? Selbst wenn der Wille vorhanden wäre, wenn die staatliche Struktur zusammenbricht und nicht nur die Armee, dann wäre die Voraussetzung dafür, weiter zu alimentieren, selbst Personal ins Land zu schicken. Was zum einen die Rechnung deutlich erhöht und zum anderen schon auf sprachliche Probleme stoßen dürfte; denn dass unter diesen Umständen all die ukrainischen Flüchtlinge im Westen einen plötzlichen Drang verspüren, in ihre Heimat zurückzukehren, ist ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich.
Zudem war es immer eine Option der Planung, Russland möglichst viele Kosten zu verursachen. Das bedeutet, egal, was jetzt Kiew gegenüber zugesichert wird: Sollte ein Zusammenbruch erfolgen, dürften EU wie USA sehr konzentriert in die andere Richtung blicken und bestenfalls noch dafür sorgen, dass nicht allzu viel Flüchtlingsnachschub aus der Ukraine kommt; schließlich würde ein entvölkertes Land Russland ebenfalls keine Kosten verursachen.
Eine Haltung, die sich Moskau nicht leisten kann, trotz der ökonomischen Folgen. Ein gescheiterter Staat vor der Haustür ist nur unwesentlich besser als ein NATO-Mitglied; er bliebe auf jeden Fall ein gigantisches Sicherheitsproblem. Was bedeutet, in diesem Moment würde die Entscheidung, wann sich die russische Armee wohin bewegt, schlicht von der Notwendigkeit diktiert. Und es wäre absolut klar, dass ein schnelles Eingreifen einem langsamen vorzuziehen wäre, um den Verfall auf ein Minimum zu begrenzen.
Die Reste der vier Beitrittsgebiete sind dabei relativ unproblematisch, da bereits Verwaltungsstrukturen bestehen, die nur auf das verbliebene Gebiet ausgeweitet werden müssen. Aber der ganze Rest der Ukraine? Um eine Chance zu haben, möglichst schnell eine Stabilisierung zu erreichen, genügt es nicht, militärisch zu besetzen. Es müssen politische Strukturen geschaffen werden, die an die Stelle der aufgelösten treten. Und diese politischen Strukturen sollten möglichst viele Teile der ukrainischen Opposition umfassen, um die Gefahr eines weiteren Bürgerkriegs unter umgekehrten Vorzeichen zu verringern.
Ob das gelingen kann, ist eine Frage politischer Vorarbeiten. Haben sie im Verborgenen stattgefunden? Das wäre zu hoffen. Offen sichtbar sind sie jedenfalls nicht, denn den Schritt, eine ukrainische Exilregierung zu unterstützen, ist Russland bisher nicht gegangen; die Möglichkeit dazu hätte zumindest 2014 mit Sicherheit bestanden. (Nur als Nebenbemerkung – man kann sich das Verhalten, das die EU jetzt in Bezug auf den Niger zeigt, wie eine Blaupause auf die Zeit nach dem Maidan legen, wenn man sich ins Gedächtnis rufen will, wie eigenartig diese schnelle Anerkennung der Putschtruppe durch den Westen damals war).
Gleich, wie sich dann die Frage entschiede, ob alles Teil Russlands würde oder die heutige Ukraine abzüglich der Beitrittsgebiete ein eigener Staat mit enger Bindung an Russland bliebe oder eine Grenze zwischen beiden Staaten irgendwo anders verliefe, das Ziel der Entnazifizierung ließe sich in keiner der Versionen erreichen, ohne dabei die in der Ukraine noch vorhandenen Gegenkräfte zu mobilisieren. Was nicht anders gelingen kann als durch Einbindung ihrer Vertreter. Womit die Lösung aber noch lange nicht einfach ist.
Denn auf eines kann man sich mit Sicherheit verlassen – wenn der Westen die Ukraine fallen lässt, dann schneidet er sie auch von Einrichtungen wie SWIFT ab. Und noch ehe auf russischer Seite die Entscheidung fällt, welche Gestalt aus diesen Resten entstehen soll, wird auf westlicher Seite die Entscheidung fallen, die Sanktionen nun auch auf dieses Gebiet auszudehnen. Sofern auf irgendwelchen westlichen Konten noch Auslandsguthaben liegen, dürften sie eingefroren werden, und westliche Firmen dürften ihre Lieferbeziehungen abbrechen. Das bedeutet: Die lebenswichtigen Verbindungen nach draußen verlaufen sehr schnell nur noch nach Russland.
Logistisch bedeutet das eine ungeheure Herausforderung, nachdem in den vergangenen neun Jahren alles gen Westen orientiert worden ist. Und neben den unverzichtbaren Maßnahmen, um das Überleben der Bevölkerung sicherzustellen, bleibt dann noch die Notwendigkeit, einen völlig neuen Sicherheitsapparat aufzubauen, der möglichst wenige Spuren des alten enthält.
Es bleibt auch das Problem, dass sich die Bandera-Anhänger schon nach dem Zweiten Weltkrieg jahrelang dem Terror widmeten (das Hauptargument, Galizien den Polen zu überlassen, so sie es unbedingt haben wollen, weil sie dann dieses Vergnügen haben). Und die tief gehende Indoktrination in der heutigen Ukraine ließe sich dauerhaft auch nur mit beharrlicher Bildungsarbeit und einer starken Ideologie bewältigen; eine Aufgabe, auf die Russland selbst nur halb vorbereitet ist.
Sprich, auch wenn ein Zusammenbruch der ukrainischen Armee eine Lösung zu sein scheint, ist er zumindest aus der russischen Sicht eher eine Einschränkung der Entscheidungsmöglichkeiten und schafft eine Aufgabe, die über Jahre hinweg viele Energien binden wird. Eine Kiewer Kapitulation, gefolgt von einer etwas langsameren Umgestaltung, wäre günstiger. Aber das ist das Problem mit Zusammenbrüchen – sie ereignen sich plötzlich und fragen niemanden nach seiner Meinung.
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