Von Jelena Karajewa
Nicolas Sarkozy, der am Dienstag einen neuen (zweiten) Band seiner Memoiren veröffentlicht, gab im Vorfeld der Veröffentlichung des Buches ein langes Interview – sowohl was die Themen und Ideen als auch was den Umfang (mehrere Magazinseiten) angeht. Wie jeder westliche Politiker auf dieser Stufe ist auch der ehemalige französische Präsident ein wenig narzisstisch. Das Interview ist der Beweis dafür. Er habe keine Fehler gemacht (auch nicht beim Sturz des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi), es habe bloß eine "Unstimmigkeit der Handlungen der demokratischen Länder und Fehlentscheidungen" in der Politik seines Nachfolgers François Hollande gegeben, aber alles andere könne mit einer Eins, oder sogar mit einer Eins+ bewertet werden.
Sarkozys Polemik gegenüber seinen Konkurrenten ist eine Art Abrechnung, auch wenn sie schon fast alle ehemalige Entscheidungsträger sind. Aber das ist sein Recht, seine Angelegenheit und eine Tatsache seiner Biografie. Andererseits ist ein solcher Disput schon lange nicht mehr relevant und für niemanden mehr von Interesse.
Dies wurde übrigens sowohl vom Establishment als auch von den Medien so empfunden. Niemand schenkte den Sticheleien Sarkozys Beachtung.
Der kollektive "Bodensatz" der aktuellen medienpolitischen Elite wurde indes durch andere Thesen des ehemaligen französischen Staatschefs aufgewühlt. Nämlich durch seine Thesen über die Krim, die Verhandlungen mit Russland im Lichte der russischen Sicherheitsbedenken, über den möglichen Status der Ukraine und so weiter. Die Hetze gegen Sarkozy begann, und wie bei jeder Hetzjagd verwischte die Aggression augenblicklich das Gebilde der Höflichkeit und trieb die Verfolger dazu, völligen Unsinn zu veröffentlichen. Die Presse war sich plötzlich sogar einig, dass "Sarkozy Millionen aus dem Kreml erhält."
Die Darstellung von Sarkozy weist zwei merkwürdige Wendungen auf. Erstens die Reibereien hinter den Kulissen des NATO-Gipfels, der Anfang April 2008 in Bukarest stattfand. Dort erklärten sowohl die Ukraine als auch Georgien ihren Wunsch, dem Bündnis beizutreten, und versuchten zunächst, Beitrittskandidaten zu werden. Sie erhielten eine Absage. Und diese war solidarisch – Paris und Berlin waren sich einig. Sowohl Sarkozy als auch Bundeskanzlerin Angela Merkel waren sich der Gefahr der Überschreitung roter Linien bewusst. Es war eine Gefahr, die eher Europa bedrohte als Russland. Daher reagierten Paris und Berlin mit gesundem Menschenverstand und politischem Selbsterhaltungstrieb und sagten Kiew und Tiflis Non bzw. Nein.
Die US-Amerikaner reagierten auf die Einwände ihrer eigenen Verbündeten auf die einzig mögliche und übliche US-amerikanische Art und Weise. Nämlich indem sie sich damit den Hintern abwischten, und Georgien genau vier Monate später in eine Krise stürzten, indem sie den georgischen Beschuss von Stellungen der russischen Friedenstruppen bewusst provozierten. Deshalb eilte Sarkozy damals nach Moskau, denn er wusste, dass Russland die Sache nicht auf sich beruhen lassen würde, und dass ein Konflikt im Zentrum Europas zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht angebracht war.
Und noch eine weitere Schlussfolgerung lässt sich aus den Äußerungen des ehemaligen französischen Präsidenten ziehen: Erklärungen Washingtons, egal ob öffentlich, hinter den Kulissen, schriftlich oder mündlich, sind immer alles Lügen.
Die zweite Wendung in den Thesen Sarkozys war: Egal, wie er seinen Standpunkt zur Krim formuliert hat ("die Annexion ist illegal und das Referendum entspricht nicht den internationalen Standards"), er hat dennoch klargestellt, dass ein Versuch, die Halbinsel zurückzubekommen, illusorisch ist. Und er erklärte sogar, warum. Er beließ es aber dabei nicht. Er merkte an, dass Putin ein aufmerksamer und vernünftiger Gesprächspartner sei, mit dem ein Dialog nicht nur wünschenswert, sondern notwendig sei. Vor allem für die Europäer selbst. Gleichzeitig warf er dem amtierenden französischen Präsidenten Emmanuel Macron vor, sich bei der Lösung der geopolitischen Krise auf dem Kontinent "dem Einfluss der Osteuropäer" unterworfen zu haben. Das ist nicht einmal eine Demütigung, wenn man die obersten Ebenen der derzeitigen französischen Regierung versteht, – es ist ein Schlag ins Gesicht.
Wir Russen sollten uns im Übrigen auch keine Illusionen machen. Derselbe Sarkozy nennt uns "Slawen, die anders sind als die Europäer", sprich: als die Franzosen. Das Lustige daran ist, dass Sarkozy selbst keinen Tropfen jenes Blutes in sich trägt, das er als "unseres", sprich französisches, bezeichnet. Daher sollten wir diese Aussage des ehemaligen Präsidenten als unüberlegt betrachten.
Was jedoch absolut und kategorisch grundlegend ist, ist der Titel des Interviews. Hier ist die Formulierung durchaus präzise und ausgewogen:
"Wir brauchen Russland und die Russen brauchen uns."
Der erste Teil der Aussage ist absolut zutreffend – die Europäische Union und Europa als Ganzes brauchen Russland wirklich, trotz aller Aussagen der wichtigsten europäischen "Gärtner" wie dem Chef der EU-Außenpolitik Josep Borrell. Sie werden ohne russische Rohstoffe und den russischen Markt nicht überleben, egal wie sehr sie sich die Brust aufplustern.
Doch dann macht Sarkozy einen Fehler: Entgegen seiner Behauptung, wird Russland in der Tat ohne Europa auskommen und dessen Abwesenheit überhaupt nicht bemerken, denn das wirkliche Europa, das Europa der Ideale, der Kultur, der Überzeugungen, ist jetzt Russland. Dieses Europa ist offen, frei, wohlhabend und stabil.
Aber was da westlich von Brest passiert – welche Skandale und Schwierigkeiten, oder in welchem Ausmaß sich Rezession und Armut dort ausbreiten –, das interessiert uns schon lange nicht mehr.
Und die Tatsache, dass der ehemalige französische Präsident sich auf die Beziehungen konzentriert, welche die Europäische Union selbst zerstört hat, bedeutet, dass die Weigerung der EU, mit Russland zusammenzuarbeiten, ihr selbst nicht nur wirtschaftliche Schmerzen bereitet, sondern auch zu einer ausgewachsenen Krise in der Politik geführt hat. Man nennt das auch eine Sackgasse. Nun lassen wir die EU mit den von ihr begangenen Fehlern allein.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen auf RIA Nowosti am 21. August 2023.
Jelena Karajewa ist eine russische Journalistin und Kolumnistin bei RIA Nowosti.
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