Von Dagmar Henn
So munter wie es, Habeck sei Dank, mit der deutschen Wirtschaft bergab geht, werden die sozialpolitischen Säue, mit denen Kürzungen eingeleitet werden, gerade rottenweise durchs Dorf getrieben. Allein in den letzten zwei Tagen gleich zwei "Vorschläge": eine weitere Erhöhung des Rentenalters, angeblich wegen der steigenden Lebenserwartung, und eine weitere Kostenbeteiligung bei den Leistungen der Krankenversicherungen.
Immerhin, bei Ersterem hat jetzt der Generalsekretär der CDU, Carsten Linnemann, doch kalte Füße bekommen, ein wenig zumindest. Nachdem die "Wirtschaftsweise" Veronika Grimm das Spiel eröffnet hatte, äußerte er sich mit der glorreichen Erkenntnis:
"Es gibt Menschen, die bei steigender Lebenserwartung länger arbeiten können. Es gibt aber auch sehr viele, die schon mit 60 aus körperlichen Gründen nicht mehr können – ob etwa in der Pflege oder im Handwerk."
Das ist ein wenig Wahrheit, aber nur die Hälfte. Oder ein Drittel. Schließlich war der Haupteffekt der Erhöhung des Rentenalters – demnächst auf ganze 67 Jahre – nicht eine tatsächliche Verlängerung der Beschäftigung, sondern schlicht eine verbreitete Kürzung der Renten.
Wobei, das sollte man auch nicht übersehen, Frauen dadurch deutlich mehr verloren haben als Männer. Denn im Jahr 2000 lag die Regelaltersgrenze für Frauen bei 60 und für Männer bei 65 Jahren; stieg also seitdem für Männer um zwei, für Frauen aber um ganze sieben Jahre. Inzwischen liegt das faktische Renteneintrittsalter der Frauen einen Monat über dem der Männer, aber mit 64,2 Jahren immer noch unter der Regelaltersgrenze, was erkennen lässt, dass Kürzungen nicht die Ausnahme, sondern die statistische Regel sind.
Aber da gibt es noch einen ganz anderen Punkt – neben der Tatsache, dass man auch die ursprünglich in Deutschland möglichen Erwerbsminderungsrenten, die so etwas wie die Folgen körperlicher Belastung auffangen sollten, weitgehend durch Hartz IV (halt das, was jetzt Bürgergeld heißt) ersetzt hat. Und zwar die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich.
Zugegeben, die sind bei den Frauen etwas geringer als bei den Männern; aber da betragen sie auch großzügige zehn Jahre. Um es deutlicher zu formulieren: Insbesondere diejenigen, die eine niedrige Rente erhalten, weil sie wenig verdient haben, haben auch noch weniger von dieser Rente, weil sie früher sterben.
Weshalb einer der Nebeneffekte der Rentenkürzerei der ist, dass die Rentenbeiträge der Armen die hohen Renten jener finanzieren, die etwa als leitende Angestellte dann auch noch von der Tatsache profitiert haben, dass größere Teile ihres beträchtlichen Einkommens gar nicht der Rentenversicherungspflicht unterlagen. Es gibt nämlich eine Beitragsbemessungsgrenze, weil das juristische Dogma in Deutschland besagt, dass die Rentenhöhe die Einkommenshöhen widerspiegeln müsse und die Zahlungen an diese Versicherten sonst zu teuer würden. Klar, wenn sie ihre Renten dann auch noch bis ins hohe Alter genießen können...
Vergangene Woche tauchte eine Studie auf, die deutliche Unterschiede des Krebsrisikos belegt hat. Natürlich wurde sofort versucht, das auf die "ungesündere Lebensweise" der unteren Schichten zu schieben, die mehr rauchten und diesen Industriefraß zu sich nähmen, also irgendwie im Grunde selbst schuld seien.
In Wirklichkeit lässt sich aber klar belegen, dass beispielsweise die Wohnungen an verkehrsreichen Straßen in der Regel von ärmeren Mietern bewohnt werden, dass der Kontakt mit gefährlichen Substanzen während der Arbeit nun einmal in den Bereichen höher ist, wo körperliche Arbeit geleistet wird, und wenn man dann noch mit einbezieht, dass auch Stress einen Einfluss auf Krankheitsentwicklungen hat und Arme meist mehr Stress erfahren als Reiche, sieht das dann schon wieder anders aus. Nicht einmal die industriell verfremdeten Nahrungsmittel werden deshalb verzehrt, weil sie so toll, sondern, weil sie bezahlbar sind.
Wollte Linnemann also wirklich eine gerechte Einbeziehung der Lebenserwartung, müsste die Regelaltersgrenze für Versicherte mit körperlich belastenden Berufen und jene mit niedrigen Einkommen um zehn Jahre unter jenen der wohlhabenderen Rentner liegen. Für alleinerziehende Pflegekräfte beispielsweise. Oder LKW-Fahrer. Dann wäre zumindest sichergestellt, dass alle die Chance auf ungefähr gleich viele Jahre als Rentner haben, und nicht die einen kurz nach der Verrentung (wenn nicht gar davor) den Löffel abgeben und die anderen noch ein Vierteljahrhundert vor sich haben.
Allerdings, einen Punkt darf man in diesem Zusammenhang nie vergessen. Dass überhaupt ständig die Frage auftauchen kann, ob und wie man weiter an den Renten herumschnipseln solle, hat unmittelbar mit der miserablen Lohnentwicklung zu tun, die Deutschland seit Jahrzehnten prägt. Höhere Löhne bedeuten nämlich immer auch mehr Geld in der Rentenkasse. Oder andersherum: Die Lohndrückerei, die man in Deutschland mit solcher Leidenschaft betreibt, leert neben den Geldbeuteln der Beschäftigten immer auch die Rentenkasse mit. Das führt zu einer kontinuierlichen Spirale nach unten.
Das Gleiche gilt für die Krankenversicherung. Mehr Lohn heißt mehr Geld auch dort, und andersherum, mit je weniger die Arbeitenden abgespeist werden, desto schlechter wird auch ihre gesundheitliche Versorgung. Das Sahnehäubchen auf dieser Entwicklung sind dann die Klinikabteilungen, die gar nicht mehr betrieben werden können, weil sich dank zu hoher Mieten bei zu niedrigen Löhnen kein Pflegepersonal mehr findet...
Und auf dieses seit Jahrzehnten aufgehäufte Elend trifft nun noch eine, von der Regierung noch verschärfte, Eskalation der Energie- und anderer Preise und die gigantische Mieterhöhungswelle, die das Heizgesetz auslösen wird. Was die Regierung, die mit Rüstungsausgaben und Klimawandel beschäftigt ist, selbstverständlich mangels Steuereinnahmen nicht auffangen kann.
Kleine Nebenbemerkung: Nachdem der Anteil der Verbrauchssteuern, wie der Umsatzsteuer oder auch der CO2-Abgabe, am gesamten Steueraufkommen in den letzten Jahrzehnten immer weiter gestiegen ist, während die Einnahmen etwa aus Erbschafts- oder Körperschaftsteuer immer weiter zurückgingen, führt natürlich die Lohnverweigerung auch dort zu einem unmittelbaren Rückgang der Staatseinnahmen, weil mit weniger Konsum diese Einnahmen automatisch mit einbrechen. Was dann wieder den Grund liefert, all jene Leistungen noch weiter zu reduzieren, von denen der ärmere Teil der Bevölkerung profitiert, und die – genaugenommen – eigentlich Teile des Lohns sind.
Nein, es wird keinen Vorschlag geben, wie die geringere Lebenserwartung Ärmerer beim Renteneintritt abgebildet werden kann. Eigentlich geht es bei Linnemanns Aussage nur um ein paar anstehende Landtagswahlen, in denen es sich seine CDU nicht leisten kann, bei ihrer Hauptwählergruppe Stimmen zu verlieren. Es findet sich ganz sicher noch ein Argument, warum man leider auf diese Frage körperlicher Belastung keine Rücksicht nehmen könne, weil das Geld dafür nicht ausreicht.
Die Sache mit der grundsätzlichen Schieflage zugunsten der Bezieher höherer Renten bringt sowieso niemand mehr in Deutschland zu Sprache. Vor zehn Jahren hätte das vielleicht noch die Linke gemacht, aber die ist gerade in Sachen Gendertoiletten ausgebucht.
Überhaupt sieht es so aus, als käme in den nächsten Monaten noch einiges aus der Ecke "Kanonen statt Butter". Schließlich muss sich Deutschland, als NATO-Land, auch auf einen Krieg gegen China vorbereiten. Dort liegt übrigens das Renteneintrittsalter für Männer bei 60, für Frauen in Büro-Berufen bei 55 und für Frauen, die körperlich arbeiten, bei 50 Jahren. So etwas kann man schließlich nicht zulassen.
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