Von Michail Chodarjonok
Anfang dieser Woche begannen die Streitkräfte der Ukraine (AFU) mit dem Hauptstoß ihrer Gegenoffensive und verlegten Tausende zusätzlicher Truppen für den Angriff, berichtete die New York Times unter Berufung auf das Pentagon. Nach Angaben der Zeitung gehören diese Soldaten zur Reservetruppe, und viele von ihnen wurden im Westen ausgebildet. Die Richtung des Hauptvorstoßes liegt südlich von Orechow, in der Region Saporoschje. Einige der Reserveformationen, die Kiew bisher noch nicht in die Schlacht geschickt hatte, wurden bereits dorthin verlegt. Sollte es der Ukraine gelingen, die russische Verteidigung dort zu durchbrechen, würde dies der AFU ermöglichen, in Richtung Tokmak und dann weiter nach Melitopol in der Nähe des Asowschen Meeres vorzudringen.
Andere Quellen spekulierten, dass es sich bei der jüngsten ukrainischen Offensive um eine vorbereitende Operation vor dem eigentlichen Hauptangriff oder um eine Verstärkung der bereits im Einsatz stehenden Einheiten handeln könnte. Ähnliche Informationen waren einige Tage zuvor von der deutschen Tageszeitung Bild veröffentlicht worden, in denen es geheißen hatte, dass die zweite Phase der Gegenoffensive unmittelbar nach der Minenräumung der Frontgebiete beginnen werde. Auch eine Erklärung von US-Außenminister Antony Blinken untermauert diese Schlussfolgerung, der zuvor gesagt hatte, die Ukraine könne Erfolg haben, wenn sie alle ihre Ressourcen voll einsetzt.
Inzwischen nähern wir uns einer Art Jubiläum – diese viel gepriesene Gegenoffensive der AFU läuft nun seit fast zwei Monaten. Allerdings ist allen völlig bewusst, dass diese Operation nicht nach dem ursprünglichen Plan verläuft. Dies lässt uns einige Schlussfolgerungen ziehen.
Welche Ziele hat sich Kiew gesetzt?
Zunächst müssen wir einige Begriffe korrekt definieren, wenn wir über die Gegenoffensive der Ukraine sprechen. Denn wie Napoleon Bonaparte sagte: Etwas korrekt zu benennen bedeutet, es korrekt zu verstehen. Aus militärischer Sicht ist es falsch, diese jüngste Offensive der AFU als "zweite Welle", "zweite Stufe" oder "zweite Phase" zu bezeichnen. Wenn eine Offensivoperation geplant und durchgeführt wird, gibt es keine "Wellen", "Phasen" oder "Stufen".
Bei der Planung einer Offensive werden zwei wichtige Dinge festgelegt: das unmittelbare Ziel der Operation und ihre weiteren Ziele. Das unmittelbare Ziel besteht in der Regel darin, die Streitkräfte der ersten Operationsstufe des Feindes zu besiegen, zu seinen Hauptkräften vorzudringen und wichtige Linien zu erobern, um die Fähigkeit des Feindes zur strategischen Verteidigung zu untergraben und günstige Bedingungen für den weiteren Verlauf der Gegenoffensive zu schaffen.
Die Eroberung von Siedlungen wie Pjatichatki, Rabotino, Uroschajnoje, Kleschtschijewka und anderen ist keineswegs ein "unmittelbares Ziel" der laufenden Gegenoffensive der AFU. Selbst die hypothetische Rückeroberung von Artjomowsk (Bachmut) kann nicht als solches angesehen werden. Für die ukrainische Armee wäre das unmittelbare Ziel zumindest die Einnahme von Melitopol. Das ist eine Großstadt, im Gegensatz zu Siedlungen oder einer relativ kleineren Stadt. Wir können also mit Sicherheit sagen, dass die AFU im Zuge ihrer Gegenoffensive das unmittelbare Ziel nicht einmal annähernd erreicht hat. Aus diesem Grund lohnt es sich überhaupt nicht, über die "weiteren Ziele" der AFU zu spekulieren.
Theoretisch könnte dieses "weitere Ziel" die Niederlage der ersten operativen Staffel des Feindes sein, die Zerstörung seiner operativen und – in einigen Fällen – seiner strategischen Reserven sowie die Eroberung wichtiger Objekte und Gebiete beinhalten, um die Gegenoffensive in einen Sieg zu verwandeln. Für die AFU würde ein erfolgreiches Erreichen der weiteren Ziele der Gegenoffensive eine Rückkehr zu den Grenzen von 1991 bedeuten. Doch bisher bleibt dies für die militärische und politische Führung der Ukraine lediglich ein Traum. Folglich können wir sagen, dass die Gegenoffensive zwar lanciert wurde, die gesetzten Ziele aber nicht erreicht wurden.
Was ist schiefgelaufen?
Vor ein paar Tagen sagte der Verteidigungsminister der Ukraine Alexei Resnikow, dass die Operation der AFU "hinter ihrem Zeitplan liegt, aber nach Plan verläuft". Gleichzeitig fügte er hinzu: "Der wichtigste Wert für uns ist das Leben unserer Soldaten." Eine solche Aussage kann man in Wirklichkeit bloß als absurd bezeichnen.
Wenn eine Gegenoffensive geplant wird, werden zwar bestimmte Zeitpläne ausgearbeitet. Da wäre zum Beispiel der sogenannte Kampfkontrollplan bzw. die geplante Interaktionstabelle. Diese wird für jeden Operationstag zusammengestellt. Auch die Raketentruppen und die Artillerie haben einen Zeitplan für die Vorbereitung und den Angriff auf vorrangige Ziele. Aber zu behaupten, dass die Operation der AFU "hinter dem Zeitplan" liege, zeugt von einer gewissen operativen Ignoranz. Gleichzeitig sind Aussagen wie "Unsere Gegenoffensive geht langsam voran, weil wir unsere Leute schonen wollen" nur ein Versuch, das offensichtliche Scheitern der Gegenoffensive zu rechtfertigen.
Auch in der ukrainischen Expertengemeinschaft wird gelegentlich die Vorstellung geäußert, dass die AFU derzeit Operationen zur "Sondierung"und "Formation" durchführe. Das klingt eher wenig überzeugend. Erstens gibt es in der Theorie der operativen Kriegskunst keine "sondierenden" oder "formativen" Operationen. Es gibt nur Operationen mit kombinierten Waffengattungen, die auf der Ebene des Armeekorps beginnen. Wenn die Angriffe von Bataillonen oder Brigaden durchgeführt werden, unterscheidet sich dies nicht von regulären Kampfhandlungen. Die Streitkräfte der Ukraine führen also noch keine Operationen in eine dieser Richtungen durch. Basierend auf den Ergebnissen können ihre Angriffe als lokale Kämpfe charakterisiert werden, die zur Verbesserung der Truppenpositionierung durchgeführt werden, und nicht mehr.
Ukrainische Experten haben auch die Vorstellung geäußert, dass "wir langsam die Kräfte und Ressourcen des Feindes zermürben und früher oder später der Moment kommen wird, in dem die Verteidigung des Feindes entweder an einem wichtigen Punkt oder in mehreren Bereichen zusammenbrechen wird".
Wenn die Ukraine einen Krieg gegen einen kleinen Staat mit einer kleinen Bevölkerung und einem militärisch-industriellen Komplex mit begrenztem Potenzial führen würde, könnte sich ein solches Vorgehen früher oder später als wirksam erweisen. Aber gegen ein Land zu kämpfen, dessen Mobilisierungsfähigkeit die der Ukraine bei Weitem übertrifft, und gegen einen militärisch-industriellen Komplex, der rasant an Dynamik gewinnt, ist dies eine aussichtslose Strategie. Jeder einzelne Tag bringt die Ukraine der Erschöpfung ihrer eigenen Ressourcen näher. Kiew verliert Mannschaftsstärken und Ausrüstung, während die ukrainische Armee ihre knappen Munitionsvorräte aufbraucht.
Die militärisch-politische Führung der Ukraine hat wiederholt erklärt, dass noch nicht alle ausgebildeten Reserven in die Schlacht gezogen seien. Auch das klingt seltsam. Die Anzahl der Reserven, ihre Ausrüstung sowie das Niveau der Kampf- und Einsatzausbildung gehören zu den obersten Staats- und Militärgeheimnissen. Der rechtzeitige – und vor allem überraschende – Eintritt strategischer Reserven in eine Schlacht kann den gesamten Verlauf eines bewaffneten Konflikts verändern. Aber offen darüber zu reden ist, als würde man die Militärwissenschaft auf den Kopf stellen.
Was kommt als Nächstes?
Der Versuch der AFU, am vergangenen 4. Juni ohne Luft- und Feuerüberlegenheit eine Gegenoffensive zu lancieren, war von Anfang an ein seltsames Unterfangen. Unter den gegenwärtigen Umständen ist es unwahrscheinlich, dass die laufende Operation zu überzeugenden militärischen oder politischen Ergebnissen führen wird. Um die gut ausgerüstete Verteidigung Russlands zu durchbrechen, benötigt Kiew außerdem eine viel größere Anzahl an Raketen, Truppen, Artillerie, Panzer- und Pioniertruppen.
Das Scheitern der aktuellen Gegenoffensive der AFU wird auch zum Scheitern des gesamten Sommer-Herbst-Feldzugs der ukrainischen Armee führen, da es nach dem Verlust so vieler Soldaten und großer Anzahl an Ausrüstung kaum möglich sein wird, ein Offensivpotenzial vor dem Spätherbst oder sogar vor Beginn des Winters 2023/24 wiederherzustellen.
Damit die zweite Gegenoffensive der Ukraine ein Erfolg werden kann, muss Kiew viele Mehrzweckkampfflugzeuge erhalten, die Versorgung mit selbst fahrenden Artillerieeinheiten, Panzern und Kampfhubschraubern deutlich erhöhen und große Munitionsvorräte für Rohrartillerie und Mehrfachraketenwerfer beschaffen.
Zum jetzigen Zeitpunkt sieht es so aus, als ob die erste Gegenoffensive einem fruchtlosen Ende entgegengeht und die zweite nicht bald stattfinden wird. Insbesondere wird die Übergabe der ersten F-16-Kampfflugzeuge an die AFU frühestens im Winter erwartet. Daher ist es durchaus möglich, dass die zweite Gegenoffensive im Frühjahr nächsten Jahres beginnt. Die russische Armee wird in dieser Zeit jedoch nicht untätig bleiben und könnte eine eigene Offensive starten und dem Feind ihren Willen aufzwingen.
Abschließend möchte ich betonen, dass Prognosen im Allgemeinen ein erfolgloses Unterfangen sind, insbesondere langfristige Vorhersagen während laufender Militäreinsätze. Alle bedeutenden Kriegsereignisse kommen aus der Kategorie "unvorhersehbar". Dies bedeutet, dass sie für alle – und vor allem für die Expertengemeinschaft – unerwartet eintreten, aber sehr schwerwiegende Folgen haben. Im Verlauf von Feindseligkeiten können diese "Unvorhersehbarkeiten" nicht nur einzeln auftreten, sondern in ganzen Kaskaden hereinbrechen. Allerdings werden die Streitkräfte der Ukraine vor diesem Winter keine F-16-Kampfflugzeuge erhalten. Und ohne diese Kampfjets, bzw. in ungenügender Anzahl, wäre die Lancierung einer zweiten Gegenoffensive ein doppelt riskantes Unterfangen.
Aus dem Englischen.
Michail Chodarjonok ist Militärkommentator und Spezialist für Luftverteidigung. Als Oberst Ruhestand diente er vor seinem in der Hauptdirektion des Generalstabs der russischen Streitkräfte.
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