Von Dagmar Henn
Eigentlich ist das Interview, das der MDR mit ihm, dem thüringischen AfD-Vorsitzenden Björn Höcke führte, vollkommen langweilig. Die Hälfte der Zeit simuliert der Interviewer den nachbohrenden Journalisten, ausgerechnet bei der wirklich weltbewegenden Frage, in welchem Wahlkreis Höcke zur Thüringer Landtagswahl antreten werde. Sich wirklich auf die Felder zu begeben, auf denen Höcke die üblichen Vorwürfe gemacht werden, war wohl zu heikel.
Also fanden sich in der halben Stunde des Gesprächs – nicht durch Höckes Verschulden, der immerhin versuchte, etwa auf das Thema Energiearmut zu lenken – ganze zwei Sätze, die überhaupt einen politischen Inhalt boten. Etwa die Feststellung Höckes, im Bildungssystem fänden sich "Ausgangsbedingungen, die die Lehrer auch mit bestem Einsatz nicht mehr kompensieren können", und die Bemerkung:
"Unter anderem müssen wir das Bildungssystem auch befreien von Ideologieprojekten, beispielsweise der Inklusion, beispielsweise auch dem Gender-Mainstream-Ansatz."
Tatsächlich gibt es also nur die Bezeichnung von Inklusion als "Ideologieprojekt". Wobei Höcke damit noch ausgesprochen zaghaft ist, denn in Wirklichkeit handelt es sich um eine gut getarnte Sparmaßnahme, die das Bildungssystem für alle Beteiligten dysfunktional werden lässt. Aber dazu später mehr.
Inzwischen verbreitet sich die Empörung über alle Kanäle. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung wird vom Deutschlandfunk etwa sinngemäß zitiert, "gleichberechtigte Teilhabe an allen Lebensbereichen sei ein Menschenrecht und ein zentraler Wert der Demokratie. Wer Inklusion infrage stelle, greife die Demokratie an". Oder die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, die ihre Ministerpension als Bundesvorsitzende der "Bundesvereinigung Lebenshilfe" aufstockt, kommentiert:
"Dieses Recht infrage zu stellen, erachten wir als Tabubruch und schlicht als Skandal. Angesichts dieser menschenfeindlichen Haltung können wir nur ahnen, wie Herr Höcke mit Menschen mit Behinderung umgehen möchte."
In die gleiche Richtung äußerten sich Vertreter der Aktion Mensch, des VdK und auch der GEW. Und ja, Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2007 unterzeichnet und ist dadurch eine rechtliche Verpflichtung eingegangen, für gleichberechtigte Teilhabe zu sorgen.
Natürlich kann man sich auf dieser Ebene um das Thema streiten, wobei genau diese Art des Streits im Grunde bestätigt, dass Höcke recht hat. Denn der Streit wird eben ideologisch geführt und nicht unter Berücksichtigung der konkreten Situation.
In meiner Zeit im Münchner Stadtrat war die Inklusion noch eine politische Forderung. Man befasste sich mit Modellen etwa aus skandinavischen Ländern, in denen teilweise für jeden einzelnen Schüler eine Unterrichtsassistenz gestellt wurde, zumindest aber eine zweite Lehrkraft anwesend war, um die zusätzlichen Aufgaben zu bewältigen, die nun einmal entstehen, wenn Kinder mit allen möglichen Behinderungen, von Seh- oder Hörbehinderungen bis zu massiven psychischen oder kognitiven Störungen, am Unterricht teilnehmen. Das klang gut und weckte bei vielen, die sich der Schäden bewusst sind, die die permanente Konkurrenz und Auslese bei den Schülern wie in den Lehrplänen anrichtet, die Hoffnung, dass einige der im (west-)deutschen Bildungswesen tief eingegrabenen Fehlsteuerungen bei dieser Gelegenheit mit beseitigt werden könnten.
Aber wie das in den letzten Jahrzehnten bei so gut wie allen so edel klingenden Projekten ist, sah das Ergebnis völlig anders aus und hatte nichts, aber rein gar nichts mehr mit der erwarteten Verbesserung zu tun. "Gleichberechtigte Teilhabe" übersetzte sich bestenfalls in "gleiches Elend für alle", abgesehen von den Kindern jener, die für teure Privatschulen zahlen konnten, die selbstverständlich nicht dazu verpflichtet sind, dem Inklusionsansatz zu folgen und sich ihre Schüler selbst aussuchen können.
Die Wahrheit ist konkret. Die Wahrheit über die "Inklusion" ist, dass die Umsetzung jeder Erwartung Hohn spricht. Hoch spezialisierte Einrichtungen, beispielsweise für Blinde, wurden aufgelöst; die Lehrkräfte irgendwie verteilt, um Lücken im Personal stopfen zu helfen, während die "Inklusionsklassen" nach wie vor so übergroß blieben, wie die Schulklassen in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern seit Jahrzehnten sind, nur dass nun in diesen großen Klassen auch noch Schüler sitzen, die einen besonderen Förderbedarf haben, aber nicht bekommen.
So werden etwa Kinder mit diagnostiziertem Autismus in normale Klassen gesetzt, was kein Problem sein müsste. Doch die Lehrer, die diese Klassen betreuen, kennen nicht einmal die Richtlinien der Kultusministerkonferenz zum Umgang mit autistischen Schülern und reagieren deshalb auf das erwartbare Verhalten mit ganzen Stapeln von Schulstrafen. Kinder mit motorischen Einschränkungen können froh sein, wenn sie die Pausen nicht im Klassenzimmer verbringen müssen. Es ist nicht nur für die "normalen" Kinder eine Katastrophe. Die "behinderten" Kinder haben die gesamte Struktur, die einmal aufgebaut wurde, um ihnen Zugang zur Bildung zu ermöglichen, verloren, ohne dass irgendetwas an ihre Stelle getreten ist.
Inklusion wurde nicht nur damit begründet, dass es Kindern mit Einschränkungen ermöglicht wird, als normaler Teil der Gesellschaft aufzuwachsen, statt in einem abgesonderten Spezialbereich. Sie wurde auch damit begründet, dass der Umgang mit Behinderungen normal werden soll, dass das gemeinsame Erleben auch die Akzeptanz erhöhen würde. Was aber ist das tatsächliche Ergebnis?
In einer Situation, in der – bedingt durch den Lehrermangel – größere Teile des Unterrichts ausfallen, also nicht einmal eine zweite Lehrkraft für die Klasse möglich ist – von Unterrichtsassistenz ganz zu schweigen –, in der sich das Hauptziel des deutschen Bildungswesen keinen Zentimeter von der Aufgabe entfernt hat, möglichst viele vor höheren Abschlüssen scheitern zu lassen, und alles, was es sich leisten kann, an die wuchernden Privatschulen flieht, sorgt diese Art der Inklusion mitnichten für eine höhere Akzeptanz der behinderten Klassenkameraden, sondern für das genaue Gegenteil. Sie werden zum Ziel einer massiven Ablehnung. Wie auch nicht? Wir reden von Kindern. Und wie viele Lehrer stellen sich schon vor die Klasse und erklären ihren Schülern, dass sie die Opfer von gut getarnten Sparplänen geworden sind und die Mitschüler, die den Unterricht zu stören scheinen, nichts dafür können?
Das, was "Inklusion" in Deutschland wirklich bedeutet, ist gewissermaßen ein Musterbeispiel für das Verhältnis zwischen politischen Aussagen und Beschlüssen und der dadurch geschaffenen Wirklichkeit. So ähnlich, wie die "Transparenz", die als Begründung für europaweite Ausschreibungen diente, am Ende die Zerstörung kleinerer Handwerksbetriebe betrieb, oder wie der "Klimaschutz" gerade völlig bewohnbare Wohnungen unbewohnbar macht.
So nett und edel und menschlich die Aussagen all jener klingen, die sich auf dieses winzige Höcke-Zitat stürzen, um jetzt vehement den vermeintlichen Zweck der "Inklusion" zu verteidigen, die keine ist, so sehr machen sie sich damit zum Komplizen des Verbrechens, das dadurch an allen betroffenen Kindern und Jugendlichen – allen voran an den vermeintlich begünstigten Behinderten – begangen wird. Jedes Mal, wenn ich Berichte aus heutigen Schulen lese oder höre, schlage ich selbst als eingefleischte Atheistin drei Kreuze und freue mich ganz unanständig, dass ich keine Kinder habe, die jetzt noch die Schule besuchen.
Wenn man ein wenig Verschwörungstheorie treiben will, könnte man sagen, dass die "Inklusion" ein hervorragendes Hilfsmittel ist, um das öffentliche Schulwesen in Deutschland endlich so weit zu zerschlagen, dass sich ein großer Markt für Konzerne wie Bertelsmann (nicht zu vergessen die Kirchen) öffnet, die dadurch ihre Privatschulen füllen. In den letzten 30 Jahren hat sich die Zahl der Privatschulen in Deutschland trotz insgesamt fallender Schülerzahlen fast verdoppelt. Konfessionsschulen, die noch vor dreißig Jahren ein aussterbendes Modell zu sein schienen, blühen auf, weil der Migrantenanteil dort niedrig ist. Die "Inklusion" hat nur einen weiteren Reiz gesetzt, um diese Tendenz zu fördern. Das Ergebnis ist ein sinkendes Bildungsniveau für die breite Masse und die Etablierung eines Klassenschulsystems (bezogen auf soziale Klassen) wie in Großbritannien oder den USA, wo sich die "bessere Gesellschaft" in einem separaten Privatschulsystem reproduziert.
Und es besteht keinerlei Aussicht auf Besserung, denn es gibt stetig neue Abenteuer oder wichtigere "Werte", seien es nun Corona, der Krieg gegen Russland oder der "Klimaschutz", deren Zugriff auf die staatlichen Ressourcen wichtiger ist.
Es wäre schön gewesen, hätten die Vertreter der Sozialverbände nicht zu der einfachen Option gegriffen, auf Höcke einzuprügeln, weil der die praktizierte "Inklusion" ein "Ideologieprojekt" genannt hat. Sie hätten sagen können, sie seien nach wie vor für Inklusion, die Aussage Höckes entspreche aber leider so lange der Realität, solange die erforderlichen Ressourcen nicht zur Verfügung gestellt würden. Aber sie blickten vermutlich auf ihre eigenen Stellen und entschieden sich, weiter so zu tun, als sei alles in Ordnung.
Und es ist ja auch nützlich, wenn Eltern und anderen Betroffenen wieder einmal signalisiert wird, dass jede Kritik an der Praxis der Inklusion "voll Nazi" sei. Würde nämlich das eingefordert, was ursprünglich versprochen wurde, hätten die amtierenden Politiker ein Problem. So kann man die gesamte Debatte auf einer hübsch abstrakten Ebene halten und viele davon abschrecken, überhaupt noch Kritik zu äußern – besonders die Lehrer, die dafür bekannt sind, leicht einzuschüchtern zu sein, insbesondere, seit viele von ihnen gar nicht mehr verbeamtet werden und jederzeit ihre Vertragsverlängerung fürs nächste Schuljahr verlieren können.
Höcke war viel zu harmlos. Wenn man betrachtet, wie erbarmungslos die Corona-Maßnahmen den Kindern gegenüber waren (zugegeben massiv gestützt von der opportunistischen Lehrerschaft), sieht das Bildungssystem so aus, wie es eben aussieht, wenn eine Gesellschaft ihre Kinder, ihre Zukunft verachtet und jedes Gewinnstreben, jeder Egoismus wichtiger sind als deren gesundes Heranwachsen. Alle Kinder sind Opfer dieser Heuchelei, die großzügig humane Phrasen verteilt, am Ende aber die Voraussetzungen für ihre Realisierung verweigert.
Übrigens, nur als Erinnerung – das finnische Schulsystem, das auch im Zusammenhang mit Inklusion als großes Vorbild hingestellt wurde – damals, ehe die konkrete Umsetzung zuschlug –, war immer nur eine Kopie eines anderen deutschen Bildungssystems, desjenigen der DDR. Das hatte zwar weitaus weniger Zugangsberechtigungen für die Universitäten produziert als das heutige (west-)deutsche, hatte aber für die ganze Schulzeit den Ansatz, dass die Schüler sich gegenseitig helfen und nicht einander als Konkurrenten sehen. Und das versorgte außerdem noch jeden Abiturienten mit einer Berufsausbildung.
Inzwischen steigt die Zahl der Jugendlichen, die im heutigen Deutschland weder in Ausbildung noch in Arbeit sind, stetig weiter und liegt inzwischen bei 630.000. Es gibt viele Arten, wie eine Nation ihre Zukunft vernachlässigen kann, in Deutschland sind so gut wie alle im Einsatz. Und für diese politisch erzeugten oder zumindest nicht bekämpften Probleme gibt es nach wie vor nur eine einzige Antwort: mehr Migration. Obwohl alle Beteiligten wissen, dass diese Lösung nicht funktionieren kann, weil auch dafür gar nicht die Bereitschaft besteht, mehr als unbedingt nötig in Bildung zu investieren. Von der Kinderverhinderungspolitik wollen wir gar nicht erst reden.
Egal, seit dem Einsetzen der neoliberalen Phase scheint es – wenn man auf die Ergebnisse und nicht auf das Werbegewäsch blickt – nur ein einziges Ziel in der deutschen Politik zu geben: den Lebensstandard der Masse der Bevölkerung immer weiter zu senken. Und auch der Zugang zu guter Bildung ist ein Teil dieses Lebensstandards, ebenso wie bezahlbare Wohnungen; Dinge, die einmal in beiden Teilen des Landes weitgehend zu haben waren. In diesem Zusammenhang ist die "Inklusion" eindeutig ein ideologisches Projekt. Und zwar das Projekt einer Ideologie, die das Ziel verfolgt, diejenigen, die unten sind, noch tiefer nach unten zu treten, damit die Wenigen, die oben sind, noch weiter nach oben steigen können. Um das zu erkennen, muss man allerdings den Blick streng nicht auf die moralisierenden Begründungen, sondern auf die materiellen Ergebnisse richten. Die Wahrheit ist konkret.
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