Von Dagmar Henn
David Axe könnte fast als Modell für die westlichen Kommentatoren zum Krieg in der Ukraine dienen. Eigentlich Autor und Comiczeichner, aber wütender Russophobiker, gilt er Forbes wie auch dem britischen Daily Telegraph als Militärkommentator.
In anderen Artikeln schreibt er, die Ukraine hätte alle vier Brigaden Marineinfanterie konzentriert, um den Ort Uroschainoje im Gebiet Donezk anzugreifen. Seine besondere Fähigkeit besteht darin, an manchen Stellen die Wirklichkeit korrekt zu beschreiben, und an anderen dann zu völligen Fantasien überzugehen. Ein Beispiel: seine Beschreibung der bisherigen zwei Monate ukrainischer Offensive.
"Nach zwei Monaten ihrer lang erwarteten Gegenoffensive müssen die ukrainischen Truppen noch immer 50 Meilen vorrücken, um Mariupol zu erreichen. Für Truppen einer Gegenoffensive, die nur einige hundert Meter pro Woche vorankommen, sind 50 Meilen ein weiter Weg."
Zwar bestätigt er die Existenz von Videos, die ausgebrannte Fahrzeuge in Uroschainoje zeigen, und das Dorf selbst ist noch nicht einmal von den ukrainischen Truppen eingenommen. Darüber hinaus haben sich alle heftiger umkämpften Orte in den vergangenen Wochen in Westentaschenausgaben des Fleischwolfs von Bachmut verwandelt, was die Aussichten der dort eingesetzten ukrainischen Truppen betrifft. Aber trotz alledem verbreitet Axe Optimismus:
"Die Ukrainer bereiten schon das Schlachtfeld für den Kampf vor, der nach der Schlacht um Uroschainoje kommt – vermutlich ein Angriff in Richtung Sawitne Baschannja, der nächste Ort im Süden."
Und dann, so der Unterton des gesamten Artikels, stünden die Ukrainer eigentlich schon fast in Mariupol.
Im Grunde könnte man Axe also getrost im Ordner "wahnhafte westliche Propagandisten" ablegen. Er hat auch keine Verbindungen in die Blase der Neokons in Washington – im Gegensatz zu einigen anderen Autoren, beispielsweise aus dem Institute for the Study of War. Aber wenn er gedanklich eine Grenze überschreitet und weitere Eskalation fordert, besagt das vielleicht noch mehr, als wenn das aus der Neokon-Blase ertönt, von der man kaum anderes erwartet. Und wenn eine britische Zeitung das so veröffentlicht, besagt es etwas über das Denken innerhalb des britischen Mainstreams.
Was aber Axe in seinem letzten Artikel im Telegraph geschrieben hat, ist wirklich gruselig. Es zeigt, dass der Verlust an Rationalität, der durch die jahrelange Dämonisierung Russlands und seiner Führung verursacht wird, inzwischen brandgefährliche Folgen hat.
Der Artikel fängt an mit der Prämisse, Dmitri Medwedew sei derjenige, der all die Sätze aussprechen müsse, die Putin selbst nicht zu sagen wage. Dann wird Medwedew unterstellt, er habe "zum x-ten Mal" mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. "Und wenn wir Medwedews Furcht riechen – das Gefühl, das jede Silbe seiner apokalyptischen Äußerungen durchdringt – können wir wittern, wie es auch von Putin ausgeht."
Furcht? Warum sollte Putin sich fürchten? Und was hat dieses Gefühl überhaupt in Regierungsgeschäften verloren? Nun, wir sind hier tief in der westlichen Propagandawelt, wo ein einsamer Diktator Putin sämtliche Entscheidungen alleine fällt und auf diese Weise alle geopolitischen Entscheidungen als vergrößerte Emotionen gelesen werden statt als Resultat von Überlegung und Interessen.
"Medwedew fürchtet sich, weil Putin sich fürchtet. Und Putin fürchtet sich, weil nach 18 Monaten des größeren russischen Angriffs auf die Ukraine, seine Armee von mehr als einer Million die ukrainische Armee immer noch nicht schlagen kann, die halb so groß ist und weniger von allem hat."
Axe ist durchaus geschickt, das muss man ihm lassen. Er dreht eine gescheiterte Offensive in einen Sieg, weil die russische Armee noch nicht in Kiew steht. Aber das ist nicht das, was diesen Artikel besonders macht; es ist nur eine weitere Variante der "kriechenden", der "vorsichtigen" Offensive, zwei Zentimeter vor der Frontbegradigung.
Er zitiert eine Bemerkung Medwedews, die unverkennbar einen ironischen Ton hat:
"Stellen Sie sich vor, die .. von der NATO unterstützte Offensive wäre ein Erfolg und sie brächen ein Stück aus unserem Land. Dann wären wir gemäß den Regeln eines Dekrets des russischen Präsidenten verpflichtet, Atomwaffen einzusetzen. Es gäbe schlicht keine andere Option. Also sollten unsere Feinde für unsere Kämpfer beten. Sie sorgen dafür, dass das globale nukleare Feuer nicht entzündet wird."
Medwedew weist nur auf die russische Nukleardoktrin hin, die greift, sobald die Existenz des russischen Staates bedroht ist. Und da die im Westen gehegten Pläne, Russland zu zerschlagen, auch in Moskau mitgelesen werden, wäre ein Sieg der NATO, mit oder ohne ukrainische Teilstreitkräfte, eine Bedrohung dieser Existenz.
Nichts davon ist neu oder ungewöhnlich, und weder die militärischen, noch die wirtschaftlichen oder politischen Daten weisen darauf hin, dass diesen Plänen in absehbarer Zeit Erfolg beschieden sein könnte. Im Gegenteil, die Ironie, die Medwedew einsetzt, verweist eigentlich auf große Zuversicht; in ernster Bedrängnis ist man nicht mehr ironisch.
Nun kommt aber der Punkt, wo Axe eine gefährliche Wendung nimmt:
"Er blufft. Denn er und sein Boss fürchten sich, und weil der Bluff alles ist, was sie noch haben, während Russlands verhängnisvoller größerer Krieg sich durch seinen 18. Monat frisst, ohne ein Zeichen, dass die Ukraine oder ihre Verbündeten aufgeben. Würde er nicht bluffen, wüssten wir das. Wir wüssten das, weil wir – nun, vielleicht eine verschwindende Handvoll von uns – bereits in einer verstrahlten, post-apokalyptischen Wüstenei leben würden."
Axe behauptet also, Russland würde ohnehin nie Atomwaffen einsetzen, auch dann nicht, wenn die Kriterien der Nukleardoktrin dies sagten, weil dieser Einsatz sonst bereits stattgefunden hätte. Das ist verrückt, weil diese Kriterien klar und verständlich sind und weit und breit keine russische Niederlage in Sicht ist. Aber worauf er eigentlich hinaus will, ist etwas völlig anderes.
"Die ganze Zeit über haben ukrainische Raketen, Drohnen, Saboteure und Attentäter russische Beamte getötet, russische Kampfflugzeuge abgeschossen, russische Kriegsschiffe versenkt und militärische Ziele im russischen Luftraum, in russischen Gewässern und auf russischem Boden in die Luft gejagt."
Weil Russland auf den blanken Terrorismus der Ukraine, so übersetzt sich dieser Satz, nicht mit Atombomben reagiert hat, muss es ein Bluff sein.
"Putin hat damals keine Atombombe gestartet. Und er wird es jetzt nicht tun. Denn so bösartig, feige und grausam Putin ist, er ist nicht verrückt. Und er will nicht in dem Vergeltungsschlag sterben, der mit Sicherheit auf jeden nuklearen Angriff auf die Ukraine folgen würde."
Axe ist natürlich zu jung, um sich an den Kalten Krieg und die gegenseitig zugesicherte Zerstörung (Mutually Assured Destruction, MAD) zu erinnern; aber er hätte auch das Verhalten der Sowjetunion falsch gelesen. Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen dem Wissen um die Folgen eines Einsatzes nuklearer Waffen und einer daraus resultierenden Vorsicht und dem Bluff, den Axe darin sieht, wenn auch nur an diese Gefahr erinnert wird.
Denn natürlich besteht diese Gefahr. Insbesondere, weil die gesamte NATO in Wirklichkeit gerade dabei ist, zu verlieren, und in den Führungsetagen der westlichen Länder sowohl Verantwortungsgefühl als auch analytische Fähigkeiten gerade dünn gesät sind. Sprich, man findet massenhaft Leute, die sich der Konsequenzen ihrer Handlungen entweder überhaupt nicht bewusst sind oder sie schlicht ignorieren. Eine Situation, die Axe mit seiner Erzählung von "Putins Furcht" vollständig in ihr Gegenteil verkehrt.
"Und selbst wenn es ein Stück Wahnsinn in Putins wachsender Verzweiflung gibt, sollten die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Alliierten sich nuklearen Drohungen nicht beugen. Wenn Putin schlicht, durch Medwedew, das Wort 'nuklear' sagen und seinen Willen bekommen würde, würde er die ganze Zeit 'nuklear' sagen – und seine Truppen durch Osteuropa marschieren lassen, beschirmt von den atomaren Drohungen ihres Anführers."
Hier ist des Pudels Kern. Und auf die wirkliche Welt umgesetzt, ist das wirklich unheimlich. Was Axe hier fordert, ist nämlich, die Gefahr eines atomaren Krieges komplett zu ignorieren, weil die NATO sich sonst "nuklearen Drohungen beugen" würde. Sprich, bei Überlegungen, ob in der Ukraine oder andernorts weiter eskaliert wird, solle das Risiko eines Atomkriegs schlicht übergangen werden. Denn entweder sei das sowieso nur ein russischer Bluff, oder es wäre ohnehin egal, denn:
"Wenn ich Unrecht habe, dann war Putin nach jeder Niederlage bereit, die Welt zu beenden. Und wenn diese Niederlage nicht in der Ukraine kommt, dann kommt sie womöglich irgendwo anders. Was hieße, dass Armageddon seit 1999 unvermeidlich gewesen ist."
Der Kern der ganzen Theorie der zugesicherten wechselseitigen Zerstörung war die Annahme rationaler Akteure auf beiden Seiten. Die Gedankenfolge, die Axe hier liefert, hat mit jener Vorstellung rationaler Akteure nichts mehr zu tun. Er glaubt bedingungslos der eigenen Propaganda, die sich nach Kräften müht, ein äußerst (manchmal schmerzvoll) rationales russisches Handeln in irgendeine Form von Wahn zu verwandeln. Und dann diesen selbst konstruierten Wahn in eine Begründung wandelt, warum die NATO die Regeln von MAD verlassen müsse, die vorgeben, eine nukleare Eskalation zu vermeiden, denn die Russen würden entweder nur bluffen, oder es sei ohnehin egal.
Es gibt eine ganze Reihe von Überlegungen, die immer mal wieder aus den Kreisen auftauchen, die in der NATO so vor sich hin denken. Das reicht von einem Einsatz polnischer Truppen in der Ukraine bis zu einer Seeblockade in der Ostsee oder gar im Schwarzen Meer. Was all diese "Vorschläge" miteinander verbindet, ist, dass sie bedenkenlos auf eine völlige Eskalation hin zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland setzen.
Wobei das Risiko, dass eine zu sichtbar bedrängte NATO oder, noch schlimmer, sichtbar bedrängte USA, in einem solchen Fall eine nukleare Eskalation starten, weitaus höher ist, als dass Russland das tut. Aber wird die Schwelle einmal durchbrochen, läuft der Rest automatisch. Weshalb es von zentraler Bedeutung ist, dass diese Gefahr von allen möglichen Beteiligten einer solchen Auseinandersetzung ernst genommen wird.
Dieser kleine, scheinbar unschuldige Artikel von Herrn Axe ist Beleg dafür, dass der Respekt vor dieser Gefahr im Westen gewaltig im Schwinden begriffen ist. Im Gegenteil, das Risiko kann man eben mal eingehen, auf Grundlage einer irrwitzigen Psychologisierung eines handfesten Interessenkonflikts.
Es muss nicht verwundern, dass in einer Gesellschaft, in der die Nachrichtensendungen Kinder verteufeln, weil sie Krankheiten bringen und Kohlendioxid ausatmen, der Respekt selbst vor dem Leben der gesamten Menschheit schwindet; in dieser Hinsicht dürfte Axe ein typisches Exemplar seiner Generation sein. Aber über einen Atomkrieg nicht einmal deshalb zu spekulieren, weil man fälschlicherweise glaubt, berechnet zu haben, dass man gut davonkommen könnte, wie es das in den 1980er Jahren gab, sondern weil es irgendwie sowieso egal ist, ob es die Menschheit gibt oder nicht, das ist eine ganz neue Form der Bedrohung. Nihilisten sollten auf keinen Fall auch nur in die Nähe solcher Waffen kommen. Wenn man Axe liest, hat man den Eindruck, dass es dafür bereits zu spät ist.
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