Von Mirko Lehmann
Der Schweizer Jacques Baud hat ein herausragendes, äußerst lesenswertes und ausgesprochen gut geschriebenes Buch zum Krieg in der Ukraine und zur Konfrontation zwischen Russland und dem Westen vorgelegt, das vor kurzem in deutscher Übersetzung im Westend Verlag erschienen ist. Wer sich einen fundierten Überblick über die Geschichte und Struktur des Ukraine-Konflikts verschaffen möchte, kommt an der Darstellung von Jacques Baud nicht vorbei.
Auf 320 Textseiten beschäftigt sich der Schweizer Sicherheitsexperte mit den im Westen verbreiteten Annahmen und Thesen über das Russland unter Präsident Putin. Dabei nimmt der Autor nicht nur die internationale Politik und Russland unter die Lupe, sondern auch die Verhältnisse in der Ukraine, in Weißrussland und anderen postsowjetischen Staaten, soweit dies für ein besseres Verständnis des aktuellen Geschehens notwendig ist.
Ehemaliger Geheimdienstler und Diplomat
Hat Jacques Baud ein "pro-russisches" Buch geschrieben? Nein. Verbreitet der Schweizer Nachrichtendienstler a.D. Kremlpropaganda? Keineswegs. Baud, Ökonom und Spezialist für Internationale Sicherheit und Internationale Beziehungen, war in seiner aktiven Zeit beim Schweizer Strategischen Nachrichtendienst für die Staaten des Warschauer Vertrages zuständig. Seine Karriere führte ihn bis zu den Vereinten Nationen in New York, wo er den Bereich für friedenserhaltende Operationen leitete. Schließlich arbeitete Jacques Baud bei der NATO in Brüssel, in deren Auftrag er an Missionen in der Ukraine teilnahm.
Bauds jahrzehntelange Erfahrung in Geheimdienst- und sicherheitspolitischen Expertenkreisen hat ihn prädestiniert, eine nüchterne Analyse des aktuellen Konflikts vorzulegen. Als Ökonom nähert sich Baud der Fragestellung mit dem nötigen klaren Blick für konkrete Interessen und objektive Gegebenheiten, ohne zynisch über das Leiden der Völker hinwegzusehen. Mit "dem Blut anderer Krieg zu führen" sei "einfach", wie er eingangs feststellt. Was Baud in Buchform vorlegt, ist eine Expertise, wie man sie sich im günstigsten Fall für die Entscheider auf politischer, militärischer und ökonomischer Ebene nur wünschen kann. In gedrängter Form liefert der Verfasser eine ganze Reihe von, man könnte sagen, Mini-Dossiers zu den zahllosen Konfliktpunkten, die zwischen dem Westen und Moskau in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten entstanden sind. Exemplarisch seien für diese Art von Realitätsabgleich einige Fragen genannt:
- "Gab es ein Versprechen, dass sich die NATO nach 1990 nicht nach Osten ausdehnen würde?"
- "War das russische Eingreifen in Syrien opportunistisch?"
- "Hat Putin die Zwangsumleitung des Ryanair-Flugs 4978 gutgeheißen?"
- "Hat sich Russland zum Nutzen von Donald Trump in die amerikanische Präsidentschaftswahl 2016 eingemischt (Russiagate)?"
- "Hat Russland versucht, die Abstimmung zum Brexit zu beeinflussen?"
- "Was hat die Rede von München im Jahr 2007 zu bedeuten?"
- "Wollte Wladimir Putin ein Assoziierungsabkommen der Ukraine mit Europa verhindern?"
- "Erfüllt Russland seine Verpflichtungen im Rahmen der Minsker Abkommen nicht?"
- "Ist Nawalny der wichtigste Opponent Wladimir Putins?"
- "Lässt sich die russische mit der italienischen Wirtschaft vergleichen?"
- "Ist die westliche Strategie in Bezug auf Russland zielführend?"
Wie diese kleine Themenauswahl zeigt, liest sich das Buch von Jacques Baud wie eine komprimierte Einführung in die Geschichte der jüngsten Beziehung zwischen Russland und dem Westen seit dem nur scheinbaren Ende der Blockkonfrontation. An dieser Stelle sei die ausgezeichnete Übersetzung hervorgehoben, die die komplizierte Materie in ein klares, flüssiges Deutsch gebracht hat.
Wie gesagt, war Baud bei den Vereinten Nationen verantwortlich für Friedensmissionen. Sein Interesse ist auf die Lösung von Konflikten, auf die Beendigung von Gewalt gerichtet – nicht auf Eskalation oder Verlängerung eines Krieges. Baud ist darum bemüht, die Ursachen einer Krise wie jener in der Ukraine zu ergründen und zu deren Überwindung beizutragen. Als Schweizer Diplomat alter Schule beschäftigt sich Baud zu diesem Zweck mit den widerstreitenden Standpunkten der Staaten. Heute noch von Interessen zu sprechen, gilt beinahe als unfein. Denn allenthalben ist im US-dominierten Westen nur noch von vermeintlichen Werten die Rede, womit je nach Opportunität die gerade durchzusetzenden Interessen verbrämt werden.
Rolle der Vorurteile
Was die gegenläufigen Interessen und deren Durchsetzung betrifft, so geht der Titel des Buches auf eine französische Fernsehsendung zurück, die bereits im Oktober 2021 ausgestrahlt wurde. Unter dem Titel "Putin, Herr des Geschehens", allerdings ohne ein Fragezeichen. Ob und inwieweit dieses gängige Urteil über Putin zutrifft, scheint für Baud die Frage zu sein.
Mit seinem Buch verfolgt Baud hauptsächlich zwei Ziele. Er will aufzeigen,
- dass unsere Vorurteile nicht der Realität entsprechen; und
- dass Entscheidungen, die auf unseren Vorurteilen beruhen, das Gegenteil von dem bewirken, was wir eigentlich wollen."
Der international renommierte Sicherheitsexperte spielt damit, nicht zuletzt aufgrund seiner Kenntnis der Binnenverhältnisse der "Dienste", auf das Phänomen an, dass beispielsweise westliche Führungskräfte in Politik und Medien inzwischen fast ausschließlich solche Positionen akzeptieren, die sich mit ihren eigenen Prämissen decken.
Baud rückt ein gängiges Vorurteil über Nachrichtendienste zurecht: Die Berichte und Analysen, die die Dienste für politische Entscheider produzieren, würden "zu fast 95 Prozent mit offenen Informationsquellen, also mit unseren Medien" erstellt – und eben nicht aus geheimen Quellen, wie oft angenommen wird. Aus diesem Grund verfügten, so Baud, die Medien über einen "strukturellen Einfluss" auf die Entscheidungsträger in der Politik. Dies ist der Grund, weshalb der Fokus von Bauds Untersuchung auf der Darstellung Russlands in den westlichen Medien liegt.
Beschränktheit enger Zirkel
Allerdings haben sich, so Baud, über viele Jahre Strukturen herausgebildet, die sich selbst verstärken. Diese Mechanismen wirken in Stiftungen, Denkfabriken, wissenschaftlichen Institutionen, Regierungsstellen und eben in den Medien. Dies bedeute nicht, dass keine abweichenden kritischen Meinungen in den jeweiligen Apparaten mehr zu finden seien. Doch solche Ansichten gelangten nicht bis ganz nach oben zu den Entscheidern. Innerhalb der Einrichtungen würden so die jeweils eigenen Grundannahmen bestärkt und abweichende Positionen aussortiert. Auf diese Weise verstärkten sich bestimmte Selbst- und Fremdbilder innerhalb einer Institution zunehmend. Insbesondere wenn Geld, Macht und Prestige mit im Spiel seien. So würden auch Presse, Geheimdienste und Politik sozusagen Opfer selbst gehegter und gepflegter Stereotypen. Diese neue Art von déformation professionelle erscheine zunächst nur borniert, habe inzwischen aber äußerst bösartige und (selbst-)zerstörerische Züge angenommen. Vonseiten des Staats seien zunehmend Versuche zu beobachten, Konformität und offizielle Deutungshoheit auch mit repressiven Mitteln durchzusetzen.
Besonders augenfällig wurde dieses weitgehende, geradezu systemische Versagen der etablierten Medien, der Regierungspolitik sowie der Politikberatung wie auch der Wissenschaften seit dem Februar 2022, wenn auch nicht allein in Deutschland und nicht erst seit diesem Zeitpunkt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die fortgesetzten Diffamierungen dissidenter Ansichten und sogar (arbeits-)rechtlichen Maßnahmen gegen Wissenschaftler und Publizisten wie Ulrike Guérot, Daniele Ganser oder Gabriele Krone-Schmalz und Patrik Baab, die keine stromlinienförmig angepassten transatlantischen Positionen vertreten.
Vergleichsperspektive
Ein Vorzug der Darstellung von Jacques Baud, der aus der französischsprachigen Schweiz stammt, besteht darin, dass er sich ausschließlich auf westliche, vorwiegend auf französischsprachige Quellen stützt, also auf Nachrichten, Fernsehberichte, Talkshows und Kommentare oder Aufsätze aus Frankreich, der französischen Schweiz oder auch Belgien. Hinzu kommen US-amerikanische und britische Medien sowie einige russische, weißrussische oder bulgarische Materialien von prowestlichen Medien in der Ukraine oder Instituten in Russland beziehungsweise von westlichen Auslandssendern. Baud hat auf diese Weise ein äußerst vielfältiges Material verarbeitet, weshalb seine Aussagen eine solide Grundlage haben.
Jacques Baud pflegt, wie bereits angedeutet, eine klare Sprache. So scheut er in seiner Arbeit nicht vor Begriffen wie "Lüge", "Propaganda" oder "Verschwörungstherie" zurück. Allerdings nicht ohne sie vorab zu definieren.
Viele von den Beispielen, die Baud aus Frankreich anführt, werden die deutschen Leser auf geradezu frappierende Weise an die stereotype Russland-Berichterstattung hierzulande erinnern. In der negativen Bewertung über "Putins Russland" ist sich der französische Mainstream mit dem deutschen offenbar erstaunlich einig. Sehr ähnlich sind auch die journalistischen oder sollte man eher sagen propagandistischen Methoden des Framings. Auch wenn dem deutschen Leser die einzelnen französischen Sendungen oder Namen von Journalisten nicht unbedingt etwas sagen, lässt sich doch leicht ein Muster der Meinungslenkung erkennen, wie es auch von den deutschen Verhältnissen her bekannt ist.
Notwendiges Hintergrundwissen
Um Ordnung in das Geflecht von Klischees, tatsachenwidrigen Prämissen und abwegigen Projektionen zu bringen, die den westlichen Vorstellungen über das gegenwärtige Russland oft zugrunde liegen, nähert sich Baud dem Material in sieben Kapiteln. Diese beschäftigen sich mit
- der Außenpolitik unter Putin;
- der russischen Spionage und russischen Destabilisierungsversuchen;
- der Funktion der russischen Energieexporte und der Energiekrise von 2021;
- der Bedrohung Europas und besonders der Ukraine durch Russland;
- der russischen Innenpolitik und der Lage der Opposition unter Putin;
- den westlichen Reaktionen und Strategien gegenüber Putin; sowie
- Schlussfolgerungen über die Rolle Putins und von Vorurteilen.
Seine Darstellung unterfüttert Baud wie gesagt minutiös mit Belegen aus (pro-) westlichen Quellen. Zwar handelt es sich um kein im strengen Sinne wissenschaftliches Werk, doch belegt Baud seine überaus materialreiche Analyse mit einem Anmerkungsapparat, der auf mehr als 40 eng bedruckten Seiten 838 Endnoten umfasst.
Jacques Baud wurde bereits von den NachDenkSeiten zu einem Vortrag mit anschließender Diskussion eingeladen. Zudem wurde er kürzlich von Milena Preradovic in ihrer Sendung Punkt.Preradovic interviewt. Diese Videos geben einen guten Eindruck von dem Ansatz, mit dem sich Baud seiner Fragestellung und den einzelnen Themen nähert.
Gruppe Wagner
Aus aktuellem Anlass sei hier auf das Unterkapitel über die Gruppe Wagner verwiesen. Die französische Originalausgabe des Buches erschien im ersten Halbjahr 2022, also gut ein Jahr vor der sogenannten Meuterei Jewgeni Prigoschins im Juni 2023 und damit auch lange vor den aktuellen Spannungen in und um Niger. Baud diskutiert den Umgang der französischen Medien im Jahr 2021 mit der Existenz und Präsenz von Personal der Gruppe Wagner in Mali. Das französische Außenministerium habe diesbezüglich eine "beispiellose Propagandakampagne gegen Russland" organisiert. Doch der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian habe für seine Vorwürfe und Behauptungen an die Adresse Wagners keinerlei Beweise vorlegen können. Dennoch seien die Anschuldigungen von der französischen Presse aufgegriffen worden. Unter anderem hatte Le Drian, so Baud, behauptet, Wagner-Einheiten hätten in der Zentralafrikanischen Republik "Finanzmittel des Staates" beschlagnahmt.
Weiter führt Baud aus, dass kurz darauf die Außenministerin der Zentralafrikanischen Republik im französischen Fernsehsender TV5 Monde ihrem französischen Amtskollegen deutlich widersprochen und alle Anschuldigungen zurückgewiesen habe. Frankreich sei bestrebt, ihr Land, wie sie sich ausdrückte, "zu infantilisieren". Und weiter: Die Aussagen von Le Drian seien "diffamierend und erlogen", Frankreich führe einen "Informationskrieg" gegen ihr Land. In der französischen Öffentlichkeit sind Le Drians Anschuldigungen in Erinnerung gehalten worden. So stellt Jacques Baud fest:
"Die Anwesenheit von Wagner in Afrika scheint eher ein Problem für Paris als für die Afrikaner zu sein. Denn in Zentralafrika hat das Parlament den Russen für ihren Einsatz seine Dankbarkeit bekundet. Und die Regierung hat ein Ehrenmal für die Truppen errichtet."
Schlussfolgerungen
Jacques Baud hält dem Westen, aber auch der vermeintlich neutralen Schweiz, den Spiegel vor. Er beklagt die Abwesenheit von Diplomatie und die unverantwortliche Ost-Erweiterung der NATO. Der Westen sei Opfer der "unversöhnlichen Haltung" seiner "Experten" gegenüber Russland und China geworden. Daher pflege man lediglich eine "Illusion von Stärke". Denn die vom Westen ergriffenen Maßnahmen stimmten "nicht mit der wirklichen Situation" überein und spiegelten nur die eigene Wahrnehmung wider. Daraus ergebe sich ein irrationales Bild der Lage, welches dafür sorge, dass Putin "uns immer eine Länge voraus ist."
Der bewaffnete Konflikt in der Ukraine hätte vermieden werden können, wenn, so Baud, der Westen an der Einhaltung des Völkerrechts interessiert gewesen wäre. Dass dies nicht der Fall gewesen sei, machten die Eingeständnisse von Petro Poroschenko, François Hollande und Angela Merkel im Laufe des Jahres 2022 bezüglich des zweiten Minsker Abkommens – abgedruckt im Anhang des Bandes – deutlich. Zur Vorgeschichte stellt Baud fest:
"Wir haben die russischsprachigen Menschen im Donbass sterben sehen, in der Hoffnung, dass dies zu einem Krieg führen würde, mit dem wir Russland besiegen könnten."
Diese Feststellungen deuten auf einen Grad von Realitätsverlust in den westlichen Entscheidungszentren hin, der demjenigen nahekommt, welcher bis zum Mai 1945 in Berlin geherrscht hat. Zu diesem Befund einer intellektuellen und ethisch-moralischen Verwahrlosung passt, dass in Großbritannien, so kürzlich im Daily Telegraph, ganz offen für einen Kernwaffeneinsatz plädiert wird, vor dem man sich nicht zu fürchten hätte.
Jacques Baud, der schweizerische ehemalige Nachrichtendienstoffizier, der sich bewusst in die Tradition der französischen Aufklärung stellt, postuliert dagegen:
"Es ist Zeit, unsere Vorurteile aufzugeben und zur Vernunft zu kommen. Es ist Zeit, sich zu verändern und zu den Fakten zurückzukehren. Unsere Aufgabe als Europäer ist es nicht, eine Seite zu unterstützen, sondern alles zu tun, damit das Töten aufhört. Es geht nicht darum, wer 'gut' oder 'böse' ist, wer 'gewinnt' oder 'verliert', sondern darum, einen Dialog zu eröffnen."
Angesichts der massiven antirussischen und russophoben Kampagne erfordert heutzutage ein öffentliches Eintreten für Vernunft, die Benennung und Anerkennung von Realitäten und nicht zuletzt für den Dialog, wie es Jacques Baud mit seinem Buch tut, eine gehörige Portion Mut. Es könnte jedoch sein, dass, wie die Dinge nun einmal liegen, Vernunft im Westen erst dann einkehrt, wenn die Gründe, die zum Eingreifen Russlands geführt haben, beseitigt sind. Die Einsicht in diese Zusammenhänge sollte gerade in Deutschland eigentlich vorhanden sein.
Jacques Baud: Putin – Herr des Geschehens? Aus dem Französischen übersetzt von Philipp Otte. Frankfurt am Main: Westend Verlag, 2023, 320 Seiten. ISBN: 978-3-86489-426-8. Preis: 26 Euro.
Das Werk ist bei Buchkomplizen und im Buchhandel erhältlich.
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