Von Rainer Rupp
Vergangenen Samstag, einen Tag bevor das Ultimatum am 6. August ablief, in dem der nigerianische Präsident Bola Tinubu den neuen militärischen Machthabern im Nachbarland Niger eine militärische Intervention zur Wiedereinsetzung des von den Putschisten gestürzten Präsidenten gestellt hatte, hat der Senat des ölreichen westafrikanischen Staates Nigeria Präsident Tinubu die Zustimmung zur Invasion Nigers verweigert. So berichteten übereinstimmend englischsprachige nigerianische Tageszeitungen das – beispielsweise hier, in dieser und auch hier –, was irgendwie von Politikern und Medien im kollektiven Westen übersehen wurde.
Zuvor hatten die Senatoren der 19 nord-nigerianischen Bundesstaaten ihre Amtskollegen aus den süd-nigerianischen Bundesstaaten davon überzeugt, dass ihre Staaten, die eine weit über tausend Kilometer lange, unkontrollierbare Grenze mit der Republik Niger teilen, im Fall eines Krieges von einer unkontrollierbaren Flüchtlingswelle überflutet werden würden.
Mit Ausnahme der militärischen Intervention billigte der Senat alle anderen, von Präsident Tinubu vorgeschlagenen Methoden zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in der Republik Niger. Als Resultat dieser politischen Kehrtwende trafen sich die nigerianischen Militärchefs mit ihren Amtskollegen aus den anderen ECOWAS-Mitgliedsstaaten, die ursprünglich bereit waren, sich einer nigerianischen Invasion Nigers anzuschließen. Gemeinsam gaben sie eine Erklärung ab, dass sie es nicht länger für eine gute Idee hielten, militärische Gewalt gegen die Militärjunta Nigers anzuwenden.
Vorerst sei damit die Kriegsgefahr gebannt, meldete der bekannte nigerianische Ingenieur und Blogger Chima Okezue am 5. August auf seinem Telegram-Kanal. Die diplomatischen Bemühungen, die Militärjunta zum Rücktritt zu bewegen, gehen allerdings weiter. Dabei gibt es jedoch zwei große Fragezeichen. Erstens: Werden sich auch Frankreich und die USA mit einer nicht-militärischen Lösung des Konfliktes um Niger zufriedengeben? Und zweitens: Haben diplomatische Bemühungen überhaupt Aussicht auf Erfolg?
Was die zweite Frage betrifft, so scheinen die Bilder und Videos internationaler Nachrichtenagenturen in den Tagen nach dem Militärputsch in Niger der Diplomatie für eine Wiedereinsetzung des rechtmäßigen, demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Bazoum wenig Chancen zu geben. Selbst Nachrichtenagenturen des kollektiven Westens zeigten Bilder von Massendemonstrationen zur Unterstützung der neuen Machthaber, deren Rhetorik ganz auf der anti-imperialistischen Tonlage von Nigers Nachbarn Burkina Faso und Mali liegt. Auch die Erstürmung und Brandschatzung der französischen Botschaft durch eine riesige aufgebrachte Menge, ohne dass dabei Polizei oder Militär eingeschritten wären, scheinen die Berichte zu bestätigen, dass es in den Sicherheitsorganen Nigers keine sichtbaren Splittergruppen gibt, die sich aufseiten des gestürzten Präsidenten oder Frankreichs und der USA stellen würden.
Das lässt vermuten, dass die neuen Machthaber in Niger, egal welche Motivationen sie für den Putsch hatten, sich weiterhin mit antikolonialer Rhetorik vor der eigenen Bevölkerung legitimieren werden. Zugleich ist zu erwarten, dass sie sich mit einer anti-imperialistischen Außenpolitik die Unterstützung benachbarter Länder wie Mali, Tschad, Burkina Faso, Algerien und im weiteren Sinne die der BRICS-Länder sichern wollten.
Bei den Massendemos in Niger zur Unterstützung des Putsches waren vereinzelt auch russische Fahnen geschwenkt worden und "Putin, Putin"-Rufe zu hören gewesen. Die Frage, ob womöglich die Russen hinter dem Umsturz steckten, beantwortete vor einigen Tagen der aus Bamako/Mali zugeschaltete Ulf Laessing in den ARD-Tagesschau-Nachrichten negativ. Laessing, Leiter des Sahel-Projekts der Konrad-Adenauer-Stiftung und Kenner der Situation in Niger, verwies unter anderem darauf, dass Russland nicht einmal eine Botschaft in Niger und auch sonst keinen Einfluss im Land habe. Nach aktuellem Wissensstand scheinen die Beweggründe für den Militärputsch nicht ideologischer Natur zu sein, sondern beruhten auf persönlichen Streitigkeiten zwischen der Militärführung und dem Präsidenten.
Auf die Frage, wie in Zukunft das Verhältnis von Deutschland und Europa mit den neuen Machthabern in Niger aussehen könnte, meinte Laessing, dass die Europäer mit den Putschisten zusammenarbeiten müssten, wenn sie nicht wollten, dass die Migrationsroute nach Europa wieder geöffnet werde. Diese Route war von dem gestürzten Präsidenten auf Drängen der EU weitgehend geschlossen worden. Dafür gab es Gegenleistungen der EU, um Niger für entgangenes Einkommen zu kompensieren. Denn die Schließung der Migrationsroute hatte in dem von hoher Arbeitslosigkeit geprägten, bettelarmen Niger viele lukrative Arbeitsplätze vernichtet, was in der Bevölkerung zu starker Verärgerung führte.
Die Migration aus dem südlichen Afrika nach Europa durch Niger hatte nämlich im ganzen Land zu einer boomenden Nachfrage nach Transportdienstleistungen durch die Wüste, im Restaurant- und Hotelgewerbe sowie im Einzelhandel gesorgt. Zugleich konnten viele Leute mit Schmuggel von und nach Libyen Geld verdienen. Folglich wird in Niger der Druck der Bevölkerung auf die Putsch-Regierung groß sein, die Route wieder zu öffnen. Wenn die Europäer also keinen erneuten, zusätzlichen Migrationsfluss aus Afrika haben wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als auch mit den neuen Machthabern einen Deal zu machen. Der übliche, Tugend heuchelnde, außenpolitische Konfrontationskurs à la Baerbock würde Niger betreffend auch für Deutschland sehr kontraproduktive Folgen haben.
Nun zurück zur ersten der oben gestellten Fragen: Werden sich auch Frankreich und die USA mit einer nicht-militärischen Lösung des Konfliktes um Niger zufriedengeben?
Das oben bereits abgehandelte Ultimatum aus Nigeria, verbunden mit der Invasionsdrohung, um in Niger den gestürzten Präsidenten wieder in seinem Amt einzusetzen, hatte vor allem aus Frankreich und den USA viel politische Unterstützung bekommen. Die Tatsache, dass sich einige kleinere ECOWAS-Staaten bereit erklärt hatten, sich einer eventuellen nigerianischen Militäroperation anzuschließen, wurde von Paris und Washington als zusätzlicher Bonuspunkt angesehen, konnten dadurch doch ihre eigenen neokolonialen Absichten besser als unter dem Mantel der selbstlosen Hilfestellung für Afrikaner zur Wiederherstellung der Demokratie in Niger versteckt werden.
Wahrscheinlich war es dieses Aufspringen der imperialistischen Kreise in den USA und Frankreich auf die von Nigeria angekündigte militärische Intervention, die Nigers Nachbarländer Mali und Burkina Faso, aber auch Algerien zu der Erklärung verleitet hatten, Niger im Kriegsfall militärisch unterstützen zu wollen. Dadurch war plötzlich eine Situation entstanden, in der jegliche Militäraktion Nigerias in Niger in einer gigantischen Katastrophe für die ganze Region enden würde.
Die Bevölkerung in den Niger-unterstützenden Ländern beläuft sich insgesamt auf etwa 80 Millionen, die in Nigeria für sich allein bereits auf 200 Millionen. Ohne genaue Frontlinie würde der Krieg in Tausende von Dörfern der Grenzregionen getragen. Luftangriffe der USA und Frankreichs würden das Ihrige dazu beitragen, das entstandene Chaos auf die Spitze zu treiben. Nicht nur die Grenzstaaten Nigerias würden mit Flüchtlingen überfordert sein, wovor die nigerianischen Senatoren gewarnt hatten, sondern auch ein unübersehbarer Flüchtlingsstrom in Richtung Europa würde sich auf den Weg machen.
Dadurch, dass Nigeria eine militärische Intervention abgesagt hat, haben jetzt Frankreich und auch die USA größte Schwierigkeiten, in dem fern vom Meer gelegenen Niger militärische Strafexpeditionen zu unternehmen. Sowohl der französische als auch der US-amerikanische Stützpunkt in Niger könnte sich im Fall einer militärischen Auseinandersetzung ohne Unterstützung durch die jeweilige Luftwaffe nicht lange gegen das Militär von Niger halten.
Um in Niger von ihren Stützpunkten aus gegen die Regierung in Niger militärisch aktiv zu werden, bräuchten die USA und Frankreich Lande- und Startrechte für ihre Militärflugzeuge in Nigers Nachbarstaaten. Das allerdings ist höchst unwahrscheinlich. Denn in der aktuellen globalen Situation wird kein westafrikanisches Land – egal, welcher politischen Ausrichtung und das nicht Selbstmord begehen will – es wagen, allein, also ohne das mächtige Nigeria im Rücken, die in ganz Afrika unbeliebten französischen und amerikanischen Imperialisten bei einer Militäraktion gegen den afrikanischen Bruderstaat Niger zu unterstützen.
Hinzu kommt, dass der Staat Nigeria selbst eine lange anti-imperialistische Geschichte und ein entsprechendes kollektives Selbstverständnis hat. Das hat Nigeria mit der aktiven und großzügigen Unterstützung antikolonialistischer Freiheitsbewegungen in Afrika immer wieder unter Beweis gestellt. Das ist die eine Seite der nigerianischen Medaille. Die andere Seite ist, dass die nigerianische Führung aus Sorge um die Stabilität in der westafrikanischen Region sehr allergisch gegen Militärputsche ist, vor allem wenn diese gegen demokratisch gewählte Regierungen gerichtet sind. Dabei ist es egal, mit welchen Gründen Putsche gerechtfertigt werden.
Diesbezüglich wird Nigeria von der russischen Regierung unterstützt. Auch das russische Außenministerium hat den Putsch in Niger verurteilt. Der Botschafter Russlands in Nigeria, Alexei Schebarschin, wiederholte die Linie des Kremls, dass der Putsch in Niger "verfassungswidrig" sei. Er fügte hinzu, dass Russland wolle, dass die Krise in Niger friedlich und ohne Intervention von Nigeria/ECOWAS gelöst werde. Noch wichtiger ist, dass Russland keine Pläne habe, der neuen Militärjunta in Niger zu helfen, so Botschafter Schebarschin.
Die Lage in Niger ist also komplexer als viele Anti-Imperialisten glauben, die zum Beispiel reflexhaft die Reaktion Nigerias verurteilt und Nigerias Präsidenten als US-Marionette bezeichnet haben, nur weil er auf den ersten Blick genau wie die USA und Frankreich mit einer militärischen Intervention in Niger gedroht hatte.
Während aufgrund des Beschlusses des Senats in Nigeria mit einer Nigeria/ECOWAS-Intervention nicht mehr zu rechnen ist, lamentiert der kollektive Westen weiterhin den Sturz von Nigers Präsidenten Mohammed Bazoum. Der Westen droht weiter mit militärischen Maßnahmen, um Bazoum wieder im Amt einzusetzen, sodass das Pentagon seine Drohnenbasis und Frankreich seine Uran- und Goldminen in Niger wieder in Betrieb nehmen kann.
Wie vor allem Frankreich die Gold- und Uranreserven des Niger bis zuletzt ausgeraubt hat, hat der ins EU-Parlament gewählte deutsche Abgeordnete Martin Sonneborn mit seiner Kollegin Claudia Latour in einem Artikel vom 3. August in der Berliner Zeitung unter dem Titel: "Globaler Süden will nicht mehr vom Westen ausgeplündert werden" sehr anschaulich dargelegt. Der unbedingt lesenswerte und faktenreiche Artikel macht deutlich, dass es auch in Niger darum geht, dass die Afrikaner dem Rohstoffraub und der Übervorteilung durch mafiöse Handelsverträge mit dem Westen ein Ende setzen wollen. Hier ein kurzer Auszug aus dem Artikel von Sonneborn und Latour als "Appetitanreger":
"In Frankreich gibt es keine einzige aktive Goldmine. Dennoch besitzt dieser [ehemals] verbrecherische Kolonialstaat mit 2.436 Tonnen die viertgrößten Goldreserven der Welt. Die [ehemals] französische Kolonie Mali besitzt genau 0,0 Tonnen Gold, obwohl es mehrere Dutzend Minen [darunter 14 offizielle] im Land hat, in denen pro Jahr ganze 70 Tonnen davon abgebaut werden. Von den Einnahmen aus knapp 60 Tonnen Gold, die von [schätzungsweise] 600.000 Kindern in der [ehemals] französischen Kolonie Burkina Faso geschürft werden, gehen nur zehn Prozent an das Land, aber 90 Prozent an multinationale Goldgräberkonzerne.
Trotz seiner Uran- und Goldvorkommen lag der Niger im Entwicklungs-Index zuletzt auf Platz 189 von 191 erfassten Staaten. Das gesamte Staatsbudget Nigers, ein Land mit der dreifachen Fläche der Bundesrepublik, ist mit rund 4,5 Milliarden Euro nicht größer als der jährliche Umsatz des französischen Atomkonzerns Orano [ehemals Areva]."
Zu guter Letzt noch ein Hinweis auf die mehrtägige Leserumfrage auf der Startseite von RT-DE mit dem Titel: "Worum geht es in Niger?" Zum Hintergrund der Frage hieß es: "Nach dem Putsch in Niger und der Machtübernahme durch eine Militärregierung droht eine Intervention durch Nachbar- und westliche Staaten. Worum geht es dabei?"
Für die erste vorgeschlagene Antwort: "Es geht um die Verteidigung der Demokratie gegen die Putschisten" hatten sich mit Stand von Montag, den 7. August, um 22.00 Uhr, nur 0,8 Prozent der Leser entschieden, was die gesunde Skepsis der RT-DE-Leserschaft gegenüber der verlogenen Westpropaganda über Menschenrechte und Demokratie unterstreicht.
Die große Mehrheit der Leser, nämlich 70,7 Prozent, stimmten für die zweite angegebene Antwort: "Es geht um die Kontrolle von Bodenschätzen und um die Befreiung Afrikas von kolonialen Strukturen." Von 19,4 Prozent wurde: "Niger ist nur ein weiterer Schauplatz im Kampf des Westens gegen Russland und China" gewählt. Der letzte Antwortvorschlag lautete: "Afrika ist mir egal. Wir werden gerade selbst wie eine Kolonie ausgeplündert und versklavt". Dieser bekam acht Prozent.
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