Von Sachar Prilepin
Auf meinem Regal steht eine mehrbändige, riesige sowjetische Bücherserie.
Ich betrachte die Buchrücken und lese da:
"Ausgewählte Werke der Schriftsteller des Tropischen Afrikas."
"Ausgewählte Werke der Schriftsteller Nordafrikas."
"Ausgewählte Werke der Schriftsteller Südafrikas."
"Ausgewählte Werke der afrikanischen Dichter."
"Ausgewählte Werke der afrikanischen Dramaturgen."
Und noch ein schönes, hervorragend gebundenes mehrbändiges Werk "Afrika. Literarischer Almanach": Dort konnte man die afrikanischen Literaturen ohne größeren Zeitverzug verfolgen.
In meiner Kindheit war ich sehr neugierig, unter anderem (und besonders) auf die afrikanische Poesie. Wie übrigens auch auf Dokumentargeschichten, wie finster ihr Leben ist und wie sie dann eine antikoloniale Revolution veranstalten. Das war spannend!
Das Qualitätsniveau war durchaus ansehnlich. Und wenn man nach dem Zustand der weltlichen Literatur urteilte, wuchs und lernte Afrika zusehends.
Doch die Rede ist nicht einmal von Afrika.
Stellen Sie sich nur das Ausmaß der bei diesen Büchern geleisteten Arbeit vor! Allein in diesem einzigen – dem literarischen – Bereich! Es muss eine Armee von Redakteuren gegeben haben, Übersetzer aus allen Sprachen, Menschen, die die Literatur eines ganzen Kontinents verfolgten und gleichzeitig das Wichtigste und Beste auswählten. Und das in dutzenden Ländern!
Ein ganzes Institut müsste dafür jahrzehntelang arbeiten!
Weder Frankreich noch sonstige westliche Staaten haben jemals etwas Ähnliches getan, nur wir.
Bekannterweise war der sowjetische Bürger verärgert, dass er wegen Zensureinschränkungen Henry Miller und "Emmanuelle" nicht lesen konnte. Doch aus irgendeinem Grund sagte niemand etwas, als wir im Jahr 1991 von einem Augenblick auf den nächsten von der Literatur eines ganzen Kontinents abgeschnitten wurden. Denn seitdem wurde sie natürlich praktisch nicht übersetzt.
Man wird vielleicht sagen: Wird das denn jemand lesen?
Und ihr, habt ihr das denn gelesen, um darüber zu urteilen?
Oder anders gefragt: Sammelt ihr immer noch die Romanserien über Emmanuelle und James Bond, die in den 1990ern wie warme Semmeln weggingen?
Alles ändert sich, und das, was gestern noch langweilig und überflüssig erschien, kann morgen schon große Neugier erwecken.
Doch wir zahlten ihnen auch Honorare – den afrikanischen Dichtern, Dramaturgen und Schriftstellern! Vielleicht hat sie niemand auf der ganzen Welt bezahlt, auch ihre eigenen Verleger nicht. Doch die UdSSR bezahlte sie, und zwar großzügig.
Und das ist nur ein Beispiel – obwohl in den Bereichen der Wirtschaft und Medizin, Wissenschaft und Bildung sowie im Militärwesen noch erstaunlichere Beispiele für undenkbare, in ihrem Umfang und Großzügigkeit überwältigende Hilfe der Sowjetrussen stecken.
In den 1990ern schien es uns, als sei das alles überflüssig, als hätten wir uns selbst ausgeraubt.
Oh, wenn man nur vergleichen könnte, wie wir damals unter den Sowjets "ausgeraubt" wurden, als wir Afrika geholfen hatten, mit dem, was aus uns in den folgenden Jahren in den Westen herausgepumpt wurde!
Und dabei ist der Westen uns dafür in keinster Weise dankbar, während die in Afrika noch damals gesäte Saat aufging! Man erinnert sich an sie!
Und wenn heute afrikanische Delegationen unseren Präsidenten mit stürmischem Beifall begrüßen, begrüßen sie nicht nur ihn, die zweifellos respektierte Leitfigur des weltweiten Neustarts. Gemeinsam mit ihm begrüßen sie sowohl Breschnew, Chruschtschow, Stalin, Lenin, als auch all die Übersetzer von Geschichten und Poemen, Militärspezialisten, Mediziner und Bauingenieure, die damals das anlegten, worauf wir heute zurückgreifen können.
Seien wir ihnen dankbar.
Übersetzt aus dem Russischen.
Sachar Prilepin ist ein russischer Schriftsteller und Journalist, der in den 1990er Jahren im Krieg in Tschetschenien gekämpft hat. Er kämpfte später als stellvertretender Kommandeur eines Freiwilligenbataillons der Volksmiliz der Volksrepublik Donezk in der Ukraine.
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