Die Regeln des Fechtsports und die "regelbasierte Weltordnung"

Manchmal spiegelt sich das Ganze im Detail, und der Umgang mit dem Verhalten einer ukrainischen Fechterin zeigt einiges über den wahren Gehalt der "regelbasierten Weltordnung". Das, was da zum Vorschein tritt, ist ein großer zivilisatorischer Rückschritt.

Von Dagmar Henn

Einer der zentralen Begriffe der westlichen Politik der letzten Jahre lautet "regelbasierte Weltordnung". Man hört ihn in allen Reden, liest ihn in allen Dokumenten wie etwa der deutschen China-Strategie, und doch bleibt ständig unklar, welche Regeln nun genau damit gemeint sind. Das geschriebene Völkerrecht kann es nicht sein, sonst bräuchte es keinen neuen Begriff.

Nun, gehen wir einmal davon aus, es gäbe einen uns unbekannten, aber den Regierungen bekannten Satz Regeln, der irgendwo in einem Tresor in Washington oder Brüssel liegt. Von außen ist es nicht möglich, den Inhalt zu kennen.

Aber man kann aus anderen Zusammenhängen darauf schließen. Das gilt etwa für die einseitige Verhängung von Sanktionen, die nach dem Völkerrecht illegal ist, weil nur der UN-Sicherheitsrat Sanktionen verhängen darf, die aber aller Beobachtung nach ein zentrales Element dieser "regelbasierten Ordnung" sein muss, sonst wäre das nicht ein einfaches Merkmal, an dem man die Anhänger dieser Ordnung von ihren Gegnern unterscheiden könnte.

Es gibt jedoch noch Momente, die es ermöglichen, auf einer höheren Abstraktionsebene den Umgang mit Regeln an sich im westlichen Einflussbereich zu beobachten. Der Vorfall mit der ukrainischen Fechterin, die ihrer russischen Gegnerin Anna Smirnowa den Handschlag verweigerte, ist ein solches Beispiel.

Wobei man dazu vielleicht darauf hinweisen sollte, dass es die Regeln sind, die einen Sport definieren. Die ganze Struktur, vom Dorfturnier bis zur Olympiade, ist nur vorstellbar, weil es für jede Sportart einen Satz Regeln gibt, die vorgeben, wie lange ein Spiel oder ein Wettkampf dauert, welche Maße das Spielfeld hat, wann unterbrochen wird, was als Treffer oder als Tor gezählt wird und so weiter und so weiter. Es gibt sogar eigene Sportgerichte. So wie gemeinsame Regeln den Glauben von der Religion unterscheiden, so unterscheiden sie auch einen Boxkampf von der Kneipenschlägerei.

Regeln sind also nichts Dekoratives, Marginales oder Überflüssiges. Die Regeln sind das, was einen Sport erst zum Sport macht. Die meisten dieser Regeln, einschließlich der Abläufe von Wettkämpfen, sind seit Jahrzehnten unverändert, und eine Änderung der Regeln kann sehr langwierig und mühsam sein, was etwa die Debatte um den Videobeweis im Fußball belegt.

Sport hat auch einen Aspekt der regulierten Gewalt; in manchen Sportarten stärker, wie beim Ringen oder eben beim Fechten, in manchen nur noch insoweit, als der Wettkampf an sich nie frei von diesem Aspekt ist, selbst beim Eistanz nicht. Manche Sportarten wirken heute friedlich, haben aber einen sehr unfriedlichen Ursprung, wie das Diskuswerfen. Weil es diesen Aspekt der Gewalt gibt, gibt es Gesten der Befriedung. Eine davon ist der Handschlag, der symbolisiert, dass der Kampf vorüber und damit die Aggression zwischen den Beteiligten aufgehoben ist.

Das hat eine sehr lange Tradition, bis in die Antike, in der die Phase der Olympischen Spiele im Grunde die Ausnahmephase des Friedens zwischen beständigen Kriegen war. Einer der Gründe, der ein Wiederaufleben dieses Konzepts beförderte, war die Vorstellung, man könne auf diese Weise, also durch die Ausübung der im Regelkorsett des Sports domestizierten Gewalt, den friedlichen, sprich von der unmittelbaren Gewalt befreiten, Umgang selbst zwischen verschiedenen Ländern gewissermaßen einüben.

Natürlich ist das nur die Idealvorstellung. Praktisch begann der Sport als eine vorübergehende Friedensbeschäftigung der ansonsten mit kriegerischeren Tätigkeiten befasster Aristokraten und weitete sich dann, nach der Französischen Revolution, gewissermaßen parallel zur Vorstellung des Volksheeres ins Bürgertum aus, siehe Turnvater Jahn. Ende des vorvergangenen Jahrhunderts entstanden dann die Olympischen Spiele und mit der Arbeitersportbewegung die Vorstellung vom wirklichen Breitensport (die inzwischen zumindest in Deutschland schon wieder Vergangenheit ist, wo vor allem die Ausübung von Leistungssport längst wieder eine Frage des elterlichen Geldbeutels ist).

Sportliche Großereignisse wie Fußballweltmeisterschaften oder Olympische Spiele sind für sehr begrenzt demokratische Sportgroßorganisationen nicht nur eine Möglichkeit, viel Geld von Sponsoren einzunehmen, oder Phasen, in denen Kommunen oder Länder die Oberhoheit über ihr Territorium letztlich an besagte Organisationen und Sponsoren verlieren, sie sind nicht nur ein Anlass für hochrangige Sportfunktionäre, sich für die Vergabeentscheidung kaufen zu lassen, sie werden auch öfter für politische Interessen instrumentalisiert, wie beim Boykott der Olympiade in Moskau 1980. Das ist nichts Neues. Hauptakteur waren in der Regel die USA, und eine Reihe westlicher Länder dackelte brav hinterher. Aber all diese Entwicklungen änderten nichts an den Regeln.

Nun hat der Westen, also genau die Truppe, die immer von der "regelbasierten Weltordnung" spricht, gezeigt, dass er die Regeln so setzt, wie es ihm passt. Und zwar nicht einmal in Gestalt einer Einzelentscheidung vor einem Sportgericht, das war den Herrschaften wohl zu langsam.

Der fehlende Handschlag der ukrainischen Fechterin führte, so wie die Regeln dieses Sports es vorsehen, zu ihrer Disqualifizierung, sprich, der Sieg, den sie eigentlich gegen ihre russische Gegnerin errungen hatte, wurde ihr aberkannt. Was schon deshalb richtig war, weil es die Regeln sind, die die Grenze zwischen der gespielten/sportlichen und der realen/kriegerischen Gewalt absichern. Das Verhalten der Ukrainerin war nicht nur menschlich respektlos, es war ein zu propagandistischen Zwecken durchgeführter Verstoß gegen einen Kerngrundsatz des Sports an sich, der noch einmal dadurch verschärft wurde, dass ihre russische Gegnerin gar nicht als Vertreterin ihres Landes antreten durfte, der persönliche Angriff sich also nicht gegen eine Vertreterin eines Staates, sondern nur gegen die Vertreterin eines Volkes richten konnte. Wäre es irgendjemand anders als eine Ukrainerin gewesen, wäre der rassistische Kern dieser Handlung sofort erkannt und gerügt worden. Aber das ist eben der Zweck dieser Regeln, dass sie die konkrete politische Debatte überflüssig machen, weil sie den wechselseitigen Respekt verbindlich für alle vorgeben.

Man würde annehmen, dass der rassistische Charakter der Handlung den so überzeugten Antirassisten im Westen bewusst ist und sie sich dagegen empören und einfordern, diese eine sportliche Gegnerin so zu behandeln wie alle anderen auch. Was aber tatsächlich geschah, geht noch weit über das reine Gegenteil hinaus.

Nicht nur, dass die Disqualifizierung aufgehoben und der Täterin eine Teilnahme an den Olympischen Spielen garantiert wurde. Nein, es wurde das Regelwerk geändert und die Pflicht, sich per Handschlag zu verabschieden, daraus gestrichen, damit kein Ukrainer mehr einem russischen Teilnehmer die Hand geben müsse.

Was übrigens die Ukrainer wieder einmal zu einer Art Übermensch macht, denn niemand hat den vietnamesischen Sportlern je erlassen, den US-Amerikanern die Hand zu geben, und auch die Inder reichen sie den Briten, selbst die Kongolesen den Belgiern und die Israelis den Deutschen. Aber es tut noch mehr, und das ist endgültig der Moment, der das Ende des internationalen Sports in seiner gegenwärtigen Form einleiten dürfte: Es greift in die grundlegende Friedenspflicht bei sportlichen Ereignissen ein, hebt – mit der Ukraine als Vorwand – die Vorgabe gleichen, wechselseitigen Respekts auf und ersetzt sie durch – nun, vermutlich das Recht, den jeweils aktuellen Feind des Westens (China wird gerade vorgekocht) auch im Sport als Feind dazu behandeln.

Das begann natürlich schon weit früher, mit der heuchlerischen Kampagne gegen "russisches Staatsdoping" (das US-Doping ist nur deshalb kein "Staatsdoping", weil auch das zur Gewinnerzielung privat erledigt wird), und setzte sich unter anderem mit der Entscheidung des IOC fort, dass russische Sportler nicht unter der eigenen Flagge einziehen dürften.

Was jetzt passiert ist, ist allerdings, auch wenn es nicht so sichtbar ist wie der Entzug der Flagge und die Löschung der Nation von der Weltkarte des Sports, ein weit tieferer Eingriff, eben weil die Regeln, und insbesondere jene Regeln, die das Verhalten der Sportler untereinander festlegen, etwas derart Konstitutives für den Sport sind.

Der Vorfall belegt also, dass der Westen bereit ist, selbst jene Regeln seiner Willkür zu unterwerfen, die die Voraussetzungen dafür bilden, dass er selbst überhaupt existiert. Die Sanktionen, die das kapitalistische Kernrecht des Eigentums immer weiter infrage stellten, waren ein Anzeichen in diese Richtung, aber es waren bisher noch Einzelfälle. Das, was jetzt im Falle des Fechtens geschehen ist, lässt sich derart übersetzen: Länder, deren politische Richtung nicht genehm ist, haben kein Eigentum, und um das durchzusetzen, wird das Eigentum grundsätzlich aufgehoben und von einer Genehmigung der Regierung abhängig gemacht.

Das klingt irre, ist aber ungefähr das, was mit diesen sportlichen Regeln passiert ist. Auf einer symbolischen Ebene übersetzt sich das mit: Wir befinden uns mit allen Ländern im Krieg, außer mit denen, die wir zu unseren Freunden erklären. Was den Krieg zum Normal- und den Frieden zum Ausnahmezustand macht. Will man wirklich in einer "regelbasierten Weltordnung" leben, deren Regeln von jenen bestimmt sind, die mit ihnen nicht anders umgehen werden als mit den Regeln des Fechtens vor einigen Tagen?

Das ist nicht nur ein instrumentelles Verhältnis zu Regeln. Das ist blanke Willkür, gekoppelt mit völligem Unverständnis grundlegender sozialer und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Es ist, als würde man tausende Jahre rechtlicher Entwicklung wieder durch eine feuersteinbestückte Keule ersetzen. Die Ukrainer betätigen sich hier als die Vorhut der Barbarei und der gesamte Westen rückt willig nach.

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