Von Dagmar Henn
Zugegeben, inzwischen ist selbst im Westen der Heldenkult um den ukrainischen Präsidentendarsteller Selenskij etwas abgekühlt. Aber es wird weiter versucht, ihn allen möglichen internationalen Begegnungen als Redner aufs Auge zu drücken, oder ihn gar gelegentlich persönlich vorbeizuschicken. Und nach wie vor scheint im Westen niemand zu begreifen, warum das in der Regel das Gegenteil dessen bewirkt, was die Betreiber erwarten.
Wobei es nicht wirklich erstaunlich ist, dass die meisten Beobachter Selenskij nicht mögen. Auch wenn die westliche Presse es kaum berichtet hat, alle anderen haben gesehen, wie er im vergangenen Jahr einen fast ausverhandelten Frieden ausschlug, und auch wenn er dies auf Geheiß der USA tat, würde niemand außerhalb des Westens ihn deshalb von Verantwortung freisprechen. Und sein danach einsetzendes stetiges Verlangen nach noch mehr Waffen und noch mehr Geld erweckt nur das Bild eines ungezogenen, gierigen Kindes.
Ungefähr wie der Sohn eines Schuldirektors, der ständig die Größeren und Stärkeren provoziert, weil er jederzeit seinen Papa herbeirufen kann, wenn er in Schwierigkeiten gerät. Kein gewinnender Charakter. Und wenn er tränenüberströmt vor diesem Papa steht und klagt, dieser oder jener habe ihn gehauen und sei so gemein zu ihm, dann wenden sich die meisten Umstehenden nur schamvoll ab.
Sicher, einer der Gründe, warum Selenskij überall präsentiert werden soll, ist, dass schon diese Präsentation eine Geste der Unterwerfung darstellt. Aber dennoch, das, was für diesen Zweck Sinn macht, wird weit überschritten. Videoeinblendungen in den Parlamenten rund um die Welt? So etwas betreibt man nur, wenn man wirklich überzeugt ist, dass diese Auftritte Mitgefühl und Sympathie erwecken, denn für die Unterwerfungsgeste genügte es, die Regierungen damit zu belästigen. Das heißt auch, dass die Vertreter des Westens nicht wahrnehmen, dass Selenskij zutiefst abschreckend wirkt.
Sie tun dies gleich auf mehreren Ebenen nicht. So mag beispielsweise sein Auftreten in diesem grünen T-Shirt für die aktuellen politischen Eliten des Westens ein Zeichen des Durchhaltewillens sein, oder auch ein Zeichen dafür, dass eine ungeheure Bedrohung die gewöhnlichen Regeln außer Kraft gesetzt hat. Aber außerhalb dieser westlichen Blase signalisiert es nur einen ausgeprägten Mangel an Respekt – Respekt sowohl vor dem Amt, das von der privaten Person und ihren Emotionen getrennt sein sollte, als auch vor dem Militär. Denn selbst wenn ein Präsident als Oberbefehlshaber einen Anspruch auf die Darstellung dieser Funktion erheben kann, gibt es in dieser hierarchischen Struktur eine Kleiderordnung, die zu respektieren ist.
Es mag sein, dass die Wahl dieser vereinfachten Kleidung – das T-Shirt war ursprünglich das Unterhemd der US-Soldaten – unbewusst so etwas sein soll wie das härene Gewand eines Bettelmönchs; sofern rund um diese Kiewer Inszenierung überhaupt etwas unbewusst stattfindet, also nicht auf Geheiß einer PR-Agentur. Erinnert sich noch jemand an den Film "Wag the Dog"? In manchen Aspekten ist die Ukraine das ins Überdimensionale aufgeblasene Albanien dieses Films.
Tatsächlich ist diese Art des Stellvertreterkriegs, wie sie mit der Ukraine geführt wird, etwas völlig Neues. Die USA haben schon vor ihrer direkten Beteiligung in Vietnam große Mittel in die Stützung der südvietnamesischen Armee gepumpt, aber es gab mitnichten ständige Fernsehauftritte der jeweiligen südvietnamesischen Regierungschefs. Sicher, die Veränderung der technischen Landschaft, die heute solche Videoübertragungen zulässt, ist ein Teil der Geschichte, der andere aber ist die Überzeugung, dass solche emotionalen Inszenierungen eine für den Westen günstige Wirkung zeitigen.
Im Grunde liegt das auf dem Niveau des Baerbockschen "da sterben Menschen". Eine Botschaft, die in Ländern, in denen ein Teil der Bevölkerung tatsächlich hungert oder westlich finanzierte Terrortruppen unterwegs sind, zumindest bei all jenen nicht so wirklich überzeugt, die sich für ebendiese Länder verantwortlich fühlen. Dann lautet die Antwort nämlich schlicht: "Hier auch, und meine Pflicht ist, dem abzuhelfen; für die in der Ukraine ist die ukrainische Regierung zuständig."
Während in den westlichen Medien und in großen Teilen der westlichen Öffentlichkeit nicht auffällt, wie irreal allein dieses Verhalten ist, selbst nichts zur Beendigung eines Konflikts zu tun und stattdessen ständig um Hilfe zu schreien, sind sich Politiker in jenen Regionen, die der Globale Süden genannt werden, sehr wohl der Begrenzung ihrer Handlungsmöglichkeiten bewusst.
Sie sind darauf angewiesen, jeden Zentimeter eines begrenzten Spielraums zu nutzen. Sie wissen auch um den Zusammenhang zwischen Krieg und Ökonomie, darum, dass Klugheit und Diplomatie und die Suche nach einer einvernehmlichen Lösung im Umgang zwischen Ländern nützlicher sind als die Provokation eines militärischen Konflikts, und dass sie selbst dann, wenn ein solcher unumgänglich wäre, ihre Ressourcen im Blick haben müssen, denn selbst Kredite bekämen sie nicht. Dass die Ukraine ihren Krieg sogar über den IWF finanziert bekommt, ist ebenso irreal wie die grenzenlosen Zuschüsse, die fließen, um den Alltag des Landes aufrechtzuerhalten. Soll man wirklich davon ausgehen, dass den Äthiopiern oder den Senegalesen nicht auffällt, dass das nicht normal ist, sondern dass das westliche Verhalten eher einer Art Kult der Auserwählten ähnelt (wobei in vielen Kulturen die Auserwählten gleichzeitig das sakrale Opfer sind, insofern ist das wirklich passend)?
Jeder weiß, dass die gesamte Ukraine ohne diese stetigen Geldspritzen und die Waffenlieferungen schon längst zusammengebrochen wäre. Zusammengebrochen, weil die Finanzierung des Krieges dem gesamten Gemeinwesen die Mittel entzogen hätte. Weil das Geld nicht reichen würde, um neben dem Transport militärischer Güter die Eisenbahn auch noch für zivile Waren aufrechtzuerhalten; weil das Geld fehlen würde, die Polizei zu bezahlen, die Schäden am Stromnetz zu beheben, den öffentlichen Nahverkehr aufrechtzuerhalten, vom Gesundheitswesen ganz zu schweigen, das erst komplett mit den militärischen Fällen ausgelastet wäre, und dann mangels Finanzierung schlicht ausfallen würde. Ein Staat, der kein Geld hat, hat kein öffentliches Gesundheitswesen und erst recht keinen Zugang zu einem privaten, so ein solches existiert. Wie lange lässt sich wohl Krieg führen, wenn klar ist, dass selbst die leicht Verwundeten letztlich am Wundbrand krepieren werden, weil es keinerlei Behandlung mehr gibt? Tage? Wochen?
Halt, nein, "jeder" liegt in diesem Zusammenhang falsch, denn für die Macrons, Baerbocks und Sunaks gilt das nicht. In ihrer Welt gibt es keine Begrenzungen. Reicht der eigene Verstand nicht für den gewünschten Universitätsabschluss, kein Problem, so etwas lässt sich kaufen, wenn man genug Geld hat, auf verschiedenen Wegen. Es sind die verzogenen Produkte einer Generation zu wohlhabender Eltern, die sich der Frage, ihren Gören einmal eine Grenze zu setzen, schlicht mithilfe des Geldes entzogen haben. Das Kind will ein Pferd? Das Kind bekommt ein Pferd. Das Kind empfindet es als lästig, sich um dieses Pferd zu kümmern? Kein Problem, stellen wir jemand ein, der sich um das Pferd kümmert. Das Kind will ein Auto? Das Kind bekommt ein Auto, und wenn es am Führerschein scheitert, noch einen Fahrer dazu.
Selbst in den Gesellschaften des Westens gibt es nicht allzu viele Exemplare dieser Art, aber die augenblickliche Politik strotzt davon. Von Menschen, die im Grunde für die Gesellschaft völlig blind sind und nur sich selbst wahrnehmen und andere höchstens insoweit zulassen, als sie zusätzliche Exemplare ihrer selbst darstellen. Sie können das maßlose Kind in Selenskij nicht erkennen, weil sie selbst maßlose Kinder sind. Sie kennen keinen Unterschied zwischen aufgesetztem Geheule und wirklichem Leid, und sie sind überzeugt, dass kullernde Tränen der höchste Ausdruck des Schmerzes sind.
Die Emotionen, die ein solches Schauspiel außerhalb ihrer eigenen Blase hervorruft, können sie nicht einmal ansatzweise nachvollziehen. Sie präsentieren, was sie für eine heroische Ikone halten, und ernten Irritation, Unglauben, Fremdscham, Ekel, Abscheu. Kein Wunder, dass zurzeit ein Marie-Antoinette-Moment den anderen ablöst. Sie sind allesamt Geschwister im Geiste, und Selenskij ist der sichtbarste Ausdruck ihres Wesens, mit aller Arroganz, Mitleidlosigkeit, Gier, Prunksucht und tiefer Verachtung für die unteren Klassen.
Nur dass sich inzwischen, auch wenn im Westen selbst die Unterlegenen domestiziert scheinen, außerhalb eine Front formiert, die sich die Herrschaft dieser gierigen Kinder nicht länger gefallen lassen will; man kann das in den Reden afrikanischer Staatschefs auf dem Gipfel in Petersburg hören. Selenskijs T-Shirt-Masche mitsamt seines Fanclubs könnte einmal zur bizarren Illustration eines Moments des historischen Wandels werden, wie die Schäferspiele in Versailles. Eine aristokratische Marotte, für die die neue Zeit, die mit einem wirklichen Aufbruch beschäftigt ist, weder Verständnis noch Geduld hat.
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