Von Dagmar Henn
Jeffrey Sachs hat vor wenigen Tagen in einem Gespräch mit den beiden Journalisten von The Duran eine Bombe platzen lassen. Im Grunde geht es um die Voraussetzungen der heutigen Situation, um den Ausgangspunkt dieses Konflikts zwischen den USA und Russland, nach dem Ende des Kalten Krieges (obwohl er, wenn man diese Geschichte genau betrachtet, eigentlich nie aufgehört hat).
Dazu muss man wissen, wer Jeffrey Sachs ist. Sachs ist ein sehr bekannter Ökonom, der weitgehend den Lehren von John Maynard Keynes folgt, auf den er sich häufig beruft. Keynes wiederum war ein britischer Wirtschaftswissenschaftler, der unter anderem dadurch bekannt wurde, dass er die Regelungen des Versailler Vertrages nach dem Ersten Weltkrieg für einen kolossalen Fehler hielt und vorhersagte, damit würden die Grundlagen für den nächsten großen Krieg gelegt. Er nannte den Versailler Vertrag einen "Karthagischen Frieden"; eine Anspielung auf die römischen Strategie nach dem Sieg im Zweiten Punischen Krieg, das konkurrierende Karthago an jeder Erholung zu hindern. Noch bekannter ist Keynes allerdings für seine Strategie zur Eindämmung der Weltwirtschaftskrise 1929 ff. über eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen.
Sachs hatte im Laufe seines Lebens viele Funktionen, als Professor an Universitäten, bei der Weltbank, bei verschiedensten internationalen Gremien. Wenn man seinen englischsprachigen Wikipedia-Eintrag betrachtet, sieht man allerdings, dass er einiges richtig gemacht haben muss, weil gegen ihn dennoch jede Technik der Diffamierung eingesetzt wird.
Anfang der 1990er war er Berater mehrerer osteuropäischer Regierungen, angefangen mit der polnischen Regierung unter Mazowiecki, danach auch der Regierung von Gorbatschow. Zuvor hatte er Mitte der 1980er die Regierung von Hugo Banzer in Bolivien dabei beraten, die Hyperinflation zu bekämpfen.
Eine Hyperinflation ist in der Regel die Folge einer zu hohen Verschuldung, vor allem einer zu hohen externen Verschuldung in einer fremden Währung. Wenn nicht genug Devisen erwirtschaftet werden können, um den Schuldendienst zu leisten (was üblicherweise heißt, die Zinsen zu decken, da Staatsschulden selten tatsächlich zurückgezahlt, sondern in der Regel durch neue abgelöst werden), dann ist die einzige Option, die dem verschuldeten Staat bleibt, zusätzliches Geld zu schaffen. Wenn dieses Geld dann in den Binnenmarkt fließt, steht dort die gleiche Menge Güter einer stetig steigenden Menge Geld gegenüber, was eine Inflation auslöst, die desto größer und desto bösartiger ist, je größer die Verschuldung im Verhältnis zu besagter Menge Güter ist.
Keynes prognostizierte 1919, dass die Verschuldung der europäischen Staaten, die die Folge des ersten Weltkriegs war, letztlich eine Inflation auslösen müsse, die nur verhindert werden könnte, indem die Staatsschulden nicht zurückgezahlt, sondern gestrichen werden. Der Versailler Vertrag, den er heftig kritisierte, war durch seine hohen Reparationsforderungen im Grunde ein Mechanismus, diese Probleme primär auf Deutschland abzuwälzen. Wie dies funktioniert, kann man unter anderem sehen, wenn man einen Blick auf die Lateinamerika-Krise der 1980er wirft, wo die Zinserhöhungen in den USA die US-Inflation in die lateinamerikanischen Länder exportierte, deren Schulden in Dollar notiert waren, was dort eine ganze Serie von Staatsbankrotten auslöste.
Der Grund, warum Keynes eine Löschung der Schulden forderte, war, dass er sagte, es sei gar nicht möglich, die ökonomischen Folgen auf ein Land zu begrenzen. Der Grund, warum er damit in der damaligen Zeit nicht ganz recht hatte, war, dass der Umfang des globalen Handels und insbesondere des europäischen Binnenhandels in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg massiv einbrach; so tief, dass erst in den 1970ern wieder das Niveau erreicht wurde, das noch im Jahr 1913 herrschte. Und natürlich ist Keynes ein Verfechter des Kapitalismus und seine Maßnahmen dienten laut eigenen Aussagen dazu, ein Ende desselben zu verhindern. Das ändert aber nichts an der Gültigkeit einiger von ihm festgestellter Zusammenhänge.
Jeffrey Sachs setzte bereits in Bolivien 1985 eine Reihe von Maßnahmen ein, die ihm zum Teil den Vorwurf einbrachten, der Erfinder der Schock-Therapie zu sein. Was aber nicht ganz stimmt. Sicher waren Kürzungen des öffentlichen Budgets und Freigabe von Preisen Teil des Konzepts. Aber die unten zitierte Aussage belegt, dass – wie von Keynes 1919 vorgeschlagen – eine Streichung der externen Schulden mit dazu gehörte, sowie unter Umständen weitere Unterstützung von außen. Das führt allerdings zu völlig anderen Konsequenzen als das, was als Schock-Therapie bekannt ist.
Bei seiner Beratertätigkeit in Polen und danach in der Sowjetunion ging es darum, irgendwie den Übergang von einer sozialistischen Wirtschaft zurück in eine kapitalistische zu organisieren, nach Möglichkeit, ohne einen völligen Zusammenbruch zu provozieren. Was in Polen tatsächlich gelungen ist; wie die Meisten wissen dürften, in der Sowjetunion allerdings nicht.
Nun kann man die Kapitulation der Sowjetunion für einen ungeheuren Fehler halten (eine Überzeugung, die ich zumindest teile), aber in dem Moment, in dem das geschehen war, und das war spätestens 1989, war die Anpassung der Wirtschaft an die Regeln des anderen Systems eine Notwendigkeit, die nicht umgangen werden konnte. Die Frage war nicht mehr ob, sondern nur noch wie. Tatsächlich verlief diese Umstellung katastrophal, führte zu einem völligen ökonomischen und sozialen Zusammenbruch, der Millionen das Leben kosten sollte und in unzähligen weiteren Ländern schlimme Folgen hatte, beispielsweise durch den Kollaps des indischen Gesundheitssystems.
Der Dreh- und Angelpunkt ist nun die Frage: Hätte es in dieser Form ablaufen müssen? Und wenn sich, von der Kapitulation selbst einmal abgesehen, an irgendeiner Stelle politische Entscheidungen finden, die diese Form der Entwicklung auslösten, wer hat sie getroffen?
Und jetzt sind wir auch durch mit den einführenden Erläuterungen und kommen zu der Geschichte, die Sachs erzählt – immerhin ein Zeitzeuge, der unmittelbar beteiligt war.
"Ich weiß eine Menge über Währungsstabilisierung, das war mein Fachgebiet. Also half ich Polen und seiner neuen Regierung, der Regierung Mazowiecki, und ich hatte wortwörtlich eines Morgens die Idee – ich war auf dem IMF-Treffen im September '89 – ich sagte, Polen braucht einen Stabilisierungsfonds für seine Währung, jetzt, wo es Marktreformen macht. Also tippte ich auf einer Seite zusammen, was ein Stabilisierungsfonds ist, aus der Wirtschaftsgeschichte, und rief Senator Dole an, der der Mehrheitsführer im Senat war. Erst rief ich den polnischen Finanzminister an, der in Washington war, an seinen ersten Tagen als Finanzminister, beim IMF-Treffen in Washington. Und ich sagte, Lesza (Leszek Balcerowicz), soll ich versuchen, heute eine Milliarde Dollar für dich aufzutreiben? Und er: Ja, natürlich, wenn du das schaffst, fein!"
Sachs ging also zu Robert Dole und erklärte seinen Plan. Eine Stunde später erklärt er ihn dem damaligen Nationalen Sicherheitsberater der USA, Brent Scowcroft.
"Und ich gab ihm die Seite, erklärte, was Währungsstabilierung ist, wie das ein Teil der Einsichten von Keynes 1919 war, warum Polen das braucht, und General Scowcroft sagte, gut, wir werfen einen Blick drauf, und Senator Dole sagte, ruf mich gegen Ende des Arbeitstages an. Also am Ende des Tages, um fünf Uhr nachmittags, rief ich im Büro des Senators an, und er sagte, Jeff, sag deinen Freunden, sie haben ihre Milliarde Dollar. Das war ein Tag, das waren acht Stunden."
Sachs hatte mit seinen weiteren Vorschlägen ebenfalls Erfolg, auch die polnischen Schulden wurden gestrichen, und obwohl die Handelsverbindungen nach Osten wegbrachen, hatte Polen fünf Jahre danach wieder eine wachsende Wirtschaft.
"Die Sowjetunion, Jawlinski [Grigori Jawlinksi, mit verantwortlich für den Plan zum Wirtschaftsumbau] beobachtete das und rief mich an: Kann ich dich in Warschau treffen? Und wir trafen uns, lernten uns ein wenig kennen, und ich sagte, ich würde mich freuen, Gorbatschow zu helfen, den ich, nebenbei, kolossal bewunderte. Ich weiß, viele Leute tun das nicht, sie sehen den wirtschaftlichen Zusammenbruch und den der Sowjetunion und den ganzen Rest. Aber Gorbatschow war ein Mann des Friedens und ein Mann von unglaublichem Anstand. Und er wollte ein gemeinsames europäisches Haus, und ich liebte die Idee und blieb bei ihr, das muss ich sagen, die nächsten 33 Jahre hängen, denn das ist das, was wir wirklich brauchen. Nicht die Barrieren."
Sachs arbeitete zu der Zeit nicht allein, sondern mit einer ganzen Reihe später bedeutender Wirtschaftswissenschaftler zusammen, um diese Hilfe zu leisten.
"Wir hatten im Frühjahr 1991 sogar ein Projekt in Harvard und dem MIT, um einen Plan zu entwerfen. Ich habe einen wichtigen Teil davon geschrieben, beruhend auf dem, was Polen getan hatte, die Währung stabilisieren, eine Hyperinflation vermeiden und die Schulden erlassen zu bekommen, einen Neuanfang und Wirtschaftswachstum. Und das Weiße Haus lehnte es direkt ab. Absolut. Sofort. (…) Das war keine schräge Gruppe, wir waren wirklich Establishment, und wir sagten: Helft der Sowjetunion, um einen finanziellen Zusammenbruch zu vermeiden. Nichts. Das Weiße Haus sagte im Grunde: Lächerlich, wir helfen der Sowjetunion nicht, ob das nun Gorbatschow ist oder nicht."
Dieselbe Reaktion wiederholte sich noch einmal im September des gleichen Jahres.
"Ich kam im September '91 und traf mich mit Gaidar, und, nur als Beispiel: die Finanzvertreter der G7 kamen im November nach Moskau. Und ich weiß eine Menge darüber. Also sagte ich zu Gaidar, ein wunderbarer Mensch, sag ihnen, du brauchst ein Moratorium bei den Zahlungen der Schulden. Euch gehen die Reserven aus. Ehe alles explodiert, braucht ihr einen Stillstand. Ich war bei ihm in dem Raum, als die Vertreter der G7 hereinkamen, dann wartete ich draußen. Das Treffen endete, und er kam mit fahlem Gesicht heraus. Ich fragte, Jegor, was ist passiert? Er sagte, sie haben mir gesagt, wenn wir nicht jeden Dollar zahlen, stoppen sie sofort alle Hilfen, die Nahrungsmittellieferungen auf See – ihr zahlt jeden Penny, den ihr schuldet. Und in den ersten Tagen des Jahres 1992 gingen Russland die Devisenreserven aus. Und wenn man Erfahrung mit Finanzen hat, dann heißt das: Bumm! So fängt eine Hyperinflation an. Ich ging zurück ins Weiße Haus und sagte: Macht ihr Witze? Ich ging zum IMF, schaut, was Polen gemacht hat. Nichts. Ich ging zum Außenminister. Der sagte mir: Mister Sachs, selbst wenn ich Ihnen zustimme, möchte ich Ihnen sagen, das wird nicht passieren. Diese Hilfe werden sie nicht bekommen."
Schätzungen sprechen davon, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion etwa dreieinhalb Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Durch den Wegfall der Gesundheitsversorgung, den Mangel an Nahrungsmitteln, die Kriminalität – es gibt viele konkrete Gründe. Deutlichster Beleg dafür, wie groß die Katastrophe war, die sich entfaltete, ist, dass die Lebenserwartung der Männer in Russland um ganze zehn Jahre zurückging und sich erst unter Putin langsam wieder erholte.
Sachs redet für Polen von einer Finanzhilfe von einer Milliarde US-Dollar und einem Schuldenerlass. Sicher, das wäre im Falle der Sowjetunion teurer gewesen. Aber man sollte nicht vergessen, dass die USA allein für den Maidan-Putsch nach Aussagen von Viktoria Nuland fünf Milliarden US-Dollar aufgewandt haben; von den Summen, die augenblicklich in die Ukraine fließen, ganz zu schweigen. Man kann kaum behaupten, dass die wirtschaftliche Stabilisierung der Sowjetunion durch den Westen nicht hätte finanziert werden können. Und die Wirksamkeit der Strategie war zu diesem Zeitpunkt keine Vermutung, da das Beispiel Polen sie bereits belegt hatte.
Was Jeffrey Sachs hier erzählt, beweist, dass das Elend, das die neunziger Jahre in Russland prägte, vermeidbar war; dass aber in Washington eine politische Entscheidung fiel, genau dieses Elend zuzulassen. Es war der Anfang der US-amerikanischen Hybris, den Kalten Krieg gewonnen zu haben; eine Hybris die nur möglich war, weil die ungeheuren Kosten, die der Kalte Krieg auch in den USA ausgelöst hatte, über die Dominanz des US-Dollar bis heute auf andere Länder abgewälzt werden können. Vernünftigere Menschen als jene, die bereits damals die US-Außenpolitik bestimmten, sagen, die USA hätten nicht gewonnen, sie seien nur übrig geblieben.
Was ihnen nun droht, ist die zweite Hälfte des Zusammenbruchs, der eigentlich die Folge des Kalten Krieges ist. Sobald die Weitergabe über den US-Dollar nicht mehr möglich ist, ersticken die USA unter dem Gewicht ihrer Schulden. Wird es irgend jemanden geben, der bereit ist, sie vor der Katastrophe zu bewahren, wie sie es der Sowjetunion damals verweigerten?
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