Von Igor Karaulow
Der jüngste Anschlag auf die Krim-Brücke durch ukrainische Terroristen – bereits die zweite in einem Jahr – hat in unserer Gesellschaft die üblichen Gefühlsschwankungen ausgelöst. Unsere Herzen fordern Vergeltung!
Möglichkeiten der Vergeltung werden rege diskutiert, das Publikum applaudiert dem Höhenflug der Phantasie. Jemand schlägt, wie schon oft zuvor, vor, die Bankowaja-Straße in Kiew (Amtssitz des ukrainischen Präsidenten – Anmerkung der Redaktion) zu treffen, jemand anderes, den Hafen von Odessa zu bombardieren, da wir aus dem Getreidehandel ausgestiegen sind, ein Dritter, mindestens eine Brücke über den Dnjepr zum Einsturz zu bringen. Der Sieger im aktuellen Beliebtheitsranking ist der Vorschlag, die Tower-Bridge in London anzugreifen. So ist der Maßstab der russischen Träume!
Wie auch anders? Es ist unmöglich, den Tod eines jungen Ehepaars, die Tatsache, dass dessen Tochter als Waisenkind aufwachsen wird, gelassen zu betrachten. Man kann nur mit den vielen Tausenden von Urlaubern mitfühlen, für die es jetzt sehr viel schwieriger ist, auf die Krim zu kommen und sie zu verlassen. Die Menschen tun mir leid, mein Herz bricht, ich möchte weinen vor Wut und Unvermögen, etwas zu tun. Man kann diese Emotionen nicht für sich behalten, man muss sie rauslassen, sich äußern. Die Frage ist jedoch: Wie geht es tatsächlich weiter?
Und weiter beginnt die Arbeit nicht von Bloggern, sondern von Menschen in Uniform. Die russischen Luftstreitkräfte greifen verschiedene Einrichtungen in der Ukraine an. Der FSB berichtet von der Festnahme eines weiteren ukrainischen Saboteurs. Vielleicht werden noch andere Maßnahmen ergriffen, die einige als Vergeltung begrüßen, während andere sich unzufrieden darüber beschweren, dass wieder einmal nicht das getan wird, wovon die Blogger geträumt und worüber sie geschrieben haben.
Doch allmählich verschwindet der Grund für die Wut im Archiv des Bewusstseins und die Person beruhigt sich – bis zur nächsten aufsehenerregenden Nachricht. Wie viele von solchen emotionalen Zyklen hat es schon gegeben, wenn es schien, dass sich jetzt, nach diesem einen feindlichen Schlag, das Vorgehen im Rahmen der Militärischen Sonderoperation radikal ändern muss? Und jedes Mal war da so ein Gefühl: Jetzt geht es richtig los, jetzt muss es richtig losgehen.
Der erste Bombenanschlag auf die Krimbrücke im Oktober 2022, die Ermordung von Dascha Dugina und Wladlen Tatarski, das Attentat auf Sachar Prilepin, bei dem sein Freund und Fahrer Aleksandr Schubin getötet wurde. Entgegen unseren Erwartungen war unsere Armee nach all diesen Terrorakten nicht auf Rache aus, sondern setzte ihre Arbeit nach den Plänen fort, die das Kommando entwickelt hatte.
Stellen Sie sich vor, wir schreiben das Jahr 1941, der Große Vaterländische Krieg ist in Gange, der Feind greift Moskau und Leningrad an, und jemand fragt:
"Die Deutschen haben in Babi Jar Juden ermordet, und wo bleibt unsere Vergeltung? Wo ist die Vergeltung für die Hinrichtung von Soja Kosmodemjanskaja? Für das zerstörte Peterhof? Für die zerstörte Jasnaja Poljana?"
Solche Fragen würden seltsam klingen. Der Feind begeht jeden Tag Gräueltaten, und wir bekämpfen ihn jeden Tag – was braucht es da noch? Außerdem würden die zuständigen Behörden einen solchen Menschen fragen:
"Sie behaupten also, dass die Rote Armee bisher nicht in voller Stärke gekämpft hat? Und woher haben Sie diese Information? Das wollen wir herausfinden."
Man kann es sich ausmalen, wie es für einen solchen Kritiker damals weitergegangen wäre.
Heute können wir frei über Entscheidungen der militärischen und politischen Führung diskutieren, und dennoch scheint es mir zumindest naiv zu glauben, dass unsere Armee über irgendeine Waffe verfügt, die sie bisher zurückgehalten hat und die sie jetzt, nach einer besonders dreisten oder brutalen Gräueltat des Feindes, unbedingt einsetzen wird.
Mit einer solchen Denkweise würden wir unser Handeln von den Handlungen des Feindes abhängig machen. Wenn der Feind die Krim-Brücke sprengt, müssen wir die Brücken über den Dnjepr sprengen. Und wenn sie es nicht tun, sollten wir es nicht tun? Meiner Meinung nach sollten wir nicht nach dem Prinzip "Auge um Auge" vorgehen, sondern nach den konkreten militärischen Erfordernissen. Wenn uns diese Brücken behindern, dann sollten wir sie ohne besonderen Grund zerstören. In diesem Fall ist ihre Existenz und ihre Nutzung für die Logistik der ukrainische Streitkräfte Grund genug. Schließlich hat Russland die militärische Sonderoperation selbst eingeleitet und ihre Ziele selbst definiert. In dieser historischen Situation ist Russland also einfach dazu verdammt, die Initiative zu ergreifen und sich nicht darauf zu beschränken, auf äußere Anreize zu reagieren.
Die Armee kämpft so gut sie kann mit dem, was sie hat. Unsere Rüstungsindustrie beschleunigt die Produktion rasant. Zu Beginn der Militärischen Sonderoperation waren wir den Ukrainern in Bezug auf Drohnen unterlegen; Enthusiasten kauften sie im chinesischen Onlinehandel für unsere Soldaten, und jetzt sind die Ukrainer selbst erstaunt über das Tempo der russischen Drohnenproduktion. Auch die Produktion anderer Waffen nimmt dramatisch zu.
Daher rührt insbesondere der Erfolg unseres Militärs bei der Eindämmung der ukrainischen Gegenoffensive. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Erfolge durch tägliche Beharrlichkeit, Widerstandsfähigkeit und Mut erzielt werden, nicht durch einen impulsiven Ausbruch mit dem Ruf: "Ich reiße alle in Stücke!" Die Zeiten von Achilles, der den Tod von Patroklos abwartete und erst dann begann, "alle in Stücke zu reißen", sind längst vorbei.
Das sichtbarste Ergebnis der Arbeit unseres Militärs an der Front ist übrigens die Möglichkeit, die Durchfahrt einer großen Anzahl von Fahrzeugen über den Landkorridor auf die Krim, durch die "neuen Gebiete" hindurch, schnell zu organisieren. Nach den Plänen der ukrainischen Führung sollten die "neuen Gebiete" zu diesem Zeitpunkt in zwei Hälften geteilt sein und die Kiewer Truppen das Asowsche Meer erreicht haben. Dies ist jedoch nicht geschehen, so dass die logistische Wirkung des Terroranschlags auf die Krim-Brücke deutlich geringer ausfiel als erwartet.
All dies schließt die Notwendigkeit von Vergeltungsmaßnahmen nicht aus. Die Vergeltung darf nur nicht im Affekt, unter dem Eindruck feindlicher Provokationen und anderer singulärer Ereignisse erfolgen. Sie sollte in eine systematische Arbeit umgewandelt werden. In diesem Sinne hat Dmitri Peskow Recht, wenn er sagt, dass die beste Reaktion auf den ukrainischen Angriff letztlich darin bestünde, die Ziele der Sonderoperation zu erreichen.
Es ist nicht nur wichtig, sich nicht zu impulsiven Reaktionen hinreißen zu lassen, es ist genauso wichtig, nicht zu vergessen, was geschehen ist. Emotionale Schwankungen und Affekt haben nämlich das Kurzzeitgedächtnis zur Kehrseite. Deshalb ist es notwendig, die Ukraine nicht nur als terroristischen Staat zu bezeichnen, sondern sie rechtlich als solchen festzuschreiben und alle Mitarbeiter dieses Staates als Komplizen des Terrors zu qualifizieren.
Manche wenden ein: Die ukrainischen Streitkräfte greifen kritische Infrastrukturen an, und wir greifen sie auch an. Aber es gibt einen Unterschied. Wenn es einen Waffenstillstand gibt, werden die russischen Angriffe sofort aufhören, während es unvernünftig wäre zu erwarten, dass der ukrainische Terror aufhört. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Sabotage in unserem Rücken sowie der Beschuss von Zivilisten dann weitergehen würden, wie in den Jahren der geltenden Minsker Verträge. Die Erfahrungen von damals belegen den terroristischen Charakter des Kiewer Regimes. Daher gibt es keine Möglichkeit, diesen Konflikt ohne einen Regimewechsel in Kiew zu beenden.
Übersetzung aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 20.07.23 auf vz.ru erschienen.
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