Von Dagmar Henn
Ehe man Joachim Gauck zuhört oder überlegt, ob und inwieweit seine Aussagen etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben, muss man sich in Erinnerung rufen, wer da spricht. Ein ehemaliger Pfarrer, angetrieben von einem unbezähmbaren Groll gegen die DDR und die Sowjetunion, weil Letztere es gewagt hatte, seinen Vater als Kriegsverbrecher zu verurteilen und einzusperren.
Nach der Annexion begann seine große Karriere – er übernahm die Leitung der Behörde, in der die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gelagert wurden (übrigens auch alle Ermittlungsakten zu Naziverbrechen). Diese Behörde unter seiner Leitung spielte eine zentrale Rolle dabei, nicht nur die Regierungsstrukturen, sondern auch die Universitäten von allem, was nur entfernt sozialistisch aussah, zu säubern. Er ist also einer der Hauptverantwortlichen für den heutigen intellektuellen Zustand Deutschlands.
Nach seiner Tätigkeit als Großinquisitor wurde er dann zum Bundespräsidenten gemacht. Das war, angesichts seiner Geschichte, ein klares Signal in Richtung der angegliederten Regionen, dass nach wie vor keine realistische Betrachtung gewünscht ist, was nach 1989 eigentlich wem angetan wurde. Und in seinem Gespräch mit Markus Lanz hat er auch erneut bewiesen, dass er die Opfer der feindlichen Übernahme samt und sonders für selbst an ihrem Schicksal schuldig hält.
Da geht es nicht um den Bereich der politischen Verfolgung; es geht um die Anerkennung von Berufsabschlüssen und vielfach schlicht um die Tatsache, dass einfach keine Industrie, kein Betrieb übrig blieb, bei dem die arbeitslos Gewordenen hätten unterkommen können.
Dieser industrielle Kahlschlag, der auf dem Gebiet der DDR erfolgte, hat Folgen bis heute ‒ ähnlich wie im Ruhrgebiet trat eben keine neue an die Stelle der verlorenen Industrie, und beide Regionen sind nach wie vor verarmt, woran ein einzelner Beschäftigter oder nach Beschäftigung Suchender auch nichts zu ändern vermag.
Gauck allerdings ist ein Anhänger einer abstrakten, pauschalen "Freiheit", gleich, ob es darum geht, an der Börse zu spekulieren oder die Wohnung zu verlieren. Es seien eben viele im Annexionsgebiet "vielfach zu alt zum Erlernen der neuen Berufe" gewesen. Dennoch, behauptet er, sei "unsere Gesellschaft so organisiert, dass keiner unter Brücken schlafen muss". Es ist wohl eine Zeit her, dass Gauck unter den Brücken einer deutschen Großstadt nachgesehen hat.
Wenn er anfängt, die Botschaft vom irgendwie demokratisch behinderten Ossi zu wiederholen, hat das inzwischen durchaus komische Züge, selbst wenn das weder Gauck noch Interviewer Markus Lanz bemerken.
Klar, was umtreibt, sind die Umfragewerte der AfD. Und Gauck, dem man immer den Pfarrer anmerkt, erklärt, "dass immer, in jedem Land, eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung so gestrickt ist, so geprägt ist psychisch, dass sie stärker Führung sucht und nicht so sehr eigene Mitwirkung und Mitbestimmung. Dass sie eher ein autoritäres Lebensprinzip bevorzugt und Freiheit eher problematisch ist, Sicherheit ihr eigentliches Hauptthema."
So, meint er, seien eben die Ossis ‒ auch wenn sie nichts dafür könnten, weil sie so lange unter Diktaturen leben mussten. "Diese sehr starke Rückbindung an autoritäres Geführtwerden, die ist da, und das lässt sich bei jeder Wahl belegen."
Nun, es gibt aus diesem Jahr die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) zum Demokratievertrauen, deren Ergebnis, sobald man die Daten unvoreingenommen betrachtet, ein völlig anderes Bild zeigt. Dort bevorzugten die nach Gauck so autoritären Ostdeutschen die direkte Demokratie, während die Werte für die tatsächlich undemokratische Expertenherrschaft bei jungen, einkommensstarken und als Mitte-Links kategorisierten Befragten die größte Anhängerschaft hatte.
Passt es mit einem "autoritären Lebensprinzip", was immer das sein mag, zusammen, wenn man der Regierung gegenüber skeptisch ist und mehr direkte Demokratie will? Das ist eher die Position, in der man selbst aktiv nach Informationen suchen und sich seine Meinung erarbeiten muss, anders als jene, die vor dem Fernseher sitzen und alles glauben, was ihnen erzählt wird.
Ein kleines Beispiel aus der FES-Studie: Die Aussage "Die Gefahren des Impfens werden von der Politik und den meisten Medien absichtlich heruntergespielt" ‒ eine Ansicht, deren Gültigkeit mittlerweile belegt ist, die die FES aber unter "Verschwörungstheorien" einsortierte – wird im Osten von etwas über 50 Prozent der Befragten geteilt, im Süden von 38 Prozent, im Norden aber nur von 27. Entspricht das nun dem Wunsch, geführt zu werden?
Tatsächlich sind das ganz andere gesellschaftliche Gruppen, die gern dem folgen, was ihnen präsentiert wird. Eben jene, die sich auch für die Expertenherrschaft aussprechen, die Wohlhabenderen, diejenigen, die den Institutionen vertrauen.
Allerdings, das deutlich niedrigere Vertrauen in die Institutionen ist eben auch Resultat der Erfahrungen, die seit 1989 gemacht wurden. "Lange politische Ohnmacht bleibt nicht ohne Folgen." Mit dieser Aussage hat Gauck ausnahmsweise mal Recht. Wie steht es denn mit der politischen Ohnmacht, wenn nach wie vor 90 Prozent der Leitungsfunktionen in den gekaperten Bundesländern von Westdeutschen besetzt sind? Über dreißig Jahre kann man durchaus eine "lange politische Ohnmacht" nennen, und dass man Institutionen nicht vertraut, die in dem Maß feindselig agiert haben wie die Treuhandanstalt und sonstige bundesdeutsche Behörden, das ist schlicht gesunder Menschenverstand.
"Gehorsam und Anpassung wie zu Zeiten der Fürsten bringt dich nach oben." Das ist etwas, was Gauck der DDR zuschreibt, als gäbe es das in der Bundesrepublik nicht. Das gab es aber immer. Nur in letzter Zeit wurde dieser Satz noch erweitert: "Ungehorsam und Unangepasstheit bringt dich, wie zu Zeiten der Inquisition, sehr schnell nach unten." Die Beispiele müssen hier wohl nicht einzeln aufgeführt werden; es genügt zu wissen, dass inzwischen selbst die Rentenversicherung Personen kündigt, die eine falsche Ansicht zur Ukraine äußern.
"Und dann erinnern sie sich so wie die Generation meiner Eltern nach dem Krieg: Ja, es war auch nicht alles schlecht beim Führer. Also es war ja früher nicht alles schlecht in der DDR."
Dass die DDR weder einen Weltkrieg begonnen noch Millionen in Vernichtungslager geschickt hat, ist egal. Dass es in der Bundesrepublik eine lange und ausgeprägte Geschichte politischer Repression gibt, ebenso. Pfarrer Gauck besteht darauf, dass "eine signifikant große Minderheit […] diesen Abschiedsprozess von dem Alten nicht abgeschlossen" habe.
"Sie sind in einem Zwischenreich, sie fremdeln mit dieser offenen Gesellschaft, die ist ihr [sic!] zu vielfältig, macht ihr Angst."
Die Vielfalt erlebt man tagtäglich, wenn man den Fernseher einschaltet oder die Zeitung aufschlägt. Sofern es sie in der Bundesrepublik je gab – Vielfalt von Meinungen, nicht Vielfalt von Waschmittelpackungen ‒, unterlag sie immer stärkeren Einschränkungen als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern. Gut, das kann Gauck nicht wissen, er hat nie in der alten Bundesrepublik gelebt.
Er erfüllt schlicht brav seine Funktion. Den folgsamen Westdeutschen auf die Schulter klopfen, ihre Autoritätshörigkeit wegdefinieren, und dafür die bösen Ossis zu politisch Behinderten erklären, die zwar nichts dafür könnten, von Demokratie nichts zu verstehen, aber eben doch die Bösen wären. Und zwischendrin einen Freiheitsbegriff propagieren, der zutiefst sozialdarwinistisch ist. Nun, es waren vor allem die Grünen, die damals Gauck als Bundespräsidenten propagierten. Von ihrer Zuneigung zu dem radikalen Antikommunisten Gauck hin zu jener für ukrainische Nazis und die Vormacht der USA führt eine einzige, ununterbrochene Linie.
Die wirkliche, unausgesprochene Kernaufgabe zu Beginn der politischen Karriere des Herrn Gauck war es, die Naziakten unter Verschluss zu halten, die dem Einigungsvertrag zufolge eigentlich ins Bundesarchiv hätten gehen müssen. Aber in der DDR wurde eben auch über politische Größen der Bundesrepublik ermittelt, und solange diese noch lebten, brauchte es einen Wachhund, der verhinderte, dass der Inhalt dieser Akten politische Folgen haben konnte. Gaucks Funktion war also nicht nur, die ganze (im ursprünglichen Wortsinne) linke Traditionslinie in deutschen Universitäten auszulöschen, er hütete auch das Westerbe der Nazis (sowie die Akten über seinen eigenen Vater).
Genau das tut er auch, wenn er die Behauptung vertritt, die "Ossis" seien die Rechten dieser Republik. Weil diese Behauptung von der unheilvollen Kontinuität in der Bundesrepublik ablenkt und gleichzeitig von der Tatsache, dass im Osten die russische Position womöglich deshalb so gut verstanden wird, weil man selbst die Erfahrung gemacht hat, vom Westen ausgeplündert zu werden, und deshalb gut nachvollziehen kann, wenn jemand genau diesen Zustand nie wieder zulassen will. Gauck war einer der wichtigsten Helfer bei diesem Raubzug.
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