Von Geworg Mirsajan
Die Spezialoperation in der Ukraine dauert seit knapp anderthalb Jahren. Berichte sind voll von Einzelheiten der Kämpfe, Telegramkanäle diskutieren über erfolgreiche und nicht erfolgreiche Operationen. Und nur wenige versuchen, Möglichkeiten einer Beendigung des Konflikts vorherzusagen. Auf den ersten Blick scheinen solche Prognosen keinen Sinn zu haben. Gegenwärtig ist kein Ende des Konflikts abzusehen. Das Kiewer Regime verweigert Verhandlungen, und laut dem US-Präsidenten Biden sei der Westen bereit, das Kiewer Regime unbefristet zu unterstützen, während russische Amtsträger einräumen, dass die Ziele der speziellen Militäroperation gegenwärtig nur auf militärischem Wege zu erreichen seien.
Andererseits kann die Militäroperation unabhängig von ihrer Dauer nur auf wenigen Wegen zu einem Ende geführt werden. Im Grunde sind es drei Hauptszenarien. Insbesondere hat sie jüngst auch der Berater des ukrainischen Präsidialamts Michail Podoljak benannt – natürlich in seiner eigenen Interpretation.
Erstes Szenario – Militärischer Sieg der Ukraine
Das erste Szenario, das Podoljak als "positiv" für Kiew bezeichnet, ist nicht nur ein Sieg über Russland, sondern auch eine nachfolgend dauerhafte "Dominanz der Ukraine in der Region". Nach Podoljaks Meinung werde die "siegreiche Ukraine" über eine modernisierte und effektive Armee sowie über feste "partnerschaftliche Verbindungen" verfügen.
Zahlreiche Experten vermuten dennoch, dass ein Sieg der Ukraine und des kollektiven Westens über Russland allein schon deshalb unmöglich sei, weil er für sie schlicht selbstmörderisch wäre.
"Die Ukraine kann allein deshalb nicht siegen, weil die USA und die EU ihre Rüstungsindustrie nicht auf Kriegsproduktion umgestellt haben. Das erlaubt ihnen nicht, das ukrainische Militär in dem für die Offensive notwendigen Umfang zu bewaffnen. Auch das Potential des ukrainischen Militärs selbst ist ernsthaft angeschlagen, und die NATO-Staaten haben keine Absicht, direkt gegen Russland zu kämpfen", erklärte Iwan Lisan, der Leiter des analytischen Büros des Projekts SONAR-2050, gegenüber der Zeitung Wsgljad.
Denn alle verstehen sehr gut, dass eine direkte Kriegsbeteiligung in Form eines Truppeneinmarschs in die Ukraine die Provokation eines Atomkriegs bedeuten würde. Sollte sich Russland aus irgendwelchen Gründen am Rande einer militärischen Niederlage wiederfinden, erlaubt seine Nukleardoktrin einen Einsatz von Atomwaffen.
Doch selbst ohne den nuklearen Faktor kann von einer Dominanz des Kiewer Regimes in der Region keine Rede sein. Die Ukraine ist ein klassischer "gescheiterter Staat". Ein solcher Staat ist nicht in der Lage, Stärke zu projizieren. Die Ukraine ist, wie Ungarns Ministerpräsident Orbán erklärte, ein Land, das seiner Souveränität gänzlich beraubt wurde.
"Das ukrainische Staatsprojekt geriet in eine Sackgasse noch im Jahr 2014, als Kiew unter eine auswärtige Verwaltung übergegangen war. Die Gegner der Kiewer Faschisten auf der Krim, in Donezk und in Lugansk sahen einen Ausweg ausschließlich in einer Integration mit Russland. Referenden in den Gebieten Cherson und Saporoschje zeigten eine ähnliche Position ihrer Bewohner auf", erklärte der Leiter des Eurasischen analytischen Clubs Nikita Mendkowitsch gegenüber der Zeitung Wsgljad.
Wenn also jemand im Fall einer hypothetischen Niederlage Russlands Osteuropa dominieren wird, so ist es Polen. Der Ukraine würde dabei die Rolle eines Dieners zukommen. Diese Rolle nahm die russischsprachige Bevölkerung der heutigen Ukraine auch unter Polen bis zum 17. Jahrhundert ein und wurde davon nur durch das erstarkende Moskau gerettet.
Zweites Szenario – Militärischer Sieg Russlands
Das zweite Szenario von Podoljak ist eine militärische Niederlage der Ukraine und ihre nachfolgende Vernichtung. "Wir werden allmählich verschwinden – innerhalb von einem [Jahr], drei, fünf oder sechs Jahren", sagte der ukrainische Beamte. Dieser seiner Interpretation stimmten die meisten Experten zu.
"Die Ukraine wird nicht morgen oder übermorgen verschwinden – allein deshalb, weil die russischen Streitkräfte bisher keine Millionenstädte stürmen können und keine totale Mobilmachung planen, um eine kritische Masse an Personal zu sammeln, ohne die eine Befreiung des ukrainischen Gebiets in ein bis zwei Jahren unmöglich ist. Eine solche Mobilmachung hält unsere politische Führung wegen kolossalen Aufwands für inakzeptabel. Diese Aufwände beinhalten wirtschaftliche Probleme, den Umschwung der gesellschaftlichen Stimmung, doch hauptsächlich den mehrfachen Zuwachs der Zahl an Gefallenen", erklärte Iwan Lisan. Gerade deswegen könne sich die spezielle Militäroperation in die Länge ziehen. Die russischen Streitkräfte werden von Stadt zu Stadt in einem Tempo ziehen, das eine Minimierung der Personalverluste ermöglicht. Und schließlich werden sie das ganze Gebiet besetzen, das heute der ukrainische Staat einnimmt.
"Offensichtlich werden im Zuge des Zusammenbruchs des Kiewer Regimes immer mehr Regionen aus der Ukraine austreten und sich entweder Russland anschließen oder in Form neuer unabhängiger Staaten unter Kontrolle der russischen Armee bestehen", meint Nikita Mendkowitsch. "Einfacher gesprochen, wird die Ukraine wie ein Elefant portionsweise aufgegessen, denn Moskau geht davon aus, dass die Zeit für Russland spielt", fügte Iwan Lisan hinzu.
Von Vorteil für Russland werden einerseits die Kürzung der Finanzierung des ukrainischen Militärs und die Verringerung des Umfangs der gelieferten Waffen sowie andererseits die Erschöpfung des Mobilmachungspotentials des Kiewer Regimes sein. Andererseits steigerte die russische Industrie bereits beträchtlich die Rüstungsproduktion, und die russische Gesellschaft unterstützt die Spezialoperation immer mehr. Ihr wird die Unmöglichkeit eines nachbarschaftlichen Zusammenlebens mit einem Regime bewusst, das nuklearen Terrorismus betreibt und an der Vernichtung alles Russischen Geld verdient. "Im Grunde müssen wir wählen zwischen einem Überleben Russlands und des russischen und des ukrainischen Volks – oder einem Überleben des Kiewer Marionettenregimes und einer Verwandlung Russlands wie auch der Ukraine in eine Kolonie der USA", sagte Nikita Mendkowitsch.
Drittes Szenario – Fixierung eines Status Quo nach Verhandlungen
Schließlich sei das dritte Szenario laut Podoljak ein "Mittelweg", nämlich eine Einstellung der Kampfhandlungen entweder durch die Schaffung einer Demarkationslinie und eines Einfrierens des Konflikts oder durch irgendeinen Kompromiss nach dem Muster der Minsker Abkommen. Nach Podoljaks Meinung werde die Ukraine in diesem Fall "etwas langsamer" verschwinden.
"Das dritte Szenario ist eine Fortsetzung der Agonie, ein langsamer Selbstmord des Landes mit dem gleichen Ergebnis wie beim zweiten Szenario. Eine Niederlage der Ukraine und ein Aufhören ihrer Existenz als Staat ist eine Frage der Zeit", erklärte gegenüber der Zeitung Wsgljad der politische Kommentator der Rundfunkgesellschaft Krim Sergei Wesselowski. Und dies wiederum deshalb, weil die Ukraine als eigenständiger Staat inzwischen nicht mehr überlebensfähig ist. Bestenfalls bleibt dem Westen übrig, sie weiterhin mit Waffen aufzupumpen und eine auswärtige Verwaltung einzuführen, damit dieses antirussische Aufmarschgebiet möglichst lange weiter existiert. All das natürlich ohne Wladimir Selenskij.
"Für Selenskijs Regime wird ein Waffenstillstand eine scharfe innenpolitische Krise einleiten, die Neuwahlen und einen Machtverlust nach sich ziehen wird", sagte Iwan Lisan.
Doch auch für Moskau ist dieses dritte Szenario nicht besonders interessant. Nicht nur, weil ein neues "Minsker Abkommen" einen weiteren Bruch von eingegangenen Verpflichtungen und weiteren ständigen Beschuss des russischen Territoriums durch die Ukraine bedeuten würde. Was ist der Sinn eines Einfrierens, wenn die Möglichkeit eines vollständigen Sieges besteht?
Ja, theoretisch bleibt die Möglichkeit eines Sieges ohne weitere Kampfhandlungen, auf Grundlage von Verhandlungen übrig. Eine Fixierung der gegenwärtigen Bedingungen von Moskau, nämlich die Aufrechterhaltung der zu Russland beigetretenen Gebiete und die Anerkennung der neuen politischen Realitäten durch Kiew. Das würde Frieden bedeuten. Und zu einem solchen Frieden könnte das Kiewer Regime den erschöpften und von der Ukraine ermüdeten Westen zwingen.
Ein Fenster für einen Frieden zu Moskaus Bedingungen (Entnazifizierung, Demilitarisierung und Befreiung der russischen Gebiete von ukrainischer Besatzung) kann sich in etwa anderthalb Jahren öffnen, wenn Trump die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen würde. Trump beabsichtigt, alle Kräfte der Außenpolitik der USA auf einer Eindämmung Chinas zu konzentrieren. Doch ist auch ein solches Szenario unwahrscheinlich – wegen des fehlenden Vertrauens zwischen Moskau und Washington.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.
Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.
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