Von Dagmar Henn
Manchmal mag man nicht glauben, was man zugetragen bekommt. Das gilt auch für den Antrag der Regierungskoalition im Ausschuss für Inneres und Heimat mit Nummer 20(4)259 vom 7. Juni dieses Jahres; den musste ich auf dem Bundestagsserver lesen, um ihn für echt zu halten. Nun, wer liest schon Ausschussanträge? Es reicht, gelegentlich solche Meisterwerke wie das Gebäudeenergiegesetz lesen zu müssen, wenn sie verabschiedet werden sollen. Kein Wunder also, dass diese Perle deutscher Demokratie über einen Monat unbeachtet schlummerte.
Es geht in diesem Antrag um Passversagung (und automatisch damit auch um Passentziehung), und selbstverständlich werden ganz edelmütige Gründe benannt, warum bei diesem Thema anders reagiert werden müsse – um zu verhindern, dass Deutsche an "ausländischen Veranstaltungen" teilnehmen, "deren Inhalte im Widerspruch zu den Grundsätzen der freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes stehen". Als Beispiel wird danach eine Teilnahme an rechtsextremen Kampfsportkursen vorgebracht, um sicherzustellen, dass man es wirklich gut findet, großzügiger Pässe zu entziehen.
Dazu muss ich vorab zweierlei sagen. Zum einen: Ich sehe mich nicht imstande, auch nur annähernd neutral zu diesem Thema zu berichten, weil mein Instinkt mir sagt, dass ich mit dieser Regelung mit gemeint bin, auch wenn ich definitiv nicht rechtsextrem bin und das Alter für Kampfsportausbildungen doch etwas hinter mir liegt. Zum anderen: Mein Vater, der bis in die Knochen Jurist war, hat mich einmal gelehrt, dass man, will man beurteilen, ob ein Gesetz, eine Verordnung oder ein Verwaltungsverfahren verfassungsgemäß ist, nicht von einer gutwilligen Anwendung ausgehen darf, sondern betrachten muss, ob selbst bei einer maximal böswilligen Anwendung verfassungsgemäße Rechte noch gewahrt sind. Dies vorab, weil viele Menschen nach wie vor derartige Regelungen mit dem Argument hinnehmen, so böse könnten "die" doch gar nicht sein. Abgesehen davon, dass die letzten Jahre in dieser Hinsicht einige unangenehme Lektionen bereit hielten: Exakt dieser Blick auf die schlimmstmögliche Verwendung war eine der Konsequenzen, die demokratische Juristen aus den Nazijahren zogen.
Das Gesetz, auf das sich der oben erwähnte Antrag bezieht, ist gerade in der Anhörung im Bundestag. Der relevante Teil des relevanten Paragrafen, § 7 Passgesetz, Absatz 1, lautet schlicht:
"Der Pass ist zu versagen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme begründen, dass der Passbewerber
1. die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet."
Die restlichen Bestimmungen unter Ziffer 2 bis 11 sind genauer, wobei man nicht übersehen sollte, dass die geplante Änderung interessanterweise sämtliche Punkte, die sich mit der Passversagung für Wehrpflichtige befassen, nicht berührt.
Um eine Vorstellung zu erhalten, was alles von § 7(1)1 PassG gemeint ist, muss man in die "Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Passgesetzes (PassVwV)" gehen, die, das darf man nie vergessen, zwar nur eine Verordnung und kein Gesetz ist, aber die Verwaltungen trotzdem bindet.
In einer Vorbemerkung zu § 7 heißt es immerhin:
"Voraussetzung [einer Passversagung] ist, dass die Annahme des Vorliegens eines Passversagungsgrundes auf gerichtsverwertbare Tatsachen gestützt werden kann. Die bloße Möglichkeit oder eine Vermutung reichen nicht aus."
Und dann folgt unter der Ziffer 7.1.1.3 die Definition, was Tatbestände, "die die innere oder äußere Sicherheit" gefährden, nun eigentlich sind. Oder auch nicht, denn hier finden sich nur drei Querverweise: auf Straftaten, die in den §§ 74a (1) und 120 (1) Gerichtsverfassungsgesetz genannt sind, oder solche, die "gegen die in §4 Absatz 2 des Bundesverfassungsschutzgesetzes genannten Verfassungsgrundsätze gerichtet sind".
Jeder, der ein wenig mit Recht zu tun hatte, wird bei Bandwurmverweisen sofort skeptisch. Schon allein deshalb, weil sich hinter einem winzig erscheinenden Satz ein enormes Feld möglicher Bezüge eröffnet, das für Profis schon schwer zu übersehen, für Laien aber völlig unkontrollierbar ist. Und wie es die Ahnung schon flüsterte, im Gerichtsverfassungsgesetz geht es weiter. Und zwar zu, man möge mir den Paragrafensalat verzeihen, §§ 80a, 81 bis 83, 84 bis 86, 87 bis 90, 90a (3), 90b, 94 bis 100a, 102, 105,106, 109d bis g, 129, 129 a, 129b, 138, 234a, 241a Strafgesetzbuch und als Dreingabe noch das Völkerstrafgesetzbuch. Nicht zu vergessen noch die Definition der FdGO in §4 (2) Verfassungsschutzgesetz, wodurch die Grenzen der Anwendbarkeit des §7 (1) 1 Passgesetz endgültig im Nebel entschwinden.
Das ist die bisherige Rechtslage, aber der Antrag der Ampelfraktionen deutet darauf hin, dass Bemühungen, Pässe zu entziehen (immerhin ein Verwaltungsakt und damit gerichtlich überprüfbar), mehrfach gescheitert sind. Was nicht verwundert, denn so oft auch geschrien wird, dass die eine oder andere politische Handlung die Demokratie gefährde: Meistens beruhen solche Behauptungen auf Belegen, die eben das nicht sind, was die Vorbemerkung der bisher gültigen Verordnung verlangt.
Genau das ist der Punkt, auf den der besagte Antrag zielt. Wer ihn lesen will, darf nie vergessen, dass die ganze Begründung, die vor dem eigentlichen Antrag steht, nur Dekoration ist. Der eigentlich relevante Beschluss lautet wie folgt:
"Vor diesem Hintergrund fordert der Ausschuss für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages die Bundesregierung auf:
1. darauf hinzuwirken, die Passverwaltungsvorschrift insofern zu konkretisieren, als dass bei einer beabsichtigten Teilnahme an extremistischen Veranstaltungen im Ausland, die inhaltlich im Widerspruch zu den Grundsätzen der freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes stehen, eine Gefährdung des internationalen Ansehens der Bundesrepublik Deutschland und somit eines sonstigen erheblichen Belangs der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 1 Var. 3 PassG anzunehmen ist
und
2. darauf hinzuwirken, dass der Informationsfluss von den Sicherheitsbehörden zu den Passbehörden verbessert wird, sodass bei der Entscheidung über eine Passversagung den Passbehörden eine hinreichende Tatsachengrundlage vorliegt, um eine gerichtsfeste Passversagung vornehmen zu können."
Eines kann man mit Sicherheit sagen – deutsche Neonazis, die sich in der Ukraine bei Asow mal eine Waffenausbildung holen, sind nicht gemeint. Das gilt dieser Bundesregierung im Ernstfall sogar noch als nützlich für das internationale Ansehen, weil man nie vergessen darf, dass damit nur das Ansehen im Westen gemeint ist. Ginge es um das Ansehen auf dem gesamten Globus, müsste man Außenministerin Annalena Baerbock den Pass entziehen. Auch für den Rest der Bundesregierung gäbe es einige hübsche Bestimmungen unter der Überschrift Hochverrat.
Aber zurück zum Text. Man muss beim Lesen im Ohr haben, wer alles wofür in den letzten drei Jahren zum "Extremisten" erklärt wurde. Wie wäre das mit einer Konferenz zum Ukrainekrieg in Moskau? Mit einer Tagung über Impfzwänge und Corona-Maßnahmen in der Schweiz? Nachdem es inzwischen schon Delegitimierung des Staates ist, wenn man die Politik der Bundesregierung stärker als milde kritisiert, ist eine Teilnahme an einer Konferenz, die die Theorie des Klimawandels in Frage stellt, noch zulässig, oder ist das auch schon extremistisch?
"Die Passverwaltungsvorschrift insofern zu konkretisieren", das ist ein Arbeitsauftrag an das Innenministerium, die oben zitierte Vorschrift so zu ändern, dass es keine Probleme mehr gibt, eine Passversagung oder einen Passentzug bei Gericht durchzusetzen. Was beispielsweise möglich ist, indem man die Anforderung, es müsse sich um "gerichtsverwertbare Tatsachen" handeln, schlicht streicht. Dass genau in diese Richtung gedacht wird, belegt Punkt 2.
Denn den "Informationsfluss von den Sicherheitsbehörden zu den Passbehörden" zu verbessern, ändert nichts an der Tatsache, dass das, was der Verfassungsschutz, der damit vor allem gemeint ist, vor sich hin raunt, in seltensten Fällen "gerichtsverwertbar" ist. Anders gesagt: Es geht darum, die Vorschrift so zu formulieren, dass "Informationen" aus den Verfassungsschutzämtern so behandelt werden, als wären sie "gerichtsverwertbare Tatsachen", obwohl sie es in der Regel nicht sind, weil es sich nicht um ermittelte Täterschaft bei Straftaten handelt, sondern um politische Zuschreibungen. In dem Bereich, in dem etwas gerichtlich auch nur vorliegt, bräuchte es den ganzen Zirkus um § 7 (1) 1 PassG nicht mehr, dann käme nämlich § 7 (1) 2 zum Zug: "wer sich einer Strafverfolgung oder Strafvollstreckung (…) entziehen will". Auch das muss bisher belegt werden, aber das ist wesentlich leichter.
Ist jetzt klar, warum in der Begründung zu diesem Antrag so laut von "Rechtsextremismus" die Rede ist? In einer Zeit, in der so gut wie alles, was noch halbwegs bei Vernunft ist, als "Nazi" tituliert wird?
Nachdem wir geklärt haben, wer alles zur möglichen Zielgruppe gehört, kommt jetzt die nächste Frage, die aber wesentlich einfacher zu beantworten ist: Welche Konsequenzen hätte das?
Nun, schlicht die, dass es wesentlich erschwert wird, das Territorium der NATO zu verlassen, bzw. wesentlich gefährlicher wird, es zu betreten, gesetzt den Fall, diese Bundesregierung hat mit einem ein politisches Hühnchen zu rupfen (in die EU-Länder kommt man ja mit Personalausweis). Nachdem die Strafverfolgung bereits auf alle möglichen Formen der Kommunikation erweitert wurde (gut, ein Strafverfahren wegen einer Äußerung am Telefon ist mir noch nicht bekannt, aber das kommt womöglich auch noch), besteht der nächste Schritt darin, mögliche Ziele einer solchen Strafverfolgung am Verlassen des Landes zu hindern.
Da eine der Konsequenzen beinahe allgegenwärtiger elektronischer Überwachung darin besteht, dass im Grunde jede, auch absolut legale und zulässige, Form politischen Widerstands nur noch in Gestalt persönlicher Treffen außerhalb des NATO-Gebiets zu organisieren möglich ist, um eine Sabotage gleich zu Beginn zu verhindern, käme eine massive Anwendung des § 7 (1) 1 PassG einer Blockade jeder außerparlamentarischen Opposition gleich.
Das ist übertrieben? Nein, exakt dieses Vorgehen würde ich beispielsweise für den Fall anraten, dass tatsächlich die Gründung einer Wagenknecht-Partei beabsichtigt ist. Ein persönliches Treffen nur von langjährig bekannten, vertrauenswürdigen Personen außerhalb von EU und NATO. Wobei diese Sorge vermutlich nicht berechtigt ist, weil auch das Sahra Wagenknecht nicht davon abhalten wird, wieder irgendwelche Trotzkisten an den Drücker zu lassen.
Es geht also nicht um ein paar Nazispinner, die man davon abhalten können will, irgendwo (außer in der Ukraine) durch den Schlamm zu robben. Es geht darum, eine der wenigen Optionen zu blockieren, die politische Organisation auf Bundesebene noch ermöglichen. Nur, um zu belegen, wie realistisch diese Sorgen sind: Man erinnere sich an die vielfältigen Methoden, mit denen eine zweite zentrale Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen verhindert wurde. Das reichte von Behinderung bei der Buchung von Transportmitteln wie Zügen und Bussen bis hin zu polizeilichen Straßenblockaden. Die Maßnahmen, die verhindern, dass die Menschen, die demonstrieren wollen, überhaupt zum Demonstrationsort kommen, lassen sich nur umgehen, wenn die Verbindung der einzelnen Organisatoren untereinander nicht bekannt ist. Dass all diese Behinderungsmaßnahmen selbst verfassungswidrig sind, ändert leider nichts am Ergebnis.
Was bei Weitem noch nicht das Ende der Möglichkeiten darstellt; aber wenn man die sonstigen Varianten ausführt und daran erinnert, wann und wo Derartiges bereits getrieben wurde, befindet man sich sofort im Bereich unzulässiger historischer Vergleiche.
Es mag also jeder für sich diesen Paragrafen in all seiner Pracht durchs Denken rollen lassen und sich ausmalen, welches Ergebnis eine Anwendung maximaler Bösartigkeit hätte. In normalen Zeiten wäre sofort klar, dass es hier um einen weiteren Angriff auf demokratische Rechte geht. Leider dürfte für viele allein die Dekoration der Antragsbegründung genügen, um gute Absichten zu unterstellen, und die Änderung der Verwaltungsvorschrift zum PassG wird dem Beschluss über die Gesetzesänderung auf dem Fuße folgen.
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