Ganz ohne Lkw: Wie der Staat das Land überrollt

Die "Letzte Generation" wird nicht müde, ihren Widerstand in immer neue Formen zu gießen. Aktuell wird ein Video diskutiert, das einen wütenden Lkw-Fahrer zeigt, der einen Aktivisten vor sich herschiebt. Doch der eigentlich Schuldige bleibt unerwähnt: der Staat.

Von Tom J. Wellbrock

Bei diesem Video erregen sich die Gemüter auf beiden Seiten heftig. Ein Lkw-Fahrer wird durch die "Letzte Generation" an der Weiterfahrt gehindert. Der Mann steigt aus, zerrt die beiden von der Straße, die wiederum gleich lästiger Fliegen sofort an ihren Platz zurückkehren. Erneut zerrt der Fahrer den einen von der Straße und bedroht den anderen mit der Faust. Kurze Zeit später sieht man, wie der Lkw-Fahrer langsam losfährt und einen der Aktivisten ein kleines Stück vor sich herschiebt. Die Empörung im Netz kennt keine Grenzen. Hier das Video:

"Guter Bulle, böser Bulle"

Und dann ist da ja noch die Aktion auf den Flughäfen in Düsseldorf und Hamburg. Pünktlich zur Reisezeit haben es Aktivisten geschafft, auf die Startbahn zu gelangen und sich dort festzukleben. Urlaubsstimmung kommt so bei den Reisenden nicht auf.

Nun kann man natürlich fragen, wie es sein kann, dass die Kleber so einfach auf die Startbahn gelangen konnten. Ein positives Bild auf die Sicherheit von Deutschlands Flughäfen deutet sich da nun eher nicht an. Doch der Punkt ist ein ganz anderer.

Zunächst schauen wir uns die (inzwischen durchaus ermüdende) Argumentation der Aktivisten an. Im Münchner Merkur lesen wir:

"'Wir protestieren gegen die Planlosigkeit und den Gesetzesbruch der Regierung in der Klimakrise', hatte die Gruppe die Klebe-Aktion selbst begründet, 'wo, wenn nicht auf einem Flughafen, ist der richtige Ort gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu protestieren?'"

Soweit nichts Neues. Hier wird Selbstjustiz beschrieben und gerechtfertigt, die an anderer Stelle als unverzeihlich dargestellt wird. Doch auch das ist nicht das Wesentliche. Wir lesen weiter bei Münchner Merkur:

"Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul geht die 'Letzte Generation' für die Flughafen-Blockade scharf an. 'Diese Klima-Chaoten sind keine Aktivisten, sondern Kriminelle. Flugzeuge, die die Landung abbrechen müssen, Familien, denen man den Start in den Urlaub verderben will – das hat rein gar nichts mit legitimem Protest zu tun. Wer das mitmacht, muss wissen: Gefährlicher Eingriff in den Luftverkehr und Nötigung sind Straftaten.'"

Schwach gebrüllt, Löwe! Denn faktisch werden die Aktionen der "Letzten Generation" geduldet, zum Teil – insbesondere aus den Reihen der Grünen – auch unterstützt oder zumindest gutgeheißen. Das Ziel sei ja richtig, die Forderungen nachvollziehbar, also dürfe man nicht zu kritisch mit den Klimaklebern sein.

Teile der Politik – ganz nach dem Motto "Guter Bulle, böser Bulle" – bewundern also die ach so mutigen (und ängstlichen) Menschen, die sich festkleben, wo es nur geht. Andere spielen sich als Wächter von Recht und Gesetz auf, freilich, ohne beides wirklich durchzusetzen.

Unterm Strich werden die Aktionen zugelassen und nur mäßig bestraft, was schon deshalb inkonsequent ist, da hier ganz offenkundig Straftaten vorliegen. Was jedoch der Gipfel der Schizophrenie ist: Die Politik wird von der "Letzten Generation" für ihre verfehlten Klimaschutzaktivitäten kritisiert und macht daraus etwas vollkommen anderes, nämlich eine gemeinsame Interessenlage. Sie suggeriert, dass sie mit den Klimaklebern "in einem Boot sitzt", obwohl die doch ihre Aktionen nur machen, weil die Politik agiert, wie sie agiert.

Gleichzeitig sind immer wieder strenge Stimmen aus der Politik zu vernehmen, die sowohl dem Lkw-Fahrer (der scheinbar inzwischen seinen Job los ist) als auch den gestressten Urlaubern oder sonstigen Reisenden vollstes Verständnis entgegenbringen. Das erscheint nur auf den ersten Blick ausgewogen und demonstriert bestenfalls ein scheinbares Verständnis für beide Seiten der Medaille. Tatsächlich ist es die Erzeugung eines gewollten Unfriedens.

Gewollter Unfrieden

Die Frage ist letztlich nicht, ob man sich auf die Seite des Lkw-Fahrers stellt, auf die von Reisenden oder umgekehrt auf die der Klima-Aktivisten. Rein subjektiv betrachtet haben beide Perspektiven ihre Berechtigung. Die objektive Beurteilung dürfte anders ausfallen, denn die kategorisch vertretene Radikalität der Klimakleber ist demokratisch und gesellschaftlich nicht vertretbar. Sie ist egoistisch, geprägt von einem erschreckenden Maß an Unwissen und völlig frei von der verantwortungsvollen Betrachtung der Folgen des eigenen Handelns.

Objektiv ist selbstverständlich auch das Wegschieben eines Menschen, der eine Straße blockiert, zu verurteilen, denn die Konsequenzen hätten auch weit schlimmere sein können. Man kann das Verhalten des Lkw-Fahrers als unprofessionell und höchst übertrieben betrachten, Gefahren in Kauf nehmend, die vermeidbar wären und hätten vermieden werden müssen.

Doch die beiden konkurrierenden Interessenlagen zwischen Bürgern, die was auch immer gerade vorhaben und den Aktivisten, die dem Klimatod von der Schippe springen wollen, ließen sich durch ein sanftes und einendes Eingreifen des Staates verhindern. Es gehört sogar zu den Kernaufgaben des Staates, solche Feindseligkeiten grundsätzlich zu verhindern oder aber – wenn das nicht gelingt – zu deeskalieren und Einigung zu erzielen.

Was wäre wohl los, wenn die Aktivisten sich jeden Tag in Berlin vor dem Reichstag festkleben würden? Wenn sie die Tagesabläufe der Bundestagsmitglieder stören würden? Wenn sie sich Zutritt zum Bundestag verschaffen würden und dort nicht wieder wegzukriegen wären? Wenn sie womöglich die Häuser und Wohnungen der Abgeordneten blockieren würden? Es gäbe sicher ad hoc 100 Begründungen, um derlei Aktivitäten innerhalb kürzester Zeit zu unterbinden, inklusive entsprechender rechtlicher Folgen.

Doch die Politik hält die Kritik, hält die Aktionen und die Konflikte von sich fern (in einer bizarren Eintracht mit der "Letzten Generation", die sich fernhält von den Stühlen, auf denen die politischen Entscheidungen getroffen werden). Die Politik schwebt gewissermaßen über den Kontrahenten und maßregelt mal in die eine und mal in die andere Richtung. Dabei werden die berühmte Peitsche und das Zuckerbrot mehr oder weniger ausgewogen genutzt, ohne sich zu klar zu positionieren. Die Spannungen bleiben, weil das Problem bleibt und der Staat handlungsunfähig und -unwillig ist und auch sein will.

Beispiel Nancy Faeser

Ein Beispiel aus einem anderen Bereich soll verdeutlichen, wie die Politik vorgeht und was sie damit bezweckt. Auf faz.net ist nachzulesen:

"432 Fälle von Gewalt in Partnerschaften hat es im vergangenen Jahr im Schnitt gegeben – jeden Tag. Insgesamt waren es 157.550 Fälle, 9,4 Prozent mehr als noch 2021. 80 Prozent der Opfer waren Frauen, die Tatverdächtigen in knapp 80 Prozent der Fälle Männer, zu 40 Prozent frühere, zu 60 Prozent aktuelle Partner."

Das ist ohne Frage eine erschreckende Entwicklung. Und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) prescht gewohnt kopflos und aggressiv los, wie auf t-online nachzulesen ist:

"Eine erste Reaktion auf die Zahlen des Bundeskriminalamts kam von Bundesinnenministerin Nancy Faeser. 'Gewalttäter dürfen nicht schnell wieder vom Radar verschwinden. Sie müssen nach dem ersten gewaltsamen Übergriff aus der Wohnung verwiesen werden', sagte Faeser im Gespräch mit der 'Bild am Sonntag'.

Ferner müsse kontrolliert werden, dass Gewalttäter nicht schnell zurück in die Wohnung und damit zurück zu ihrem Opfer kämen, sagte Faeser weiter. 'Jede Betroffene muss sich sicher fühlen können vor erneuter Gewalt.'"

Auch hier wird kurzerhand eine Mauer zwischen Täter und Opfer aufgebaut, die nicht zielführend ist und das Problem verschärft. Die Gewalttäter müssen ebenso differenziert betrachtet werden wie die Opfer. Wir sprechen hier von komplexen Vorgängen, schwierigen häuslichen Situationen, problematischen Beziehungen, wirtschaftlichen Gegebenheiten, von Drogen, Medikamenten und Alkohol. Und – last but not least – von der Verantwortung des Staates für die Zunahme der Gewalt. Immerhin haben wir drei Jahre Corona und die daraus folgenden Maßnahmen hinter uns, die zu Verwerfungen, Traumata und zerbrochenen Biografien geführt haben. Finanzielle Probleme kommen hinzu, die inzwischen nicht etwa abgefedert und in ihren Auswirkungen abgeschwächt werden konnten, sondern – im Gegenteil – drastischer geworden sind, weil der Staat ohne Not in den Dauerkrisenmodus geschaltet hat. Doch genau dieser Staat – in diesem Fall in Gestalt der Innenministerin – stellt sich als unabhängige Instanz dar, die zwar die Problemlösung angehen, mit den Problemursachen aber nichts zu tun haben will.

Nicht weniger bemerkenswert ist auch hier der spaltende Charakter, den eine Bundesministerin darstellt und der stellvertretend für die Art der Politik ist, mit der wir es zu tun haben. Die "Gewalttäter" werden als alleinige Schuldige genannt, auf die sich das Problem reduzieren lässt. Doch das ist wie beschrieben nicht so. Sicher gibt es Gewalttaten, die relativ einfach zugeordnet und entsprechend behandelt werden können. Doch häusliche Gewalt ist immer Teil eines gesamtgesellschaftlichen Problems, das in all seinen Facetten betrachtet, analysiert und bewertet werden muss.

Doch Faesers Reaktion ist aus einem weiteren Grund eine Bankrotterklärung. Sie schlägt nicht nur eine fachlich verheerende Maßnahme vor, die dem Problem nicht gerecht wird. Ihre Lösung ist zudem überhaupt nicht durchführbar. Alle Gewalttäter sofort aus der gemeinsamen Wohnung werfen? Kontrollieren, dass sie auch draußen bleiben?

Wie soll das gehen? Wer soll es kontrollieren? Was passiert mit den Tätern, die aus der Wohnung geworfen werden? Wie wird mit dem Opfer in der darauffolgenden Zeit umgegangen? Es gibt keine Antworten auf diese Fragen, weil der Staat keine hat. Faeser betreibt also Populismus in Reinkultur und spaltet ganz nebenbei die Gesellschaft weiterhin.

Talkshow statt Knast

Zurück zur Problematik der "Letzten Generation". Vince Ebert hat es auf seine treffende Art auf den Punkt gebracht:

Dazu einige Zeitungsüberschriften:

"Protest der Letzten Generation in Karlsruhe: Autofahrer überrollt Hand von Aktivistin"

"Klimakleber in Eimsbüttel – Passanten beschimpfen Autofahrer"

"Letzte Generation stört Schlossfestspiel-Premiere in Regensburg"

Die taz, immer ganz besonders auf der richtigsten aller Seiten stehend, titelt wie folgt:

"Berliner Schnellverfahren gegen Letzte GenerationPopulistisch gegen den Rechtsstaat" 

Und sie schreibt:

"Der Versuch, Klima-Aktivisten im beschleunigten Verfahren zu verurteilen, geht nach hinten los. Die CDU kennt in ihrer Bestrafungswut keine Grenzen.

In einer optimalen CDU-Welt werden Klimaaktivist:innen der Letzten Generation quasi rechtlos im Schnellverfahren abgeurteilt, ihre Strukturen mit dem Vorwurf der 'kriminellen Vereinigung' zerschlagen, und ihre Angreifer, die sie in Lkw über den Haufen fahren wollen, als Opfer verklärt. Es ist eine Welt, in der bereitwillig der Rechtsstaat dem eigenen Populismus geopfert wird. Die Aktivist:innen – als Bedrohung für den deutschen Autofahrer – werden zum Feind stilisiert, gegen den alle Maßnahmen legitim sind."

Erneut werden Probleme und Feindbilder geschaffen, die vermeidbar wären. Die Fragen, ob es sich bei der "Letzten Generation" um eine kriminelle Vereinigung handelt und ob Schnellverfahren gerechtfertigt oder unangemessen sind, sollten in einem Rechtsstaat keine Rolle spielen, sondern lediglich die nach dem Tatbestand. Wie Vince Ebert schon feststellte, ist eine Straftat eine Straftat, der nicht mit übersteigerter Aufmerksamkeit, sondern Konsequenz begegnet werden muss. Geschieht dies nicht, ist bereits in diesem Verhalten die bewusste Spaltung angelegt.

Krise als Chance … zur Krise

Der Staat wäre verpflichtet, Krisen zu begegnen, ihnen etwas entgegenzusetzen, sie zu beenden, um den Frieden zu sichern oder wiederherzustellen. Krisen führen zu weiteren Krisen, und bis sie sich zu wirklichen Chancen entwickeln (können), geht einige Zeit ins Land. Dieser Zeit zwischen der Krise und ihrem Ende muss so gewissenhaft und durchdacht begegnet werden, wie es nur geht.

Doch wir erleben das glatte Gegenteil. Aus einer auch nur angedeuteten Problematik wird durch politische und mediale Einflussnahme eine Krise kreiert, die gar nicht notwendig wäre. Nehmen wir die plötzlich aufgetauchte Zahl von 60.000 "Hitzetoten". Sie lösen übergangslos die Corona-Toten ab, drängen die Impftoten aus der Aufmerksamkeit heraus (die sie ohnehin kaum erhalten) und werden garniert mit tödlich hohen Temperaturen. Mittlerweile werden sogar schon Bodentemperaturen angeführt, um die Dramatik zu unterstreichen. Wie wäre es denn mit der Temperatur des Erdkerns, um der Krise noch die Kirsche obendrauf zu setzen?

Oder das "Heizungsgesetz". Unzählige Menschen leiden noch immer unter den Folgen der Corona-Maßnahmen, viele sind pleite, mussten ihre Ersparnisse aufbrauchen oder werden genötigt, irgendwann einmal bewilligte Corona-Hilfen zurückzuzahlen. Neben den wirtschaftlichen Belastungen ist auch die Psyche der Menschen aufgrund der letzten gut drei Jahre (im besten Fall nur) angeknackst oder bereits pathologisch geschädigt. Jetzt bekommen sie noch die Aussicht auf (noch weiter) steigende Energiekosten, sinkende Immobilienpreise und Zwangsmaßnahmen, um dem grünen Willen gerecht zu werden. Welche Krise soll hier bekämpft werden? Die Klimakrise? Das ist ein Witz, und zwar ein richtig schlechter.

Wir müssen begreifen, dass es dieser Staat nicht gut mit uns meint. Er arbeitet mit Krisen, mit Feindbildern und mit Spaltung, um das Zusammengehörigkeitsgefühl, das es ohnehin nur noch rudimentär gibt, endgültig abzuschießen. Der Klimakleber vor dem Lkw und der Fahrer, der durchdreht – beide sind nicht mehr als Instrumente, um die staatliche Macht zu zementieren und eine gesellschaftliche feindselige Grundhaltung zu untermauern.

Solange wir dieses Prinzip nicht durchschauen und uns dagegen zur Wehr setzen, wird die gesellschaftliche Stimmung im Land weiter abstürzen – womöglich in Richtung des viel zu heißen Erdkerns.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen

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