Von Martin Jay
Die Nachricht, dass die USA beschlossen haben, ihren vor sich hin rostenden Bestand an Streubomben in der Ukraine zu entsorgen, dürfte für diejenigen, die den Ukraine-Konflikt bisher verfolgt haben, keine wirkliche Überraschung sein. Vom ersten Tag dieses Konflikts an waren sich die westlichen Eliten uneins darüber, wie sie handeln sollen, was genau ihre Ziele sind und wie das Endergebnis aussehen sollte.
Die NATO hat die Torpfosten, im Hinblick auf ungeschriebene Regeln, schon so oft verschoben, dass es ziemlich schwierig geworden ist, ein klares Bild zu erkennen. Sogar NATO-Chef Jens Stoltenberg scheint zunehmend nervös zu reagieren, so wie auf einer Pressekonferenz, als er mit den Einzelheiten der neuesten Pläne aus Washington konfrontiert wurde.
Streubomben: Ein Akt der Verzweiflung
Neu sollen also Streubomben gegen die russischen Streitkräfte eingesetzt werden, insbesondere um deren Panzer aufzuhalten. Der Grund für diese Entscheidung hingegen ist jedoch ein anderer. Der Westen muss insbesondere den EU-Ländern der NATO Zeit verschaffen, um ihre militärischen Vorräte aufzustocken, die gefährlich zur Neige gehen. Der Westen braucht mindestens sechs Monate, bevor er überhaupt darüber nachdenken kann, die Ukraine auf eine neue "Offensive" einzustimmen. Und so erscheinen diese Streubomben wie ein Wundpflaster für eine in Wirklichkeit klaffende Wunde.
Aber handelt es sich hier um dieselben Streubomben, zu deren Ächtung sich die meisten NATO-Mitglieder vertraglich verpflichtet haben? Handelt es sich um dieselben Streubomben, mit denen der Westen sich auf das hohe Ross der Moral setzte, als er Russland beschuldigte, solche Bomben gegen die ukrainischen Streitkräfte eingesetzt zu haben? Die Heuchelei, oder besser gesagt die Verzweiflung, ist atemberaubend, aber sie unterstreicht einen Punkt, der immer wieder sein hässliches Gesicht entblößt.
Je mehr Zeit vergeht, ohne dass sich an der umkämpften Frontlinie etwas ändert, desto mehr gewinnt Russland an Stärke und desto mehr verliert sie der Westen. Die NATO-Granden – und vielleicht auch Joe Biden – wissen das. Und deshalb ist diese Initiative, Kiew mit Streubomben zu beliefern, für mich persönlich – als Journalist, der miterlebt hat, was sie in Kriegsgebieten anrichten –, die Handlung jener Seite des Konflikts, die genau weiß, dass sie am verlieren ist und lediglich die Geschwindigkeit verlangsamen will, mit der man auf dem Schlachtfeld in den eigenen Untergang zusteuert.
Laos: Bis heute mit US-Streumunition verseucht
Was man uns über Streubomben nicht erzählt, ist ihre bemerkenswerte Fähigkeit Zivilisten zu töten – in der Regel Kinder – und nicht den Lauf der Dinge auf einem Schlachtfeld zu verändern. Was die meisten westlichen Journalisten in ihren Berichten ebenfalls nicht erwähnen, ist, dass die USA seit dem Vietnamkrieg solche Bomben einsetzt und bis Ende der 1960er-Jahre 270 Millionen dieser winzigen Submunition, die in Streubomben enthalten sind, über Laos abgeworfen hat, denen bis zum heutigen Tag laotische Kinder zum Opfer fallen, wenn sie sie auf den Reisfeldern finden und auflesen, um damit zu spielen.
Aber das alles ist kein Spiel für jene Soldaten auf der ukrainischen Seite, von denen man annimmt, dass sie sich jetzt dank Streubomben aus dem Westen besser fühlen werden, nachdem die Lieferungen von Haubitzen, HIMARS, Javelin – ganz zu schweigen von den Bradley-Kampfwagen – eingestellt wurden. Nun sollen sie also durch die bevorstehende Ankunft von Streubomben getröstet werden, von denen ich sehr bezweifle, dass sie für einen Angriff auf die russischen Streitkräfte auf der russischen Seite der befestigten Frontlinie eingesetzt werden.
Nein, viel wahrscheinlicher ist es, dass sie in defensiver Funktion eingesetzt werden, sollten die Russen beschließen, auf die ukrainische Seite der Frontlinie vorzudringen und Städte wie Odessa anzugreifen. Diese Streubomben werden gegen russische Truppen und ihre Panzer eingesetzt, und zwar in so großen Mengen, dass in den kommenden Jahrzehnten Tausende dieser winzigen Submunition in ländlichen Gebieten liegen bleiben, bis ukrainische Kinder sie beim Spielen finden und auflesen.
Die Bilder von Zivilisten und von Soldaten, die von dieser Submunition in Stücke gerissen wurden, werden zweifellos von der allgegenwärtigen Kiewer Propaganda verbreitet werden – dieselbe Propaganda, die britische Journalisten dazu gebracht hat, obszöne Berichte über eine angebliche Verminung des Kernkraftwerks Saporoschje zu schreiben, um nur ein Beispiel zu nennen.
EU-Volkswirtschaften stagnieren
Die NATO steckt auf vielen Ebenen in einer Krise. Nicht nur glaubt sie nicht mehr daran, dass man die Russen besiegen könne, das Bündnis hat auch finanzielle Probleme, auf die ihr Generalsekretär kürzlich während einer Pressekonferenz hingewiesen hat. Die NATO hofft, dass mehr ihrer zahlreichen Mitglieder ihre Verteidigungsausgaben erhöhen oder zumindest die geforderte Höhe von zwei Prozent des jeweiligen nationalen BIP einhalten.
Aber es macht den Anschein, als wüsste Stoltenberg ganz genau, dass angesichts der stagnierenden Volkswirtschaften in der EU – wo die deutsche Zentralbank dermaßen pleite ist, dass sie bei der EZB um ein Rettungspaket betteln muss –, es schwer vorstellbar bleibt, dass die Höhe der Militärhilfe an Kiew auch nur annähernd so hoch bleiben kann wie bisher.
Die Initiative Streubomben an die Ukraine zu liefern ist auf so vielen Ebenen dermaßen verzweifelt und erbärmlich, dass Selenskij langsam erkennen muss, wo die Zukunft liegt. Für ihn wäre das beste Szenario, dass der Konflikt auf unbestimmte Zeit zum Stillstand kommt, etwas, was Analysten als "einfrieren" bezeichnen, obwohl dies aus russischer Sicht unwahrscheinlich erscheint.
Aber selbst bei einem Einfrieren bricht die Glaubwürdigkeit der NATO in sich zusammen, da immer mehr westliche Bürger sich der Tatsache bewusst werden, dass die NATO selbst keine Waffen besitzt. Ihre Mitgliedsstaaten besitzen diese und stellen sie zur Verfügung, wenn es möglich ist. Aber jetzt versiegt diese Versorgungsquelle rapide.
Ukraine-NATO-Rat ist Schall und Rauch
Was wir jetzt beim NATO-Gipfel in Vilnius erlebt haben, mit dem Angebot an Kiew, einen Ukraine-NATO-Rat ins Leben zu rufen, ist nur noch Schall und Rauch. Nur noch mehr Verzögerungstaktik, während Joe Biden sich am Kopf kratzt und seinen nächsten Schritt überlegt, der wahrscheinlich in Richtung private Söldnertruppen gehen wird, die für den Westen kämpfen, wobei der US-Präsident hoffen muss, dass Moskau diese nicht als NATO-Soldaten einstuft.
Es gibt sogar Gerüchte, dass pensionierte Piloten der US-Luftwaffe in den USA angesprochen und gefragt werden, ob sie bereit wären, F-16-Kampfflugzeuge im Dienst der Ukraine zu fliegen. Falls Selenskij im Begriff sein sollte, sich gegen den Westen zu wenden und dort Ultimaten zu stellen, dann wird er wahrscheinlich genau dies verlangen. Auch hier werden dann erneut die Torpfosten verschoben – die einzige Strategie des Westens, die einigermaßen konsequent bleibt.
Dieser Text erschien in englischer Sprache bei Strategic Culture Foundation.
Martin Jay ist ein preisgekrönter britischer Journalist mit Wohnsitz in Marokko, wo er als Korrespondent für die britische Daily Mail (UK) arbeitet. Zuvor berichtete er von dort aus für CNN und Euronews über den Arabischen Frühling.
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