Von Dagmar Henn
Es kommt wieder einmal zu einem ukrainischen Mordanschlag in Russland, und die deutsche Presse präsentiert sich wieder einmal in ihrer vollen moralischen Pracht. Sie versucht, noch ein wenig Ambivalenz zu wahren, aber letztlich kann sie nicht verhehlen, dass sie von dem beherrscht wird, was einstmals – im Zusammenhang mit einem tatsächlichen Kriegsverbrecher übrigens – das Verwerflichste überhaupt war, die "klammheimliche Freude".
Da wird also in der südrussischen Stadt Krasnodar ein Mann, der im Rekrutierungszentrum der Armee arbeitet, beim Joggen von hinten erschossen. Nach allen Regeln des deutschen Rechts ein Mord. Nicht der erste Mord oder Mordversuch, hinter dem ukrainische Geheimdienste stecken, übrigens.
Allerdings schafft es die deutsche Presse immer, die Tat irgendwie zu rechtfertigen und das Opfer zu beschuldigen. So wie ntv: Die zweiteilige Überschrift lautet "Ukraine: Er war Kriegsverbrecher/ Militär-Rekrutierer in Russland erschossen." T-online lässt es noch etwas in der Schwebe: "Befahl er Angriffe auf Zivilisten?". Die Frankfurter Rundschau – ja, das war einmal eine respektable Zeitung – titelt: "Putins Kommandant beim Joggen erschossen", als hätte Russland nur ein U-Boot und nicht 68, weshalb der Kommandant dieses U-Bootes auch regelmäßig mit Putin zu Abend isst... Einzig das RND schreibt "Ehemaliger russischer U-Boot-Kommandant". Dabei war der Mann zum Zeitpunkt des Mordes Verwaltungsbeamter. Aber das gibt natürlich bei weitem nicht so viel her wie "U-Boot-Kommandant".
Die Quelle ist, wie üblich, immer dieselbe, dpa. Die Geschichte, die nach den Überschriften erzählt wird, ist also weitestgehend identisch. Es wird erwähnt, dass der Vater des Opfers äußerte, er sei bereits seit Ende 2021 nicht mehr im aktiven Dienst, was naturgegeben bedeutet, dass man ihm keinerlei Handlungen im Zusammenhang mit dem russischen Militäreinsatz vorwerfen könnte. Aber das ist natürlich nur der Vater, und die Information stammt von einem russischen Telegram-Kanal, also wirken die ukrainischen Aussagen wesentlich glaubwürdiger.
Und die beginnen damit, dass der Mann ein Kriegsverbrecher sei, weil das U-Boot unter seinem Kommando eine Rakete auf eine ukrainische Stadt abgefeuert habe. Nun, man kann schreiben, dass ukrainische Stellen behaupten, er sei verantwortlich. Das wäre schon allein deshalb geboten, weil ukrainische Stellen auch gern behaupten, dieser oder jener Schaden sei auf russischen Beschuss zurückzuführen, wenn es ihre eigenen Luftabwehrraketen waren, oder weil sie aus einem Treffpunkt für Söldner und Offiziere eine friedliche Pizzeria machen. Aber gut, gehen wir einmal davon aus, dass Worte wie "vermeintlich", "angeblich" oder "mutmaßlich" zu viel Platz kosten. Immerhin geht es um einen Russen.
Aber dass dann auch noch das gesamte Kiewer Prosaangebot übernommen wird (und zwar bereits von dpa), das ist etwas anderes. Ohne zu bemerken oder gar darauf hinzuweisen, dass sich hier die ukrainischen Stellen widersprechen. Denn anscheinend gibt es eine, die erklärt hat, er sei ein Kriegsverbrecher, eine andere, den bekannten Herrn Budanow, der jede Beteiligung abstreitet, was er immer tut, und dann noch eine dritte, die das Märchen erzählt, der ehemalige U-Boot-Kommandant habe Gewissensbisse gehabt und er sei "von den eigenen Leuten liquidiert" worden, weil er sich geweigert habe, "die Befehle der Militärführung weiter auszuführen". Passt nicht wirklich zusammen, oder?
Nun, das deutsche Publikum ist mittlerweile darauf konditioniert, Erzählungen zu schlucken, die voller Widersprüche stecken. Weshalb beim ahnungslosen Leser der Absatz mit der Aussage des Vaters, der ganz unten steht, eher so wirkt, als solle er die ukrainische Räuberpistole mit den Gewissensbissen bestätigen. Es gibt also gleichzeitig eine Botschaft und eine Ersatzbotschaft; denn entweder war er ein Kriegsverbrecher, dann waren es die Ukrainer, aber irgendwie zu Recht, oder er war keiner, dann waren es die Russen, und zu Unrecht.
Der Punkt, der die ukrainische Fantasie mit den Gewissensbissen aushebelt, ist die Tatsache, dass er zwar nicht mehr beim Militär, aber immer noch in einer militärnahen Verwaltungsstelle beschäftigt war. Warum sollte er das tun? Die Ausbildung russischer U-Boot-Kommandanten hat sich nicht weit vom sowjetischen Muster entfernt, das Andrei Martjanow einmal ausführlich dargestellt hat. Sie haben ein doppeltes Studium: einmal ein Ingenieursstudium und dann zusätzlich ein militärwissenschaftliches.
Ein ausgebildeter Ingenieur hat es nicht nötig, im Rekrutierungszentrum zu arbeiten, außer, er will es. Er könnte an vielen anderen Orten Anstellung finden. Was aber ein deutscher Leser nicht weiß, zumindest nicht außerhalb des kleinen verbliebenen Teils, der die Strukturen des Warschauer Vertrags noch aus eigener Erfahrung kennt.
Es gibt auch keinen Grund für den Vater, etwas Falsches zu erzählen. Denn in Russland sieht es niemand als verwerflich an, ein russisches U-Boot zu kommandieren. Einen Abschied zu erfinden, bringt also keinerlei Nutzen. Allerdings kann man diese Aussage in Deutschland so einsetzen, als sei sie zur Entlastung beabsichtigt, weil sich kaum ein Leser die Mühe macht, sich Gedanken über die Bedeutung dieser Aussage in ihrer Ursprungsumgebung zu machen.
Eines der unterschwelligeren Mittel, die Aussage des Vaters zu diskreditieren, ist übrigens, dass die Kiewer Version B in wörtlicher Rede wiedergegeben wird. Damit wird die Wirkung der unterschiedlichen Quellenangaben ("die Ukraine" bzw. "Meldung aus Kiew" gegen "Telegramkanal zitiert Vater") noch einmal verstärkt. Interessant, dass es bei der Fließbandproduktion bei dpa überhaupt gelingt, noch solche Techniken einzusetzen; das setzt eigentlich voraus, dass der Autor zutiefst von dem überzeugt ist, was er schreibt.
In keinem der Artikel findet sich nur der Ansatz einer Wahrnehmung dafür, dass es nach deutschem Recht selbst dann noch ein Mord wäre, wenn der Vorwurf eines Kriegsverbrechens zuträfe. Dabei soll es jetzt nicht darum gehen, dass die Ansichten der Ukraine bei diesem Thema, gelinde gesagt, eigenartig sind, wenn man an solche Freundlichkeiten wie Schmetterlingsminen denkt. Auch nicht um die Tatsache, dass das deutsche Recht keine Todesstrafe kennt (das russische übrigens auch nicht).
Nein, es geht um die stille Begeisterung, die im Text noch relativ subtil vermittelt wird, einen aber, siehe oben, aus den Überschriften geradezu anspringt. Was wirklich interessant ist, weil sich Angehörige der älteren Generation noch an einen verurteilten deutschen Kriegsverbrecher erinnern, bei dem das ganz anders war.
Die Rede ist von Hanns Martin Schleyer, Mitarbeiter von Heydrich, in Tschechien in Abwesenheit tatsächlich zum Tode verurteilt, dessen Entführung und Tötung durch die RAF 1977 zu einer ganzen Sturzflut von Lobpreisungen für ihn führte. Einer von tausenden Kriegsverbrechern, die die Bundesrepublik prägten. Und wir reden hier von Verbrechen einer völlig anderen Dimension, als es das angebliche Abfeuern einer Kalibr von einem U-Boot je sein könnte.
Übrigens, weder die Sowjetunion noch irgendeiner der damals mit ihr verbündeten Staaten hat jemals zu dem Mittel gegriffen, diese Verbrecher schlicht zu ermorden. Von manchen bundesdeutschen Behörden wäre da nicht viel übrig geblieben. Sie taten es nicht einmal, wenn ein Prozess stattgefunden hatte und ein Urteil ergangen war, wie im Falle Schleyer.
Wenn man nicht gar so weit zurückgehen will – wie wäre es, wenn irgendein Afghane, der 2009 in Kundus Verwandte verloren hat, den mittlerweile zum Generalmajor beförderten damaligen Oberst Georg Klein auf der Straße von hinten erschießen würde? Zugegeben, man hat es juristisch hinbekommen, den Herrn vor einer Verurteilung zu bewahren und sogar eine Schadensersatzpflicht des deutschen Staates zu umgehen, was mit Sicherheit anders ausgegangen wäre, hätte es einen Prozess in Afghanistan gegeben. Aber nur mal so als Gedanke: Wie sähen die Schlagzeilen aus?
Die Ukraine schickt Mörder aus. Bisher in Russland vor allem gegen Journalisten und Schriftsteller. Da muss es für die deutschen Redaktionen geradezu eine Erleichterung gewesen sein, dass diesmal ein Mord an einem Ex-Militär verübt wurde. Dieses Verhalten ist irgendwie kein Problem, selbst wenn die ukrainische Mordliste für alle sichtbar auf einem NATO-Server liegt. Es fragt auch niemand nach ordnungsgemäßen Ermittlungen oder gar einem ordentlichen Gerichtsverfahren mit der Möglichkeit, sich gegen Vorwürfe zu verteidigen. Und wenn wieder einmal ein solcher Terrorakt begangen wurde, dann wird eilfertig eine Rechtfertigung gesungen, zur Not sogar mehrstimmig.
Der Gedanke, man gehe heutzutage mit jedem irgendwie Beschuldigten so um, führt allerdings in die Irre. Man muss dafür nur die aktuelle inländische Kriminalitätsberichterstattung lesen. Dann stolpert man auch darüber, dass in dem Bericht über den Mord in Krasnodar ein Wort in keiner einzigen Version vorkommt: Opfer. Das scheint tabu zu sein. Opfer können Russen nur dann sein, wenn es sich um westlich finanzierte Opposition handelt.
Bei der Frage, ob das begangene Verbrechen als solches wahrgenommen wird, ist es letztlich die Herkunft des Opfers, die entscheidet. Eine Berichterstattung, die nur ansatzweise dem entspricht, was die Kriterien der Rechtsstaatlichkeit oder, schlichter, jene der Menschlichkeit verlangen, ist vorerst nicht zu erwarten, wenn es sich um Russen handelt, an denen kein westliches Etikett hängt.
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