Von Rainer Rupp
Der US-Präsident Biden hatte am Morgen vor dem Beginn des Gipfeltreffens gegenüber US-Medien klar gemacht, dass es für die Ukraine weder einen NATO-Beitritt noch anders geartete Sicherheitsgarantien von der NATO geben wird, solange der Krieg nicht beendet ist. In einem Gespräch mit CNN über die in den letzten Monaten im kollektiven Westen mit zunehmender Aufregung debattierten Frage, wo die Ukraine in Bezug auf die NATO aus der Sicht Washingtons steht, betonte Biden, dass das verwüstete Land für eine NATO-Mitgliedschaft noch nicht bereit sei.
Er machte deutlich, dass die USA den Beitritt der Ukraine erst nach dem Ende des Krieges mit Russland unterstützen und in Vilnius nicht bereit sein würden, das Thema auch nur ernsthaft zu diskutieren. Anstelle von Garantien für eine künftige Mitgliedschaft, die auf dem Gipfel in Vilnius laut Biden eindeutig nicht zu hören sein werden, verspricht Biden auf absehbare Zeit in der Zukunft endlose Waffenlieferungen und erwähnt dabei als Beispiel die umstrittenen Streubomben. Diese Art Bomben sind von 110 Ländern geächtet, weil sie vor allem eine Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellen. Deren massenhafte Lieferung an die Ukraine hatte Biden, aber noch vor wenigen Tagen selbst genehmigt. Wörtlich sagte Biden:
"Ich glaube nicht, dass es in der NATO Einstimmigkeit darüber gibt, ob die Ukraine jetzt, in diesem Moment, mitten in einem Krieg, in die NATO-Familie aufgenommen werden sollte oder nicht. (...) Wenn sie das zum Beispiel gemacht haben, dann wissen Sie – und ich meine, was ich sage–, dass wir entschlossen sind, jeden Zentimeter des Territoriums, das NATO-Territorium ist, zu verteidigen. Dazu haben wir uns verpflichtet."
Unter Anspielung auf die Beistandsklausel des Artikels 5 der NATO-Charta erklärt Biden, was passiert, wenn der Krieg in der Ukraine weitergeht und das Land zugleich in die NATO aufgenommen würde:
"Es ist eine Verpflichtung, die wir alle eingegangen sind, egal was passiert. Wenn der Krieg weitergeht, dann sind wir alle im Krieg. Dann befinden wir uns im Krieg mit Russland, wenn das der Fall wäre."
Das ist eine erstaunlich nüchterne und realistische Einschätzung der Lage. Um zu diesem Schluss zu kommen, muss man kein intellektueller Überflieger sein. Aber seit Bidens Amtsbeginn hat es so sachliche Worte bezüglich Russlands aus dem Mund des US-Präsidenten nicht mehr gegeben. Dafür hatten die ideologisch verbissenen, neokonservativen Top-Berater Bidens – von Außenminister Blinken über Victoria Nuland bis hin zum Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan – Sorge getragen. Als eingefleischte Russen-Hasser haben diese Leute für den weitgehend von anderen Meinungen abgeschirmten Biden, die antirussische US-Politik formulieret und dem mit der Senilität kämpfenden US-Präsidenten die entsprechenden Sprechzettel geschrieben.
Da Biden und sein Sohn Hunter begeisterte Ukraine-Fans sind, was sich für die ganze Biden-Familie in den vergangenen Jahren als finanziell sehr lukrativ herausgestellt hat, gab es diesbezüglich keinen Widerspruch aus Bidens engerem Umfeld.
Wachsender Widerspruch gegen die neokonservativen Traumtänzer vom Schlage "die-Ukraine-wird-gewinnen" in den Top-Positionen der Biden-Administration kam zuletzt ausgerechnet von Top-Persönlichkeiten aus dem außenpolitischen US-Establishment, vor allem aus dessen Zentrum, dem "Council of Foreign Relation".
Im Unterschied zu den irrationalen, militanten Ideologen um Biden handelt es bei diesen Leuten um sachliche, berechenbare hochrangige Persönlichkeiten, die jedoch nicht weniger auf die Erhaltung der globalen US-Hegemonie erpicht sind. Im Unterschied zu den Ideologen glauben sie jedoch nicht an die eigenen Propaganda-Lügen. Mit zunehmendem Entsetzen haben sie daher den irrationalen, selbstzerstörerischen Kurs der Clique um Biden verfolgt, durch welchen den USA in mancherlei Hinsicht bereits irreversibler politischer, ökonomischer und militärischer Schaden zugefügt wurde.
Um einen Weg aus diesem USA-Ukraine-Dilemma zu finden und um wieder in ein Gespräch mit der russischen Regierung kommen zu können, hatten Top-Vertreter des "Council of Foreign Relations" ein Geheimtreffen mit dem russischen Außenminister Sergei Lawrow arrangiert, als der im April dieses Jahres zu einer Sitzung im UN-Sicherheitsrat in New York weilte.
Allerdings war wenige Tage vor dem NATO-Gipfel in Vilnius die Tatsache dieses Treffens an den US-Nachrichtensender NBC durchgestochen worden. Auch wurden dabei die Namen der hoch geachteten US-Persönlichkeiten, die daran teilgenommen und mit Lawrow gesprochen hatten, wurden genannt. So konnte man erfahren, dass dieses Treffen nicht einmal das erste dieser Art war. Anscheinend haben die Vertreter des außenpolitischen US-Establishments – angesichts der offiziellen Funkstille zwischen Washington und Moskau – seit Jahresbeginn auf eigene Faust einen Gesprächskanal mit der russischen Regierung hergestellt und für sich geöffnet. Wahrscheinlich erwarten sie nicht einen Sieg der Ukraine, sondern realistischerweise eine Katastrophe für die USA samt NATO, wobei dann funktionierende und verlässliche Kanäle von Washington nach Moskau von großer Bedeutung wären.
Was genau bei diesen Treffen herauskam oder was seither in Washington hinter den Kulissen im US-Establishment geredet und passiert ist, kann man nur erahnen. Ein Indiz dafür könnte die Zeitschrift Foreign Affairs geben, die vom "Council of Foreign Relations" herausgegeben wird.
Dort ist am 7. Juli, also wenige Tage vor dem Gipfel in Vilnius, ein Weckruf erschienen unter dem Titel "Lasst nicht zu, dass die Ukraine der NATO beitritt" (Don’t Let Ukraine Join NATO) mit dem warnenden Untertitel "Die Kosten für die Erweiterung des Bündnisses überwiegen den Nutzen". Die Autoren des Artikels (Justin Logan und Joshua Shifrinson) warnen in der Einleitung davor, wie leichtfertig selbst Staatsoberhäupter – wie Emmanuel Macron – für eine zügige Aufnahme der Ukraine in die NATO plädieren. Dagegen warnen die Autoren:
"Die Art und Weise, wie diese Frage geregelt wird, wird schwerwiegende Konsequenzen für die Vereinigten Staaten, Europa und darüber hinaus haben."
Es folgt deshalb hier eine kurze Zusammenfassung des Artikels in Foreign Affairs auf Deutsch:
"Der Einsatz könnte nicht höher sein. Die Mitgliedschaft in der NATO beinhaltet die Verpflichtung der Verbündeten, füreinander zu kämpfen und zu sterben. Zum Teil aus genau diesem Grund arbeiteten die NATO-Mitglieder während der gesamten Zeit nach dem Kalten Krieg daran, eine Ausweitung des Bündnisses auf Staaten zu vermeiden, die kurzfristig Gefahr liefen, angegriffen zu werden.
...Die Staats- und Regierungschefs der NATO haben auch längst verstanden, dass die Aufnahme der Ukraine eine sehr reale Möglichkeit eines Krieges (einschließlich eines Atomkriegs) mit Russland mit sich bringt. In der Tat ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen Konflikts und seiner verheerenden Folgen der Hauptgrund dafür, dass die Vereinigten Staaten und andere NATO-Mitglieder versucht haben, nicht noch tiefer in den Krieg in der Ukraine hineingezogen zu werden. Die Spannung ist klar: Fast niemand denkt, dass die NATO heute direkt mit Russland für die Ukraine kämpfen sollte, aber viele befürworten es, der Ukraine einen Weg in das Bündnis zu versprechen und sich zu verpflichten, in Zukunft dafür zu kämpfen.
...Die Ukraine sollte nicht in der NATO willkommen geheißen werden, und das sollte der US-Präsident Joe Biden klarstellen. Kiews Widerstand gegen die russische Aggression war heldenhaft, aber letztendlich tun die Staaten, was in ihrem eigenen Interesse ist. Und hier verblassen die sicherheitspolitischen Vorteile eines Beitritts der Ukraine für die Vereinigten Staaten im Vergleich zu den Risiken, die mit einer Aufnahme in das Bündnis verbunden sind.
...Eine Aufnahme der Ukraine in die NATO würde die Aussicht auf eine düstere Wahl zwischen einem Krieg mit Russland und den damit verbundenen verheerenden Folgen oder einem Rückzieher und einer Entwertung der Sicherheitsgarantie der NATO im gesamten Bündnis erhöhen.
...Auf dem Gipfel in Vilnius und darüber hinaus täten die Staats- und Regierungschefs der NATO gut daran, diese Tatsachen anzuerkennen und die Tür zur Ukraine zu schließen."
Für das CNN-Interview scheint sich Biden – oder wer auch immer seinen Sprechzettel geschrieben hatte – einiges von den Warnungen aus dem Foreign Affairs-Artikel zu Herzen genommen zu haben. Dann aber gingen offenbar wieder die Pferde mit ihm durch, als er weiterhin doch eine eventuelle künftige Mitgliedschaft der Ukraine in der Allianz vorschlug:
"Ich denke, wir müssen einen rationalen Weg für die Ukraine aufzeigen, um sich für die Aufnahme in die NATO qualifizieren zu können",
orakelte Biden, nur um anschließend wieder zu relativieren und erstaunlicherweise auf die Demokratie-Mängel in der Ukraine anzuspielen, nämlich mit den Worten:
"Aber ich denke, es ist verfrüht, dazu etwas zu sagen und eine Abstimmung (in Vilnius) zu fordern. Wissen Sie, jetzt, weil es andere Qualifikationen gibt, die erfüllt werden müssen, einschließlich Demokratisierung und einige dieser Themen."
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