Von Wladislaw Sankin
Das Stadtzentrum von Vilnius ist, soweit das Auge reicht, mit ukrainischen Fahnen geschmückt, Selenskij hält pathetische Rede – "in Bachmut wird die Freiheit Europas verteidigt", der Präsident des Gastgeberlandes umarmt ihn. Etwas Tröstliches gibt es in dieser Umarmung. Selenskij hat die letzten Mittel seiner Chuzpe-Diplomatie aufs Spiel gesetzt, als er seine Herren in Washington und Brüssel anschnauzte, die Gipfel-Erklärung zum NATO-Beitritt der Ukraine sei "absurd".
Noch kann er sich im Lichte der Aufmerksamkeit unter den Mächtigen dieser Welt sonnen und hoffen, dass der Westen ihn zu sich nimmt, vor allem in die NATO, denn das würde ihm und seiner Clique noch für gewisse Zeit das politische Überleben sichern. Aber die Zeit schmilzt dahin. Das sehen sogar die Realisten unter den NATO-Falken wie der tschechische Präsident Petr Pavel, als er sagt, dass das Fenster der Möglichkeiten für die ukrainischen Truppen nur bis Ende des Jahres offen bliebe.
Was brachte der NATO-Gipfel in Vilnius außer üblicher Selbstbeweihräucherung und Anti-Russlandparolen? Ein weiteres Glanzstück der sicherheitspolitischen Äquilibristik. Das Glas des NATO-Beitritts für die Ukraine ist je nach Betrachtungsweise halbleer oder halbvoll, die Formulierungen taugen für beides. Praktisch wird die Ukraine etwas näher an die NATO rücken, nach jahrelanger Verfechtung jedoch ohnehin fast De-facto-Mitglied, das die Funktion der Schwächung Russlands mit eigenen Soldaten auf seinem eigenem Territorium ausführt. Diese Funktion bringt kein anderer als der stellvertretende Bild-Chefredakteur Paul Ronzheimer in seinem letzten Artikel auf den Punkt: Es seien die ukrainischen Soldaten, die dafür sorgen, dass "Russlands Armee immer schwächer wird – und damit auch weniger gefährlich für uns".
"Das war in Gänze eine langweilige Versammlung von Kapitänen offensichtlich, die ein ernstes Problem zu lösen hatten, nämlich wie man es schaffen kann, sich nicht an die gescheiterte Offensive der ukrainischen Armee zu erinnern, die einen bedeutenden Teil der vorherigen Investitionen verschlungen hatte", schrieb ein russischer Militäranalyst dazu. Kurz und knapp. Keiner widmet in Russland dem Gipfel mehr als fünf Zeilen, das Land ist zu beschäftigt, es sind noch zu viele Probleme zu lösen auf dem Weg zum Sieg. Denn nur der Sieg Russlands über die NATO-Ukraine kann den Vormarsch der Militärallianz unmittelbar in Russlands Unterleib verhindern.
Das verstehen die Russen, das versteht auch die NATO, nur andersherum: Nur eine ukrainische Niederlage kann die NATO-Ausweitung auf Kosten der Ukraine verhindern. Der Generalsekretär der Allianz Jens Stoltenberg teilte dies auf der Abschlusskonferenz nach dem ersten Tag des Gipfeltreffens höchstpersönlich mit:
"Die wichtigste Aufgabe besteht jetzt darin, den Sieg der Ukraine sicherzustellen. Wenn die Ukraine nicht gewinnt, wird die Frage der Garantien und der NATO-Mitgliedschaft überhaupt kein Thema mehr sein."
Das Gleiche sagte Stoltenberg auch in November – die Ukraine müsse den Krieg gewinnen und sich als demokratischer Staat erhalten, um beitreten zu können. Dies ist also die felsenfeste Position der Allianz.
Aber glaubt die Allianz und glauben damit automatisch die USA wirklich an den Sieg der Ukraine? Und vor allem, was gilt denn als Sieg? Machen wir es aber uns nicht zu leicht. Sollte der Ukraine noch in diesem Jahr kein Durchbruch zur Krim-Grenze gelingen, wird womöglich nach koreanischem Vorbild über Waffenstillstand und Teilung der Ukraine entlang der zu diesem Moment gültigen Frontlinie verhandelt. Diese Lösung deuten die einflussreichen Thinktanks in den USA seit Jahresbeginn an.
Nehmen wir zunächst an, Russland würde diesem zustimmen und sogar nichts gegen die weitere Existenz des Selenskij-Regimes in Kiew und die weitere Bewaffnung der Ukraine durch die NATO einwenden. Diese für Russland äußerst schlechte Lösung kann aber in Kiew und bei dessen Gönnern keineswegs als Sieg gesehen werden. Sowohl Selenskij als auch die NATO fordern ständig von Russland kompletten Rückzug aus zurückeroberten (befreiten) Gebieten einschließlich der Krim.
Diese Gebiete verstehen sich aber als Teil Russischer Föderation, integrieren sich rechtlich, wirtschaftlich und humanitär im Eiltempo. Es wird gebaut, repariert, instandgesetzt. Russland wird diese Gebiete niemals abtreten. Also rein theoretisch könnte nur eine Korea-Lösung zur Option werden. Aber um den neuen Status Quo nach einem möglichen Waffenstillstand zu legimitieren, brauchen Westens Politik-Eliten enorme medial-politische Anstrengungen. Vor allem müssen sie die Notlösung der neuen Grenzziehung sich selbst und ihrem Wahlvolk als etwas Wünschenswertes verkaufen.
Die Aufnahme der Ukraine in die NATO ohne all die verlorenen Gebiete im Südosten, einschließlich der Krim – würde auch heißen, dass der Westen und die Ukraine die neuen Grenzen der geschrumpften Ukraine de facto legitimieren. Aus der heutigen Sicht ist dies unvorstellbar. Und das ist natürlich kein ukrainischer Sieg. Aber sollte diese Möglichkeit beim nächsten NATO-Gipfel trotz alledem als ernstzunehmende Option je zur Sprache kommen, wird Russland nicht lange damit zögern, die Militärhandlungen zu reaktivieren. Denn, wenn jemand dies vergessen hat, die ungehemmte NATO-Osterweiterung ist der eigentliche Langzeitzünder dieses Krieges.
Es ist also entscheidend, wie die Perspektiven des Konflikts in Moskau gesehen werden. Und was sehen wir da? Der russische Chef-Diplomat redet seit einiger Zeit über die Ukraine in der Vergangenheitsform. Das ist die höchste Form des "Cancelns". Die hier oft zitierte verbale Auslassungen eines weiteren Top-Beamten, des Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew, zur Zukunft der Ukraine ziehen wir nicht mal in Betracht. Ukrainische Staatlichkeit gilt als gescheitert und nicht mehr existent, nicht zuletzt aufgrund deren massivster Unterstützung aus dem Ausland und des Verlusts der Souveränität. Also während das Ziel der ukrainischen Führung die Zerschlagung Russlands auf Kleinstaaten ("Ende des russischen Imperialismus") und deren Unterwerfung unter westlich-ukrainische Herrschaft ist – Belege für diese Absichten gibt es zuhauf –, ist Russlands Ziel das Kiewer westlich orientierte und gegenüber Russen neonazistische Regime restlos zu beseitigen.
Wir haben es also im Ukraine-Konflikt mit der höchsten Form von zwischenstaatlichem Antagonismus zu tun. Russland kämpft gegen Antirussland. Antirussland kämpft gegen Russland. Nicht nur für die Ukraine ist der gegenwärtige Krieg ein Existenzkampf, sondern auch für Russland. Und es darf diesen Kampf nicht verlieren. Die NATO würde es zerreißen und russische Staatlichkeit beenden, wenn doch je dazu kommen sollte.
Aber derzeit gibt es keine Anzeichen, die darauf hindeuten, dass Russland diesen Kampf verlieren könnte. Ganz und gar im Gegenteil. Also wird der NATO-Gipfel beim nächsten Mal wohl kaum in solch lockerer Atmosphäre wie heute und gestern all die theoretisch möglichen Varianten einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft diskutieren können. Viel eher wird sich die Allianz im nächsten Jahr und den Folgejahren nicht mit Expansion gen Osten, sondern mit seinen primären Aufgaben auf seinem Kerngebiet beschäftigen. Ernüchterung tut allen gut, auch Militärallianzen.
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