Die Demokratie der Guten

Zeitenwenden bringen nicht nur Richtungswechsel in der Politik, sie wenden auch Inneres nach Außen. Nicht nur die Einstellungen zu Russland und der Ukraine haben sich bei den westlichen Meinungsmachern grundlegend geändert. Das Denken und die Wertmaßstäbe des politischen Führungspersonals zeigen sich von ihrer Kehrseite.

Von Rüdiger Rauls

Niedergang

Das westliche Demokratiemodell verliert weltweit an Zustimmung. Die zu Autokratien erklärten Länder China und Russland entwickeln sich immer mehr zu einer Alternative zum Westen und den von ihm beherrschten Institutionen. Jenen Staaten, die sich diesen beiden oder den BRICS-Staaten zuwenden, geht es um finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung bei der Entwicklung ihrer Länder. Fragen des politischen Systems sind für die meisten von ihnen von untergeordneter Bedeutung.

Bis zum wirtschaftlichen Aufstieg Chinas verfügten allein die westlichen Staaten über das wirtschaftliche und finanzielle Potenzial, um weltweit Investitionen vornehmen zu können. Dementsprechend diktierten sie die Bedingungen und verlangten zumeist auch politische Zugeständnisse. Dabei ging es weniger um die demokratischen Freiheitsrechte als solche, sondern vielmehr darum, unter dem Banner von Meinungsfreiheit und Parteienvielfalt Kräfte fördern zu können, die im westlichen Interesse Einfluss nehmen konnten auf die Politik vor Ort. Man wollte sicher sein, dass die Macht nicht in die falschen Hände geriet und Investitionen und Gewinne westlicher Unternehmen gefährdet sein könnten.

Diese Situation änderte sich mit Chinas Projekt der Neuen Seidenstraße, das bald als Belt and Road-Initiative (BRI) den ganzen Erdball erfasste. Die Chinesen verfügen über ein vergleichbares technisches Wissen, über Unternehmen, die Infrastrukturmaßnahmen umsetzen können, und über das nötige Kapital für deren Finanzierung. Darüber hinaus sind chinesische Konditionen meist günstiger als die westlichen, vor allem aber stellt China keine politischen Bedingungen an die Vertragspartner.

Denn die westlichen Werte, die mit den Krediten und Investitionen mit unterschrieben werden mussten, werden von vielen als Druckmittel angesehen, oftmals angewandt von ehemaligen Kolonialherren, die man ohnehin nicht in bester Erinnerung hat. Zudem blieb den Völkern der nicht-westlichen Welt nicht verborgen, dass nach doppelten Maßstäben auf der einen Seite Sanktionen verhängt und auf der anderen Diktaturen und Autokraten geschont werden – je nach politischem oder wirtschaftlichem Interesse.

Neben Chinas wirtschaftlicher Macht gewann Russland immer mehr an militärischer Stärke und weltweitem diplomatischem Einfluss. Russland und China ergänzen sich mit ihren unterschiedlichen Stärken in ihrer Politik gegenüber dem Westen. Sie beide verfolgen dasselbe strategische Interesse, den westlichen Einfluss zurückzudrängen zugunsten einer multipolaren Weltordnung, die allen Staaten der Welt gleiche Entwicklungsrechte zubilligt.

Dem Westen soll die Macht genommen werden, nach eigenen launischen Wertmaßstäben die Nationen in Schurkenstaaten und Demokratien unterteilen zu können, mit entsprechenden Vor- oder Nachteilen für deren gesellschaftliches Vorankommen. Mit dem wachsenden Einfluss von Russland und China löst sich der weltweite Würgegriff der regelbasierten Ordnung und ihrer westlichen Werte.

Innere Schwäche

Aber nicht nur außerhalb des westlichen Wertebiotops gerät dieses Demokratiemodell unter Druck und in Misskredit. In den eigenen Gesellschaften gehen immer größere Teile der Bevölkerung den selbst ernannten Demokraten von der Fahne. Es ist die Politik der herrschenden Parteien und ihrer Regierungen, in der sie sich selbst und ihre Interessen immer weniger berücksichtigt sehen. Diese Politik der von Ideologie und Moralismus getriebenen Eiferer vergrault die Wählerschaft.

Da es besonders in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine keine andere Partei gibt als die Alternative für Deutschland (AfD), die Verhandlungen und die Einstellung der Waffenlieferungen fordert, erhält diese immer mehr Zulauf. Denn viele Menschen sehen diesen Krieg nicht als ihren Krieg. Aber auch in anderen Fragen wie der Energiewende mit ihrem Gebäudeenergiegesetz und ihrer ablehnenden Haltung gegen die sich immer mehr durchsetzende "Wokeness" und den damit verbundenen Genderzwang ist sie näher an der Wirklichkeit der Menschen als die anderen Parteien – besonders die der Regierungskoalition.

Anstatt aber eine Politik zu betreiben, die den Interessen der Bevölkerung gerecht wird, verurteilen die meisten Parteien die Bürger für ihre Hinwendung zur AfD. Sie merken, dass sie die Bürger nicht mehr erreichen und immer weniger mit den Inhalten ihrer Politik wie auch mit ihren Erklärungen und Ansichten überzeugen können. Den Grund für ihr Scheitern sehen sie jedoch nicht im eigenen Verhalten, Politik über die Köpfe der Bürger hinweg zu machen, sondern darin, dass man die eigene richtige Politik nicht gut genug kommunizieren konnte.

Mit anderen Worten gesagt: Der Bürger ist zu blöd, Politik zu verstehen und deren Inhalte sachgerecht einschätzen zu können. Anstatt sich aber einzugestehen, dass sie den Kontakt zu den Wählern und den Boden unter ihren Füßen verloren haben, werfen die Parteien in ihrer Hilflosigkeit den Sympathisanten der AfD vor, Nazis, Rechtsextreme und Antidemokraten zu unterstützen oder selbst solche zu sein.

In ihrer Verblendung und Rechthaberei fällt ihnen gar nicht auf, dass doch eigentlich sie selbst sich durch dieses Verhalten als die wahren Antidemokraten zu erkennen geben. Denn offensichtlich ist den Meinungsmachern aus Medien und Politik der demokratische Wert der Meinungs- und Wahlfreiheit in dem Moment wurscht, wo die politische Willensbekundung mündiger Bürger den Meinungsmachern nicht in den Kram passt.

Das gilt auch für das Denken gerade jener Kräfte, die die westlichen und demokratischen Werte immer wie eine Monstranz vor sich hertragen, besonders die Grünen und solche, die sich sonst überall lautstark gegen jede Form von Diskriminierung empören. Deren in Wirklichkeit undemokratische Haltung feierte öffentlich Urständ bei einer Kundgebung gegen "demokratiefeindliche Parolen" am 1. Juli dieses Jahres in München unter dem Motto "Aus-ge-Trumpt".

Wem gehört die Demokratie?

Anlass dieser Veranstaltung war eine Kundgebung am 10. Juni dieses Jahres in Erding, auf der etwa 13.000 Menschen gegen das Gebäudeenergiegesetz der deutschen Regierung demonstriert hatten. Nicht nur wegen der großen Teilnehmerzahl hatte die Demonstration für Aufsehen gesorgt, sondern auch wegen der angeblichen Verbandelung von Vertretern demokratischer Parteien mit sogenannten Antidemokraten.

Grüne und Teile von SPD und Linken hatten nicht nur den Auftritt des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder in Erding als gemeinsame Sache mit Demokratiefeinden angeprangert. Ganz besonders hatten sie sich über dessen Stellvertreter Hubert Aiwanger von den Freien Wählern empört, der dazu aufgerufen hatte, "die schweigende große Mehrheit dieses Landes" müsse sich "die Demokratie wieder zurückholen".

Nach dem politischen Denken von Grünen und SPD handelt es sich um "destruktiven Populismus", wenn die Mehrheit des Volkes ihr Schweigen bricht und die Demokratie für sich und ihre Interessen in Anspruch nehmen will. Und die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang setzte gar die Inanspruchnahme der Demokratie durch die schweigende Mehrheit damit gleich, "den Rechten nach dem Mund zu reden".

Stellt sich die Frage nach dem Demokratieverständnis jener, die sich immer wieder gerne als die Vertreter und Verfechter der westlichen und demokratischen Werte hinstellen. Welche Rolle spielt nach deren Weltbild noch das Volk in einer Demokratie? Offensichtlich haben sich solche Volksvertreter bereits so weit von diesem entfernt, dass ihnen schon nicht mehr bewusst ist, dass sie nur seine Vertreter sind, nicht dessen Vormunde. Und schon gar nicht sind sie das Volk selbst.

Jedenfalls haben das Volk und seine Interessen bei der Münchner Kundgebung, der selbsterklärten "Demonstration der Vernünftigen", keine Rolle gespielt. Dabei traten mit Katharina Schulze die Spitzenkandidatin der Grünen und mit Florian von Brunn der Spitzenkandidat der SPD für die bayerische Landtagswahl als Redner auf. Das Volk, um deren Stimmen und gut bezahlte Mandate sie sich bewerben wollen, und seine Interessen schienen ihnen aber nicht so wichtig zu sein wie die Abgrenzung von jenen, denen man als Demokratiefeinden die "Rote Karte" zeigen wolle.

Dabei stand aber nicht der Schutz der Demokratie als das Gemeinwesen aller im Vordergrund, sondern der Schutz der eigenen Demokratie oder was man dafür hält. So rief die grüne Bewerberin für den Landtagssitz, Katharina Schulze, dann auch ihrem Publikum zu:

"Wir beschützen unsere Demokratie, wir bewahren unsere Demokratie und wir achten unsere Demokratie."

Da zeigt sich ein Verständnis von Demokratie als persönliches Eigentum einer besonderen Gruppe, als alleiniges Hoheitsgebiet einer besonderen Kaste, auf dem diese nach eigenem Gutdünken glaubt, nach Belieben schalten, walten und bestimmen zu können. Dass diese Demokratie auch den anderen gehört, selbst den Wählern und Sympathisanten der AfD, scheint in diesem Weltbild und Demokratieverständnis nicht vorzukommen.

Nun handelte es sich bei den Rednern nicht um irgendwelche verwirrten Hinterwäldler, sondern um das regionale Führungspersonal jener Parteien. Das deutet darauf hin, dass sich in diesen Parteien eine Kaste mit einem zutiefst elitären Denken durchgesetzt zu haben scheint. Man will zwar von diesem Volk gewählt werden, über das man sich zu erheben und dessen Interessen man geringzuschätzen scheint. Aber eigentlich will man nichts mit ihm zu tun haben. Diese überhebliche Haltung entspricht jener der Außenministerin Baerbock, der – nach ihren eigenen Worten – bei der Unterstützung für die Ukraine das Denken der eigenen Wähler egal ist.

Für sie scheint es um Wichtigeres zu gehen als den Wählerwillen und die Interessen des Volkes. Sie geben sich als solche, die dazu bestimmt und befähigt sind, in den Lauf der Dinge einzugreifen, weil sie – anders als das gemeine Volk – über Visionen und Ideale verfügen. Dieses Denken brachte die bayerische Verdi-Chefin Luise Klemens auf der Veranstaltung treffend zum Ausdruck, dass "die Anwesenden die Demokratinnen und Demokraten" seien, also die "Guten".

In diesem Demokratieverständnis sind alle anderen außer den eigenen Gefolgsleuten anscheinend keine Demokraten mehr. Besteht die Mehrheit des Volkes damit automatisch aus Demokratiegegnern?

Rüdiger Rauls ist Buchautor und betreibt den Blog Politische Analyse.

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