Die NATO und die missbrauchte Ukraine

Wie Politiker und Medien des Westens ihr Verhältnis zur Ukraine sehen, hat wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Sie tun so, als wären sie väterliche Freunde. Aber tatsächlich ist diese Beziehung nur von einem geprägt ‒ von Missbrauch.

Von Dagmar Henn

Nun ist der NATO-Gipfel in Vilnius, auf dem das Schicksal der Ukraine entschieden wird, nur noch wenige Tage entfernt. Eskalation ja oder nein, das ist die Frage, vor der die versammelte NATO steht, aber gleich, welche Entscheidung fällt, die Interessen der ukrainischen Bevölkerung spielen dabei keine Rolle.

Wäre das Verhältnis des Westens zur Ukraine eine Paarbeziehung, könnte man ihr den Platz im Frauenhaus und beim Psychotherapeuten schon buchen. Es ist eine hochgradig missbräuchliche Beziehung, in der die misshandelte Frau immer wieder zu ihrem Partner zurückkehrt, fest überzeugt, er müsse sie eigentlich zutiefst lieben.

Wenn man betrachtet, wie weit und ob überhaupt die ukrainischen Interessen eine Rolle spielten und spielen, entpuppt sich die ganze mit Tremolo vorgetragene "Solidarität" als außerordentlich zynisch. Auch wenn es immer noch die mittlerweile russischen Gebiete sind, in denen Stadt für Stadt in ein Trümmerfeld verwandelt wird – man muss nur eine Umfrage betrachten, die das Kiewer Internationale Institut für Soziologie durchgeführt hat. Demzufolge hatten 78 Prozent der befragten Ukrainer nahe Verwandte oder Freunde, die verwundet oder getötet wurden, und zwar im Schnitt sieben Personen; 63 Prozent sagten, Todesopfer unter den nahen Verwandten oder Freunden zu haben, und es waren durchschnittlich jeweils drei. Würde man eine ähnliche Umfrage im Donbass durchführen, wo bereits seit über neun Jahren Krieg herrscht, wären die Ergebnisse noch deutlicher.

Es ist vollends absurd, dass nach wie vor westliche Politiker sogar von "humanitären Gründen" reden, warum man die Ukraine mit Waffen päppeln müsse (wie beispielsweise der FDP-Fraktionschef Christian Dürr jüngst in einer Talkshow), und dass die Frage, wie viele der vermeintlich zu schützenden Ukrainer dadurch ums Leben kommen, überhaupt keine Rolle spielt. Besonders eigenartig wirkt dieses Beharren auf einem Prinzip, dieser "territorialen Integrität der Ukraine", angesichts der Tatsache, dass im wirklichen, alltäglichen Leben der westlichen Länder Prinzipien nicht wirklich eine Rolle spielen, sondern Entscheidungen von rechnerischen Kriterien bestimmt werden.

Wie viele Tote ist es wert, ein Stück Land (oder auch zwei) in Besitz zu nehmen, dessen Bevölkerung gar nicht Teil dieses Staates sein will? Einen Geburtsjahrgang? Zwei? Wie viel Verwüstung, wie viele Traumata, wie viele dauerhaft Behinderte? Bei allem und jedem wird gerechnet, warum ausgerechnet in dem einen Fall, in dem sogar eine betriebswirtschaftliche Kalkulation ein humaneres Ergebnis hätte als dieses elende Prinzip?

Letztlich hat der Westen die Ukraine am Nasenring geführt, bis zum Metzgerbeil. Denn schon das Ultimatum, das vor zehn Jahren durch die EU gestellt wurde, um die Regierung Janukowitsch an Nachverhandlungen zum Assoziationsvertrag zu hindern, was dann den Maidan auslöste, hatte wenig mit den Interessen der Menschen in der Ukraine zu tun – und das sogar völlig ungeachtet der Tatsache, ob sie sich nun als Ukrainer oder als Russen begriffen. Nein, was die EU wollte, war eine Unterwerfung, während die ökonomischen Bedürfnisse der Ukraine eigentlich eine Brückenfunktion gen Russland verlangten, um die engen Wirtschaftsbeziehungen halten zu können. Warum manövriert man ein Land, das man angeblich so gern in der EU sehen will, in eine derart ungünstige Situation?

Es ist schon erstaunlich, wie leicht sich die Ukrainer abspeisen ließen, wenn man jetzt einmal annimmt, die Regierungen nach dem Putsch hätten tatsächlich die Mehrheit der Ukrainer hinter sich vereint. Dieses Ultimatum liegt zehn Jahre zurück, aber das Land ist heute noch nicht in der EU, und wenn man seine Aussichten ehrlich betrachtet, wird es auch nie Mitglied der EU werden; selbst wenn weder die EU noch die Ukraine im weiteren Verlauf des Konflikts verschwinden sollten. Eigentlich will sie niemand dort haben, ebenso wenig wie in der NATO, und gelegentlich wird das auch einmal ausgesprochen, aber die Ukrainer kommen nicht nur jedes Mal wieder zurückgekrochen, sie sind auch fest davon überzeugt, die Waffen, mit deren Hilfe man sie in Kanonenfutter verwandelt, seien ein Liebesbeweis.

Es ist eine gigantische Kreuzung aus Kohlhaas und Moloch. Kohlhaas, weil dem Prinzip gefolgt wird (zumindest, wenn man die Argumentation nimmt und nicht auf den Raubzug der Rüstungsindustrie blickt), auch wenn dafür alles in Scherben fällt. Fiat iustitia et pereat mundus. Moloch, weil dieses Zerrbild einer karthagischen Gottheit für sinnlose, zahlreiche Opferungen steht.

Selbst wenn jemand von der Überzeugung ausgeht, die Krim wie der Donbass seien Bestandteil einer seit Vorzeiten bestehenden Ukraine ‒ in dem Moment, in dem im Grunde klar ist, dass diese Überzeugung objektiv nicht durchsetzbar ist, und auf der anderen Seite feststeht, dass ein Beharren darauf unzählige Opfer fordern wird, ist es eigentlich das Gebot jeder zivilisierten Gesellschaft, innezuhalten und nach anderen Lösungen zu suchen. Warum? Weil der Respekt vor dem menschlichen Leben der Ausgangspunkt, die Grundvoraussetzung für all die anderen Dinge ist, die als so wertvoll betrachtet werden ‒ nicht umsonst wird die Tabuisierung des Menschenopfers in so vielen Kulturen und Religionen als Ausgangspunkt genommen.

Man muss hier gar nicht die Ansicht teilen, dass mit den Minsker Vereinbarungen eine wirkliche Lösung möglich gewesen wäre. Wie ist es denn mit anderen historisch umstrittenen Gebieten, wie Elsaß und Lothringen? War es nicht letztlich anstelle beiderseitigen Beharrens auf dem Anspruch die Annäherung der Nachbarn, die die Frage unbedeutend werden ließ? Dieses vermeintlich "humanitäre" Bestehen auf einer Maximalforderung, bei gleichzeitiger Vertiefung des Grabens zwischen den Nachbarn, beansprucht eine Moralität, mit der es nichts zu tun hat, weil es jeder konkreten historischen Erfahrung widerspricht.

Aber betrachten wir es einmal ökonomisch. Nachdem der Handel mit Russland schon mit dem Assoziationsabkommen zerstört wurde, ist inzwischen klar, dass selbst im höchst unwahrscheinlichen Fall, dass die erklärten Ziele durchsetzbar wären, das Land mit ungeheuren Schulden belastet ist und auch die EU, sollte sie jemals bereit sein, diese Ruine aufzunehmen, keinen Vorteil daraus ziehen wird. Im Gegenteil, je länger der Konflikt dauert, desto ungünstiger sind die Voraussetzungen und desto unwahrscheinlicher ist es, dass eine dank ihrer Energieprobleme ohnehin mit sich selbst beschäftigte EU überhaupt im Stande wäre, die zerstörte Ökonomie wiederaufzubauen. Unter diesem Aspekt sollte man eigentlich fast erwarten, dass die Ukraine mit einem Schleifchen versehen an Russland übergeben wird, weil der Plan, die Russen über den Konflikt zu ruinieren, gescheitert ist.

Niemand im Westen hat auch nur einen Funken Mitleid mit den Männern, die auf der Straße gefangen und in den Fleischwolf geworfen werden. Man lässt sie hinter falschen Zahlen verschwinden, hinter vermeintlichen Erfolgen und immer wieder hinter rührseligen Geschichten über "russische Kriegsverbrechen". Als hätten sie keine Familien, als wären sie nicht aus Fleisch und Blut, und als wären da nicht die mittlerweile zwei Drittel der ukrainischen Bevölkerung, die Verluste zu beklagen haben.

Sicher, es gibt, vor allem in den USA, aber auch in Westeuropa, einzelne Personen oder Gruppen, die einen gewaltigen Vorteil davon haben, dass man die Ukrainer an die Schlachtbank treibt. Aber nicht jeder, der lautstark von Moral spricht, hat Aktien von Rheinmetall oder Geld bei Blackrock; Politik und Journaille käuen diesen Irrsinn ohne das mindeste Zögern wieder, selbst ohne berechenbaren Vorteil.

Fast sollte man aus pädagogischen Gründen hoffen, dass sich die NATO für die Eskalation entscheidet, weil man vielleicht die eigenen Landsleute nicht ganz so hemmungslos ins Feuer schickt, und weil dann möglicherweise sichtbar würde, dass diese ganze Leichtfertigkeit in Wirklichkeit in der gleichen Verachtung wurzelt, wegen der die Ukraine auch nie wirklich Mitglied der EU würde, weil es ihnen nichts nützt, sich wie ein tollwütiger Hund auf alles Russische zu stürzen ‒ man behandelt sie letztlich doch als Slawen, wie mindere Wesen, um die es nicht schade ist.

Das hatten wir schon im Zusammenhang mit Syrien, diese falsche Moral, die auf der einen Seite die Flüchtlinge des Krieges willkommen hieß und auf der anderen nach Kräften dafür sorgte, das Land, aus dem sie kamen, weiter zu Klump zu schlagen. Ein ums andere Mal wurden alle Möglichkeiten ignoriert, ein friedliches Ende zu finden, zuletzt im April 2022 durch das Eingreifen von Boris Johnson, als die Verhandlungen in Istanbul kurz vor dem Abschluss standen.

Zwingt man einem Land, das man zu verteidigen behauptet, unerfüllbare Maximalforderungen auf, um danach Zehntausende in den Untergang zu schicken? Sicher nicht. Allein diese Tatsache belegt, dass mitnichten die Konfrontationshaltung gegenüber Russland ein Ergebnis des russischen Militäreinsatzes ist, sondern dass ihm diese Konfrontationshaltung vorausging. Denn ohne diese Konfrontationshaltung sind die "weichen" Lösungen möglich, siehe Elsaß und Lothringen.

Die Ukrainer sind dabei in ihrem Verhältnis zum Westen keine Subjekte, sondern Gegenstände, die genutzt werden, von den Vertretern der vermeintlich moralischen Warte, ebenso sehr, um über die Flüchtlinge Konformität innerhalb des eigenen Landes zu erzwingen, als auch, um über die in die ukrainische Armee gepressten die eigenen aggressiven Fantasien völlig risikofrei auszuleben. Es ist schwer, festzustellen, welche Beweggründe niedriger sind – die derjenigen, für die die Ukraine nur ein dickes Geschäft ist, eine Geldwaschanlage, durch die man die europäischen Bevölkerungen abzockt, oder die derjenigen, die die ganze Unternehmung für moralisch geboten halten. Dass größere Teile der ukrainischen Bevölkerung einer Ideologie anhängen, die sie zu willigen Knechten macht, ändert rein gar nichts am missbräuchlichen Charakter dieser Konstellation.

Und es ändert ebenfalls nichts daran, dass sie sich an dem Tag, an dem sie den Missbrauch erkennen, dauerhaft und gründlich von diesem Westen abwenden werden. Selbst wenn man mit einbezieht, dass die westlichen Erwartungen voller Fehlkalkulationen waren, sowohl was die Sanktionen, als auch was die militärischen Potenziale betrifft – es hätte schon längst ein Ende gefunden werden müssen. Wenn nicht im April vergangenen Jahres, dann im Herbst, als die Zahlen der Verluste in Cherson bekannt wurden, oder allerspätestens vor der jetzt scheiternden Offensive. Selbst für denjenigen, der die gesamte westliche Erzählung glaubt, spätestens in dem Moment, in dem sich das erklärte Ziel als militärisch unerreichbar erwiesen hat. Nicht nur die Kiewer Militärführung verleugnet jede Verantwortung gegenüber den eigenen Truppen ‒ all ihre westlichen Fanboys tragen die gleiche Verantwortung und verleugnen sie ebenso.

Sicher, die Angehörigen der Kiewer Regierung dürften alle selbst ihre Konten füllen und leicht zu motivieren sein, noch ein paar zusätzliche Millionen einzustreichen. Nur, dass niemand im westlichen Mainstream auch nur innehält und ein Zögern zeigt, weitere Truppen nachzulegen ‒ das ist ein vollständiges und profundes moralisches Versagen, desto deutlicher, je lauter eben die Moral betont wird.

Um das Ausmaß dieses Versagens zu erkennen, muss man nur wahrnehmen, dass das Mitgefühl mit den gewöhnlichen ukrainischen Soldaten auf russischer Seite deutlich ausgeprägter ist als auf der westlichen. Was nicht allzu schwer ist, denn im Westen ist es schlicht nicht existent. Der einzige Zusammenhang, in dem sie überhaupt vorkommen dürfen, ist, um die vermeintliche russische Grausamkeit zu illustrieren ‒ eben als Mittel zum Zweck, um die Behauptung zu stützen, der Westen sei zu diesem Krieg gekommen wie die Jungfrau zum Kinde, und um die Kriegsmaschinerie weiter am Laufen zu halten. Nicht als Menschen, die auch einen Anspruch auf ein Leben in Frieden haben, auf eine Zukunft.

Wer eine Gruppe Menschen auf die befahrene Autobahn treibt, begeht ein Verbrechen, egal, ob er sie nun mit Gewalt getrieben hat, mit Drohungen, oder indem er ihnen einredet, es könne ihnen nichts geschehen. Wer ein Land in einen Krieg treibt, den es verlieren muss, und immer noch nicht davon ablässt, diesen Krieg zu fördern, wenn die Niederlage längst absehbar ist, begeht ebenfalls ein Verbrechen. An diesem Land und an all seinen Menschen. Das ist, was der Westen gerade mit der Ukraine tut. Und irgendwann werden die Ukrainer ‒ gleich, wie der Staat, in dem sie leben, dann heißen wird ‒ dafür die Rechnung präsentieren.

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