Von Wladislaw Sankin
Der ukrainische Vize-Außenminister Andrei Melnyk, der in Erinnerung vieler Polit-Deutscher als pöbelnder Einpeitscher der angeblichen deutschen Zögerlichkeit bei der Unterstützung der Ukraine geblieben ist, war am Tag des Wagner-Putsches wieder "wer". Sein Zitat durfte die ausführliche Welt-Zusammenfassung zu dem Thema an vorderster Stelle schmücken. "Das Regime in Moskau" sei ein Koloss auf tönernen Füßen, dessen Agonie noch einige Zeit dauern könne. Dies öffne "Fenster der Möglichkeiten für die Ukraine", freute sich Melnyk.
Ihm pflichtete der heutzutage fast omnipräsente Politikwissenschaftler, Militärexperte und ausgewiesene Ukraine-Freund Carlo Masala im selben Artikel bei – in Russland entflamme beinahe ein Bürgerkrieg, dessen Chaos für die Ukraine von Vorteil sei. Nur wenige Tage später war es mit dieser Eintracht vorbei. Ob die schnell eingekehrte Langweile aufgrund der Beilegung des innerrussischen Konflikts schuld war?
Am Anfang stand eine Bücherempfehlung, die Masala für Die Zeit gegeben hat. Eine Novelle habe ihm für einen kurzen Moment die Zuflucht vor Krieg und Elend dieser Welt ermöglicht – "für jemanden wie mich, der ansonsten viel über Krieg und internationale Sicherheitspolitik liest, eine schöne, kurzweilige Flucht". Die Rede war von Dostojewskis Frühwerk "Weiße Nächte".
"Das Buch (es ist eigentlich ein Büchlein) gehört zu den weniger bekannten Werken Dostojewskis, aber zu seinen schönsten, zärtlichsten, zerbrechlichsten und gleichzeitig kraftvollsten, sowohl was die Sprache als auch die Handlung betrifft",
schrieb er für Die Zeit und twitterte sein Bild mit dem Dostojewskij-Büchlein dazu.
Der Zorn des ukrainischen Diplomaten ließ nicht lange auf sich warten.
"Lieber Carlo Masala, ohne Tolstojewski geht es wohl in Deutschland gar nicht. Die "zärtliche" russische Seele. Igitt. Egal, welche Gräueltaten die Russen in der Ukraine verüben, wird die "grosse russische Kultur" gefeiert. Vielleicht mal auch ukrainische Literatur verkosten?",
schrieb Melnyk.
Der Angriff auf seine geliebte Bücher gefiel wiederum Masala nicht. Er fühlte sich in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Er geiferte zurück:
"Wow. Was für eine nationalistische Scheiße. Sorry, Herr Melnyk, bei all ihren Verdiensten. Wird Zeit, dass sie sich aus dieser Sache raushalten, bevor sie noch in der übelsten Nationalismusjauche landen."
Den beinahe Nazismus-Vorwurf ließ Melnyk natürlich nicht gelten. Ein regelrechter Twitter-Krieg entbrannte, wobei Melnyk immer wieder Belege dafür brachte, wie "schädlich" russische Kultur in Wirklichkeit sei.
"Deutsche Verklärung der "grossen" imperialistischen Kultur Russlands ist zum Kotzen. Diese "Kultur" muss nicht propagiert, sondern gecancelt werden, gerade mitten im Vernichtungskrieg Moskaus gegen die ukrainische Staatlichkeit & ukrainische Kultur."
Aber auch Masala hielt die Stellung:
"Was schlagen Sie als Nächstes vor? Bücher verbieten? Oder gar ... Gehen Sie mir mit ihrem Dreck echt aus der Sonne."
Und weiter:
"Auch in dieser Attitüde sind Sie ihren Kollegen in Moskau recht nah, wenn man die Kultur des jeweils anderen verbieten und vernichten will. Wird Zeit für Brasilia oder ihre politische Bedeutungslosigkeit."
Die Unterstellung, dass Russen eigentlich noch schlimmer seien als Melnyk, brachten Masala keine Punkte. Es war zu spät. Zu diesem Moment und für die nächsten zwei Tage standen Masala und mit ihm ganz Deutschland am Pranger.
"Putin benutzt die "große" russische Kultur, Literatur, Musik und Celebrities als trojanisches Pferd, um sein perfides Narrativ vom "Russkiy Mir" voranzutreiben und die Aggressivität des Kremls zu verschleiern – besonders in Deutschland fällt seine giftige Kulturpropaganda auf fruchtbaren Boden", schrieb Melnyk auf Englisch und teilte einen ukrainischen Propagandafilm, der genau diesem Thema gewidmet war. Er selbst kam im Film als "Deutschland-Experte" vor.
Immer wieder schießt er zornige Sätze nach, obwohl in diesem Moment Masala den Twitter-Ring schon längst verlassen hatte. So warf er Deutschland vor, eine Kastengesellschaft zu sein, weil die Wissenschaftler angeblich über alle Kritik erhaben seien und Masala sei ein dünnhäutiger, selbstverliebter Egoist.
Nun ja, man könnte meinen, Melnyk sei Rassist und krankhafter Russophob, der sich mit seinen Tollwut-Anfällen selbst isoliert. Nein. Er weiß genau, was er tut und dass er das ausspricht, was eben viele meinen, aber sich nicht zu sagen trauen. Mit Carlo Masala ist es natürlich dumm gelaufen. Ein proukrainischer Militärexperte, der seine Kräfte im Buch eines fiesen Russen schöpft, ist gewiss eine Enttäuschung. Aber es gibt auch andere namhafte Deutschen, wie etwa den Historiker Gerd Koenen, der mit seinem Band "Russland-Komplex" eine ganze Enzyklopädie der deutsch-russischen Beziehungen geschaffen hat. Nicht ohne Schadenfreude merkte er an, dass Russland sich nach dem Beginn von "Putins Angriffskrieg" gründlich entzaubert habe:
"Alle spannungsvollen, schöpferischen Verbindungen, die es gegeben hat, sind vorerst abgeschnitten, jede Verzauberung Russlands als eines Anderen und Gegenpols zur Welt des Westens haben sich erledigt. Putin will sich und seinen Staat weder geliebt noch verstanden, sondern nur noch gefürchtet sehen."
Oder ist so etwas für Herrn Melnyk und seinesgleichen doch ein wenig zu intellektuell? Verzaubert, entzaubert … habt ihr gehört? Ist ALLES Russische zum Kotzen! Na also, canceln, nicht reden!
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