Von Marina Achmedowa
Wir sahen den alten Mann, der Himbeeren verkaufte, am Straßenrand und hielten an. Er saß unter einem staubigen Walnussbaum mit seinen Säcken und Gläsern.
Die Fernstraße hier erzeugt viel Lärm, Autos rauschen unentwegt vorbei. Auf beiden Seiten der Trasse sind Einfamilienhäuser wie dieses, vor dem wir nun stehen. Aus dem Hof kommt eine Frau mit einem Hund auf dem Arm.
"Ich bringe Ihnen eine Kiste, damit die Himbeeren während der Fahrt nicht matschig werden", bietet sie mir an.
Während sie die Kiste holt, überlege ich mir, ob sie die Frau des alten Mannes mit den Himbeeren ist. Ehe ich mir einen Reim darauf gemacht habe, kommt sie mit dem Hund und der Kiste zurück. Der Hund leckt ihr die Nase ab.
"Na, mein Söhnchen", erwidert die Frau die Zärtlichkeit.
Ich versuche, mich von meiner humorigen Seite zu zeigen:
"Ist Ihr Sohn nicht eifersüchtig auf den Hund?"
Sie muss Enkelkinder im Teenageralter haben, denke ich dabei, ohne es auszusprechen. Mir fällt auf, dass sie und das Hündchen fast die gleichen Augen haben – eingefallene, traurige Augen. Es kommt oft vor, dass Tiere ihren Herrchen und Frauchen in irgendwelchen markanten Gesichtszügen ähnlich sind oder mit der Zeit werden.
"Ich habe keinen Sohn", antwortet die Frau und blickt mir dabei in die Augen, "Er ist 2014 gefallen, er war in Giwis Kompanie. Mein Mann ist auch tot, er ist meinem Sohn gefolgt und fiel ebenfalls."
"Und Enkelkinder?" Ich frage das jetzt kleinlaut und vorsichtig und schaue verstohlen in ihren verwahrlosten, mit Rosen bepflanzten Garten. Ich sehe kein Kinderspielzeug darin.
"Auch keine Enkelkinder", antwortet sie. "Ich bin ganz allein."
Sie fängt zu weinen an, hört aber schnell wieder auf:
"Ich habe viele Jahre geweint, ich weinte jeden Tag allein im Haus, all diese Jahre lang, bis mir die Nachbarn diesen Hund geschenkt haben. Ja, Söhnchen?"
Sie küsst das Hündchen auf die Nase.
Auf der Fernstraße rauschen die Autos an uns vorbei. Der alte Mann, der mir all seine Himbeeren verkauft hat, sitzt weiter unter dem staubigen Nussbaum und hört unserem Gespräch zu. Wir sind in Ilowajsk.
Die Frau versucht, es mir zu erklären:
"Wissen Sie, wie es hier bei uns war? 2014, als die Nazis kamen, saßen sie in der Schule auf dieser Seite. Stimmt's, Großvater? Und alle unsere Jungs aus der Straße gingen sofort auf die andere Seite, zu den Aufständischen. Sieh mal, wie viele Sterne an den Häusern hängen, für jeden gefallenen Helden unserer Volksrepublik ein Stern."
Sie zeigt auf ein leeres Haus, auf dem kein Stern angebracht ist:
"Meine Nachbarin ging zu den Nazis in die Schule und die gingen zu ihr, und von ihr kamen sie zu mir. 'Man hat uns gesagt, dein Sohn ist zu den Separatisten gegangen.' Sie packten mich an den Haaren, schleiften mich auf dem Boden herum …"
Sie küsst den Hund.
"Sie traten meinen Mann in die Rippen. Als sie weggingen, sagte er: 'Ich werde in den Krieg ziehen und mindestens einen Mistkerl erschießen, aber ich werde ihn erschießen.' Und ich weinte und weinte. Aber was kann man da machen? Ja, kleiner Mann? Ja, Kleiner?"
"Wo sind diese Nachbarn jetzt?", frage ich.
"Sie sind in die Ukraine gezogen. Und sie haben ihre beiden Söhne dorthin geschickt. Sie hat uns alle (den ukrainischen Behörden) verraten, und als sie wegging, sagte sie uns: 'Ich hasse euch alle so sehr!' Bekommt aber eine Rente der Volksrepublik. Vielleicht hat sie richtig gehandelt, um die Haut ihrer Söhne zu retten. Ihre Söhne sind am Leben. Aber mein Sohn wäre nicht weggelaufen, auch wenn ich es ihm befohlen hätte. Ich wäre ja auch nicht geflohen."
Die Augen der Frau sind jetzt trocken und sie glänzen. Sie zeigt auf die Sterne auf den anderen Häusern.
"Die Nachbarin wird nicht mehr in ihr Haus zurückkehren. Sie wird uns niemals in die Augen sehen können. Denn der Junge dort drüben ist tot, der dort drüben ist auch tot. Und meiner ist tot."
Dann bricht sie ihre Erzählung ab und fragt mich:
"Weißt du, warum sie heute Nacht wieder so geschossen haben? Werden sie jetzt angreifen? Ich werde nicht weglaufen. Ich werde mich ins Gebüsch legen und schießen. Sollen sie mir ein Gewehr geben! Wenn sie es nicht tun, habe ich eine Mistgabel. Viele Frauen hier haben Heugabeln."
Sie lässt den Hund los und geht in ihren Hof. Der Hund läuft ihr hinterher.
"Lassen Sie ihn nicht auf die Fahrbahn", rufe ich ihr hinterher, da ich mich plötzlich vor dem Gedanken fürchte, dass der Hund unter die Räder kommen könnte und diese Frau, Ewgenija, dann wieder allein wäre.
"Davor habe ich selbst Angst", hält sie inne. Und dann: "Und ihr, bitte, arbeitet, bringt die Dinge in Ordnung."
Wir, mein Fahrer und ich, gehen an dem staubigen Nussbaum vorbei. Ich habe keinen Appetit mehr auf Himbeeren. Der alte Mann klappt seinen Stuhl zusammen und huscht ebenfalls davon. Er beklagt sich, dass es bald regnen wird und dass seine Rente zu klein ist.
Formell gilt Ewgenija nicht als Witwe und Mutter gefallener Soldaten. 2014 zählt nicht für die russische Bürokratie … Wie viel es doch noch zu tun gibt!
Auf dem Rückweg zum Auto denke ich, dass der Sieg, unser obligatorischer Sieg, uns von diesen stillen rechtschaffenen Frauen mit traurigen, eingefallenen Augen erlitten wird, die einsam in Häusern mit Sternen darauf leben.
Marina Achmedowa ist Schriftstellerin, Journalistin, Mitglied des Menschenrechtsrates der Russischen Föderation und seit Kurzem Chefredakteurin des Nachrichtenportals regnum.ru. Ihre Berichte über die Arbeit als Menschenrechtsaktivistin und ihre Reisen durch die Krisenregion kann man auf ihrem Telegramkanal nachlesen.
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