Von Dagmar Henn
Wenn man zusieht, wie die heutige Regierung mit der Frage der Souveränität umgeht, muss man den Eindruck haben, sie verstünde gar nicht wirklich, worum es sich dabei handelt. Denn während gejubelt wird, man habe die Abhängigkeit von russischem Erdgas beendet, wird völlig übersehen, dass man nun von US-Gas abhängig ist – zusätzlich zur ohnehin vorhandenen Abhängigkeit von auf dem Seeweg transportiertem Erdöl, was eine weitere Abhängigkeit von den USA darstellt.
Souveränität ist keine Frage, welche Staaten man gerade lieber hat und welche nicht. Entscheidungen zu Industrie- oder Energiepolitik sind immer langfristig. In einem Zeitraum von zwanzig, dreißig Jahren kann sich vieles ändern, auch ein Land, das man heute für einen Verbündeten hält, sich in einen Gegner verwandeln. Es ist also bei solchen Entscheidungen wichtig, dass sie die Risiken möglicher Veränderungen begrenzen. Das war beispielsweise mit ein Grund für die langjährige Subventionierung der deutschen Kohle- und Stahlindustrie. Heimische Bodenschätze, die vor Ort verarbeitet werden, bedeuten das geringste Risiko.
Nehmen wir einmal das Beispiel Stahl. Wenn er in Deutschland nicht mehr produziert wird, muss er importiert werden. Allerdings ist die Schwerindustrie in ganz Europa weitgehend verschwunden, Deutschland war eines der letzten Länder, die diesen Zweig aufrechterhalten haben. 2022 produzierte Deutschland noch 36,8 Millionen Tonnen, Italien 21,6, der Rest ist zu vernachlässigen. Beim Nachbarn ist also nicht viel zu holen. Die Liste der großen Exporteure: China, Japan, Südkorea, Russland, EU (27,8 Millionen Tonnen, davon 24,1 aus Deutschland), Türkei, Italien, Belgien ...
Die Importe sollen dann natürlich möglichst günstig sein; Italien, Belgien und Frankreich sind da eher unwahrscheinlich, wobei in all diesen Staaten der Sektor ebenfalls schrumpft. Nehmen wir einmal an, die Importe erfolgen aus Indien. Da gäbe es zwei Möglichkeiten – den sich gerade entwickelnden Landweg, der von Indien über den Iran und Russland nach Mitteleuropa führt, oder den Seeweg. In beiden Fällen hängt die Sicherheit der Lieferung davon ab, dass es auf der Strecke keine Probleme gibt. Und es gibt Staaten, die sich gerne in Transportwege einmischen; insbesondere die Vereinigten Staaten. Die haben diese Strategie übrigens von den Briten übernommen, die schon in den Kriegen gegen Napoleon Seeblockaden eingesetzt hatten.
Wenn man überlegt, wie das Problem mit dem Stahl, den man nicht nur für Automobilproduktion und Hausbau braucht, gelöst werden kann, wäre die sicherste Strategie für den indischen Stahl, beide mögliche Transportwege jeweils zur Hälfte zu nutzen, weil damit das Gesamtrisiko halbiert wird. Wie würde die jetzige Bundesregierung handeln? Sie würde sich zu hundert Prozent auf den Seeweg verlassen. Weil ihr gar nicht in den Sinn kommt, dass man mit den USA einmal grundverschiedener Meinung sein könnte, und die Hälfte der auf dem Landweg liegenden Staaten "böse" ist.
Die Energiepolitik vergangener Bundesregierungen versuchte immer wieder, solche Risiken auszubalancieren; das war auch Motiv für den Bau von Kernkraftwerken (und zwar explizit und mit Absicht nach deutschen Patenten, nicht nur, weil man damit Siemens einen Gefallen tat, sondern auch, um möglichen Konflikten in Bezug auf Wartung, Ersatzteile etc. aus dem Weg zu gehen). Auch der Bezug russischen (ursprünglich sowjetischen) Erdgases war ein Versuch einer solchen Absicherung. Schließlich hatte Anfang der 1970er die OPEC die Ölpreise massiv erhöht, und dann ist da noch das Problem des Seetransports.
Das, was seit vergangenem Jahr geschehen ist, nämlich den russischen Anteil an der Brennstoffversorgung zu kappen, ist also keine Stärkung der Souveränität, sondern eine Schwächung. Und wenn jetzt in der EU wie auch in Deutschland die Rede ist, unter der Überschrift von "Derisking" auch noch die Beziehungen nach China zu kappen, wird das Ganze vollends unsinnig, weil an die Stelle Chinas gerade bei Dingen wie Microchips dann wieder die USA treten, die, nüchtern gesprochen, weltweit bei Weitem der unberechenbarste Handelspartner sind.
Es ist schlicht kein Bereich, in dem man nach augenblicklichem Gusto entscheiden sollte. Die Grundlagen für souveräne Entscheidungen sind ausgesprochen handfest – Rohstoffe, Verkehrswege, mögliche Risiken entlang der Strecken. Und das normale Verhalten eines jeden souveränen Staates, wenn man sich nicht gerade für die Krone der Menschheit hält, ist es, für ausreichend gute Beziehungen zu den Nachbarn zu sorgen, damit das, was man selbst hat, problemlos gegen das getauscht werden kann, was man nicht hat.
Dabei ist die Konfrontationspolitik gegenüber Russland und China schon deshalb unvernünftig, weil China ein viel zu wichtiger Handelspartner ist und Deutschland selbst ein strategisches Interesse an einem ausgebauten Landweg hat. Das allerdings schmeckt den USA nicht, die nur beim Seeweg ihr Erpressungspotenzial ins Spiel bringen können. Die Bundesregierung hält sich folgsam an das, was die Vereinigten Staaten wollen; welchen langfristigen Nutzen das bringen soll, hat sie allerdings noch nicht erklärt. Im Gegenteil, die Begründung ist tagespolitisch. Das Problem einer verstärkten Abhängigkeit von den USA bleibt aber erhalten, selbst wenn der Krieg in der Ukraine lange vorbei ist.
Aber wie konnte es dazu kommen, dass die Wahrnehmung für diese Fragen so komplett verloren ging? Dass getan wird, als wäre die EU eine Art Überstaat, durch dessen Existenz alle Fragen der Souveränität obsolet geworden sind?
Als Einstieg in den Verfall kann man auch in diesem Fall das Jahr 1989 nehmen. Zuvor waren beide deutsche Staaten, jeder auf seine Weise, bemüht gewesen, sich so viel Handlungsspielraum wie möglich zu verschaffen, was durch den Kalten Krieg in Teilen sogar begünstigt worden war– mit viel Geschick hatte man beide Seiten gegeneinander ausspielen können, um im Zwischenraum dann selbst entscheiden zu können.
Der Theorie nach war dann der "Wiedervereinigung" genannte Moment (ich verweigere mich diesem Wort, weil es den Fakten widerspricht; das war eine feindliche Übernahme, keine Fusion) jener, in dem Deutschland die volle Souveränität erlangte. Wie man am heutigen Zustand erkennen kann, war das Gegenteil der Fall. Das Endprodukt dieses Prozesses hat gar keine mehr.
Zwischendrin gab es eine Phase, in der dieses Deutschland die EU komplett dominierte. Das war weder nett noch langfristig sinnvoll – wenn man seine Nachbarn ausplündert, bekommt man das irgendwann zurück. Aber der Zeitraum, in dem in der EU alles auf deutschen Befehl springen musste, hat ebenso dazu beigetragen, die Wahrnehmung für die Souveränität zu verlieren, wie die Tatsache, dass fast drei Jahrzehnte lang die USA alleinige Weltmacht waren. Eine ganze Generation von Politikern hat sich daran gewöhnt, nur nach unten zu treten und nach oben zu buckeln; eine ungewöhnlich starre Ordnung, in der die Flexibilität, die überlebenswichtig ist, wenn man gewissermaßen als Brotbelag zwischen zwei Weltmächten existiert, völlig verloren ging.
Gewissermaßen auf Zuruf des Herrn und Meisters sich erst ein Standbein abzuhacken, um dem großen Boss dann für das Abhacken des zweiten noch zu danken, ist schon besonders weit von Ansätzen souveränen Handelns entfernt.
Dazu kommt, dass sich der Blick auf Planungszeiträume in der Politik immer weiter verengt hat. Nachdem das Hauptziel jeder Haushaltspolitik seit Jahrzehnten die schwarze Null ist und die Doktrin herrscht, der Staat habe sich so weit wie möglich aus allem zurückzuziehen, und gleichzeitig sowohl durch die Betonung der Individualität der Handelnden als auch durch vermeintlich effizientere Verwaltungsmethoden wie regelmäßiges Hin- und Herschieben von Verantwortung die Kanäle trockengelegt wurden, durch die Ideen und Planungen von Generation zu Generation weitergereicht wurden, wurde der Horizont immer enger. Natürlich gibt es noch Teilbereiche wie die Stadtplanung, in denen sich die weiteren Horizonte gehalten haben, aber auch sie sind mit der Vorhaltung konfrontiert, privat ginge das alles so viel besser, und sind zusätzlich durch Mangel an Personal eingeengt.
Die Abschaffung jeder Redundanz lief ebenfalls unter dem Stichwort Effizienz. Keine Pläne erstellen, die nicht unmittelbar umgesetzt werden können. Man kennt die Auseinandersetzungen im Krankenhausbereich, in denen immer gepredigt wird, es dürfe nur so viele Betten in örtlichen Klinken geben, wie im Normalbetrieb gebraucht werden. Aber die Aufgabe staatlicher Strukturen ist auch die Vorsorge für mögliche Notfälle; die ist nie effizient, weil sie ja auf Ereignisse orientiert, die im günstigsten Fall nicht eintreten, ist aber doch von existentieller Bedeutung. Die Ahrtalkatastrophe hat gezeigt, wie der Zustand in diesem Bereich zurzeit ist. Mit dazu bei trägt natürlich, dass die EU-Regeln es in vielen Fällen verbieten, zu subventionieren, was die Erhaltung nötiger Redundanz wie auch eine wirkliche Zukunftsstrategie endgültig unmöglich macht.
Eine Planung auf langfristige Ziele (die beispielsweise der ziemlich geplant vonstatten gegangenen Industrialisierung Deutschlands im 19. Jahrhundert vorausgegangen war) setzt natürlich auch eine Geisteshaltung voraus, in der Folgegenerationen überhaupt Platz haben. Ein Verantwortungsgefühl nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft, und nicht nur in Bezug auf die tatsächliche Situation, sondern auch in Bezug auf mögliche künftige Situationen.
Ein Blick auf das Bundeskabinett zeigt, dass hierfür schon die intellektuellen Voraussetzungen fehlen. Es ist natürlich bequemer, den Vasallen zu geben; hätte Bundeskanzler Olaf Scholz damals neben Joe Biden den Mund aufgemacht und der Ankündigung widersprochen, Nord Stream zu beenden, hätte das eine unangenehme Situation werden können. Bequemlichkeit und Konfliktscheu sind also ebenfalls Optionen, warum das Denken nicht mehr in den erforderlichen Bahnen verläuft.
Und, diesen Punkt darf man nicht vergessen, die Systemkonkurrenz hatte damals auch dafür gesorgt, dass der Verstand geschärft worden war. Denn die Liste der Punkte, die man nicht einfach als gegeben hatte ansehen können, sondern bei denen klar gewesen war, dass es völlig unterschiedliche Möglichkeiten gibt, war ziemlich lang gewesen. Inzwischen gibt es in jedem europäischen Land je eine Handvoll neoliberaler Parteien, deren Politik sich so deutlich voneinander unterscheidet wie eineiige Zwillinge. Allein am Gebrauch des Wortes Demokratie kann man schon erkennen, dass nur noch die parlamentarisch-repräsentative Variante gedacht wird.
Aber was man nicht denken kann, kann man kaum tun; eine Enge des Denkens hat zwangsläufig eine Enge des Handelns zur Folge. Nachdem alle den gleichen Dogmen verpflichtet sind, zumindest im Westen, werden noch nicht einmal die Folgen dieser Dogmen angemessen überprüft – man müsste sehr schnell auf den Gedanken kommen, dass weder Gesundheitsversorgung noch Wohnungsversorgung als Markt funktionieren. Irgendwie haben sie alle mal das Schlagwort vom "Ende der Geschichte" gehört und es sich zu sehr zu Herzen genommen.
Es ist ein absurdes Ergebnis, dass das heutige Deutschland noch weit weniger souverän zu handeln imstande ist, als es die beiden Teilstaaten einst gewesen waren, und dass gleichzeitig auch die Fähigkeit verloren gegangen ist, Zwänge und Forderungen beispielsweise des großen Bruders jenseits des Großen Teichs zu unterlaufen.
Alle deutschen Regierungsoberhäupter zwischen 1945 und 1989, gleich ob BRD oder DDR, würden sich mit Grausen abwenden, wenn sie die verantwortungslose Unterwürfigkeit dieser Bundesregierung sähen. Deutschland hat nicht mehr Souveränität gewonnen, es hat das bisschen, das es gehabt hatte, verloren.
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