Gastkommentar von Karin Kneissl
"Es wird nur durch innere Unruhen gelingen, den russischen Koloss ins Wanken zu bringen", schrieb Graf Hoyos, Mitarbeiter des österreichisch-ungarischen Außenministeriums im September 1914. Dieses Zitat stellt die Historikerin Elisabeth Heresch an die Spitze ihrer Biographie über Israil Lasarewitsch Helphand alias Alexander Parvus, einen wesentlichen Financier der bolschewikischen Bewegung. Der Transport von Lenin im plombierten Zug aus dem Genfer Exil nach Sankt Petersburg war keine ad hoc Entscheidung des deutschen Generalstabs im Jahr 1917, um die Ostfront zu befrieden. Ein revolutionärer Umsturz wurde lange zuvor bereits von Exilrussen geplant. Heresch beschreibt anhand ihrer Archivforschungen detailliert die Korrespondenzen und vor allem auch die organisatorische und finanzielle Unterstützung aus Wien und Berlin für die ukrainischen Nationalisten ebenso wie für die Bolschewiken. Die Konfrontation zwischen Wien und Sankt Petersburg war auch eine Auseinandersetzung zwischen katholischer und orthodoxer Macht; es ging unter anderem um den jeweiligen Einfluss auf dem Balkan. Die Rückkehr Lenins, der Sturz von Zar Nikolaus II. und die Ermordung der Zarenfamilie hoben die Weltgeschichte aus den Fugen.
Alles schon mal dagewesen
Bei der faszinierenden Lektüre der Biographie des umtriebigen Parvus, ohne dessen Logistik und Mittel die Oktoberrevolution nicht so stattgefunden hätte, werden die Verstrickungen westlicher Staatskanzleien, vor allem Österreichs und Deutschlands, und historische Konstanten, die bis heute gelten, deutlich. Am 24. Juni warnte der österreichische Kanzler Karl Nehammer vor der Austragung eines innerrussischen Konflikts auf österreichischem Boden – und alle fragten sich, warum er ein solches Statement abgab. Geht es wieder wie 1929 um die Gründung von ukrainischen Verbänden, wie dies Stepan Bandera damals in Wien tat?
Groteskerweise verkündeten mehrere Minister des de jure neutralen Österreichs in den letzten Monaten, dass der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs jedenfalls umzusetzen wäre, falls Präsident Wladimir Putin nach Österreich kommen sollte. Andererseits verkündete der Innenminister am letzten Wochenende die Möglichkeit des Asylstatus für Wagner-Milizionäre in Österreich. Bedeutendere EU-Politiker wie Emmanuel Macron und Viktor Orbán erklärten aus vielen Gründen die gesamte Debatte um Kriegsverbrechen und die Rolle von Den Haag aus rechtlichen Gründen für hinfällig und für politisch völlig sinnlos. Zur Erinnerung, bei Letzteren handelt es sich um NATO-Mitglieder. Österreich hingegen ist theoretisch neutral, verhält sich aber päpstlicher als der Papst, wenn es gegen Russland geht.
Im Nebel der Ereignisse
Auch am Tag drei nach dem Marsch auf Moskau, den Jewgeni Prigoschin, der Gründer der Wagner Miliz, am 24. Juni startete und damit einen Bürgerkrieg in Russland riskierte, ist vieles unklar. Wer wusste wann worüber Bescheid? Waren russische Armeeangehörige verstrickt? Setzten die USA und die Briten auf einen Umsturz mittels terroristischer Zellen? Tappte Prigoschin im Wahn in eine Art Falle, indem er seine rund 40.000 Kämpfer in Rostow am Don in Position brachte und russische Soldaten töten ließ? Oder unternahm er dies wider besseres Wissen? Und warum handelte niemand früher?
Als der Milizchef vor einigen Wochen wieder heftige verbale Ausritte gegen die Militärführung unternahm, sprach er mehrfach von einem Ende der Minister der russischen Regierung wie damals 1917. Auf jenes Schicksalsjahr nahm auch Putin in seiner Rede an die Nation am Samstagvormittag Bezug. Die damaligen politischen und militärischen Interventionen des Westens in die russische Geschichte sitzen bis heute fest in den Köpfen der Menschen. Die russische Geschichte ist von tiefen Brüchen mit schweren Folgen für die Gesellschaft bis heute geprägt. Die Erschütterungen der letzten 120 Jahre trägt jede Familie in sich. Und am Samstag zeigte sich, wie sehr die Menschen an ihr Land glauben und hinter ihrem Land und der politischen Führung stehen. Dieser Zivilgeist ist unbekannt in so manch anderer Gesellschaft, wo politische Gräben jederzeit wieder zur Selbstzerfleischung führen können.
Die Impressionen
Interessant erscheint mir auch, welche Staatschefs in Moskau anriefen, um ihre Solidarität kundzutun und sich zu informieren. Die Telefonate kamen unter anderem aus Ankara, Doha, Riad, Peking und Teheran. Die Genannten haben ihrerseits Erfahrungen mit diversen Farbrevolutionen gemacht und wissen, wovon sie sprechen.
Vieles wankte in jenen Stunden, viel muss noch geklärt werden. Aber die unmittelbare Gefahr eines Flächenbrands in Russland konnte abgewendet werden. Man hat den Eindruck, dass damit auch die Beziehungen zwischen diesen Hauptstädten gestärkt aus dieser Krise hervortreten. Die viel zitierten Risse sind in der russischen Gesellschaft jedenfalls nicht aufgebrochen, aber so mancher Zuruf von außen zeigte klar auf, wer welche Umsturzpläne verfolgt. Und wenn es sein muss, dann spannt man eben auch das Wagner-Regiment vor den Karren, wie dies Michail Chodorkowski, vormals Rohstoffmagnat und Partner von Exxon im Jahr 2002, über die sozialen Medien vorschlug. Chodorkowski verbüßte wegen Steuerhinterziehung eine lange Lagerhaft in Russland, bevor er sich ins Exil in die Schweiz begab.
Vorläufige Konklusion
Das Konzept der "Balkanisierung" ist in westlichen Publikationen seit Jahrzehnten regelmäßig anzutreffen. Magazine wie The Economist sprangen oft auf dieses Thema auf. Vor einem Zerfall Chinas wurde schon vor 20 Jahren gewarnt. Russland steht erst seit der Invasion in die Ukraine wieder im Mittelpunkt dieser Überlegung. Zuletzt ging es um eine ethnische Kantonisierung Syriens oder auch des Iraks; auch im Falle Irans stößt man auf diese Idee.
Die Gesellschaften und staatlichen Strukturen erwiesen sich aber als ziemlich solide. Dies trifft auch auf Russland zu – trotz oder vielleicht auch gerade wegen der gesamtpolitischen Situation zwischen Krieg und Frieden. So manche Lektüre der russischen Klassiker zeigt, dass die russische Geschichte trotz aller Brüche immer weitergeht und ihre Konstanten aufrechterhält. Für Balkanisierung, sprich Staatenzerfall, ist also kein Platz.
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