Von Anton Gentzen
Als am 24. Juni die Kolonnen der Wagner-Fahrzeuge und -Söldner scheinbar ungehindert auf Moskau zurollten, deutete sich das Szenario an, das Russland am meisten fürchtet und das es auch um den Preis der nuklearen Apokalypse nicht zulassen wird: Kolonnen der NATO, die sich von der russisch-ukrainischen Grenze ausgehend ähnlich rasant auf die Hauptstadt und das Herz des Landes zubewegen.
Ein Blick auf die Landkarte genügt: Die Ukraine sitzt einem ausgewachsenen Geschwür gleich im weichen Bauch Russlands. Von der russisch-ukrainischen Grenze sind es nur wenige hundert Kilometer bis Moskau, aber auch zu so strategisch wichtigen Punkten wie Wolgograd (das ehemalige Stalingrad), Rostow am Don ("das Tor zum Kaukasus"), dem Kaukasus selbst.
Dabei hat die russisch-ukrainische Grenze sogar in der vom Westen anerkannten Konfiguration vor 2014 die Länge von fast zweitausend Kilometern. Es ist schlichtweg unmöglich, sie auf ihrer gesamten Länge effektiv gegen einen gleichstarken oder stärkeren Feind zu verteidigen, zumal es der Angreifer ist, der auswählt, wo er den Hauptstoß führt und dank gut ausgebauter Infrastruktur in der Ukraine auch noch seine Kräfte in kürzester Zeit verlegen kann. Russland muss dagegen bei seiner Logistik längere Wege in Kauf nehmen, die um den Körper der Ukraine herum gelegt sind.
Hinzu kommt, dass zwischen der Ukraine und Moskau keine nennenswerten natürlichen Hindernisse wie Berge oder größere Flüsse existieren, auf die man eine feste Verteidigungslinie stützen könnte oder die den Vormarsch eines Angreifers substantiell verzögern würden. Sicherlich wären die Wagner-Kolonnen irgendwo am Fluss Oka gestoppt und vernichtet worden, hätten sie ihren Vormarsch am Sonnabend fortgesetzt. Aber die NATO ist auch nicht die Wagner-Gruppe und kann um ein Hundertfaches mehr an Technik und Manneskraft aufbringen, ohne sich zu übernehmen.
Wenn es der NATO also gelingt, sich in der Ukraine festzusetzen, dann ist sie in einer Ausgangsposition für den vom Westen fest geplanten (nein, die Europäer sind nicht "die Guten", waren sie nie und sind es auch heute nicht) Eroberungskrieg, von der Hitler nur träumen konnte. Der Sieg in einem konventionellen Krieg ist dem westlichen Bündnis dann praktisch garantiert. Auch Hitler hätte unter solchen Ausgangsvoraussetzungen wahrscheinlich gesiegt. Zumindest Moskau eingenommen.
Der Leser wird einwenden, dass ein Krieg zwischen der NATO und Russland kein konventioneller sein wird. Nun, das hängt erstens davon ab, wie erfolgreich ein US-amerikanischer Erstschlag ausfallen wird und über wie viel nukleares Potenzial Russland danach noch verfügt. Und hier, und das ist der zweite und entscheidende Punkt, bringen amerikanische Raketen und Startrampen bei Charkow und Donezk der NATO den alles entscheidenden Vorteil für den Atomkrieg, der sie auch dazu verleiten könnte, tatsächlich loszuschlagen.
Da sind zum einen die Anflugzeiten: Von Charkow aus sind amerikanische Atomraketen schneller in Moskau, als ein Mensch die Situation zur Kenntnis nehmen, analysieren und angemessen reagieren kann. Das führt übrigens auch dazu, worauf Scott Ritter immer wieder zu Recht hinweist, dass die Neigung zunehmen wird, in einer unklaren Situation den "roten Knopf" lieber sofort zu drücken, statt mit kühlem Kopf zu analysieren oder mit Washington zu telefonieren. Die Gefahr von Fehleinschätzungen und fatalen Reaktionen auf Harmloses steigt. Schlimmer noch: Die Entscheidung über die Auslösung des "Vergeltungsschlags" könnte einer künstlichen Intelligenz übertragen werden, mit unabsehbaren Folgen.
Noch mehr Sorgen macht russischen Militärstrategen der zweite Aspekt: Russische Trägerraketen sind in der Startphase am verwundbarsten. Können die USA ihre Luftabwehr so installieren, dass ihre Abfangraketen rechtzeitig am Abschussort sind, um die russischen nuklearen Träger dort abzufangen, brauchen sie den russischen Vergeltungsschlag gar nicht mehr zu fürchten (außer vielleicht durch die jüngsten "Spielzeuge", deren Wirkung aber die Zyniker in Washington durchaus auch einkalkuliert und als hinnehmbar befunden haben könnten).
Von den bisherigen Stellungen in Polen und Rumänien, Westeuropa und den USA selbst ist ein solcher, nahezu hundertprozentiger Erfolg nicht erreichbar. Die Mehrzahl der russischen Startrampen ist zu weit entfernt: an der Wolga sowie am und hinter dem Ural. Der Leser kann es sich denken: Im Osten der Ukraine muss die strategische amerikanische Luftabwehr stehen, damit die Kalkulationen der Weltkriegsplaner in Washington aufgehen. Auch darum wird derzeit gekämpft.
All das zeigt, dass Russland sich nicht nur im Überlebenskampf sieht, sondern es auch objektiv um seine Existenz geht. Mit dem Griff nach der Ukraine haben die USA, EU und NATO den Rubikon überquert und sind in die aktive Phase der Kriegsvorbereitungen eingetreten, auf die Russland reagieren musste und eher noch zu zurückhaltend reagiert. Ein Recht auf dieses Vorgehen, Russland strategisch so in die Ecke zu treiben, dass es nicht zu verteidigen und dem kollektiven Westen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein wird, haben Brüssel und Washington nicht. Sie sind der Aggressor in diesem Konflikt und sollten auch als solche wahrgenommen werden.
Und die Ukraine? Hat sie nicht das Recht, ihr Schicksal frei zu wählen? Nun, erstens hat die Ukrainer selbst bislang niemand gefragt. Es gab kein Referendum über die außenpolitische Orientierung des Landes. Über die Assoziierung mit der EU wollte übrigens 2013 die "prorussische" Kommunistische Partei abstimmen lassen, die Proeuropäer waren strikt dagegen und haben die Bestrebungen der KPU, ein Referendum zu initiieren, mit Erfolg blockiert. Das sagt viel darüber aus, wie das Ergebnis ‒ zumindest damals ‒ ausgefallen wäre.
Und, zweitens, nein. Die Ukraine hat nicht das Recht, alles zu tun, was ihr in den Sinn kommt. Wie jeder Nachbar muss auch sie die legitimen Interessen ihrer Nachbarn, des größten allemal, achten und hüten. Was würden Sie denn von einem Nachbarn halten, der in seiner Wohnung Explosionen durchführt oder einer Bande von Räubern und Einbrechern die Hausschlüssel überlässt?
Am Sonnabend hat nicht nur Moskau, es hat ganz Russland den Atem angehalten und die Kilometer gezählt, die die Wagner-Söldner noch von der Hauptstadt entfernt waren. Das wird vielen Russen in Erinnerung gerufen haben, wie schnell die nur scheinbar riesigen Entfernungen im Land überwunden werden können und wie nah die Ukraine doch ist. Auch den letzten Zweiflern am Sinn der militärischen Sonderoperation werden die Zweifel nun vergangen sein. Das russische Volk wird nun noch näher mit seinem Präsidenten und seiner Armee zusammenrücken und den Kampf als das ansehen, was er tatsächlich ist: als einen nationalen und persönlichen Überlebenskampf.
Was den Westen angeht, so täte er längst gut daran, sich zurückzuziehen, aus einem Land, in dem er gerechterweise nichts zu suchen hat. Wenn er denn tatsächlich Frieden will, was ich bezweifle. Die Grundlage des Friedens in Europa ist die Einsicht, dass Europa an der Curzon-Linie endet. Jetzt und für alle Zeiten.
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