Der Artikel von Professor Sergei Karaganow "Eine harte, aber notwendige Entscheidung", in dem er behauptet, dass Russland durch den Einsatz seiner Atomwaffen die Menschheit vor einer globalen Katastrophe retten könnte, hat in Russland und im Ausland zahlreiche Reaktionen hervorgerufen. Diese Resonanz wurde bedingt durch den Status des Autors – er war Berater sowohl von Präsident Boris Jelzin als auch von Präsident Wladimir Putin – und durch die Überzeugung, dass seine Meinung möglicherweise von einigen Leuten in Moskauer Machtpositionen geteilt wird.
Dmitri Trenin, ein angesehener russischer Experte für Geopolitik, der seinerzeit beim sowjetischen Militär diente, gibt darauf eine Antwort.
Von Dmitri Trenin
Der jüngste Artikel von Professor Sergei Karaganow rückte die heikle Frage des Einsatzes von Atomwaffen im Ukraine-Konflikt in den Fokus der Öffentlichkeit. Viele Reaktionen auf den Artikel laufen auf die bekannte Argumentation hinaus, dass es in einem Atomkrieg keine Gewinner geben könne und er daher nicht geführt werden dürfe.
Vor diesem Hintergrund antwortete Präsident Wladimir Putin auf eine Frage beim Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforum, dass Atomwaffen eine abschreckende Wirkung hätten und die Bedingungen für ihren Einsatz in einer veröffentlichten Doktrin festgelegt seien. Er erklärte, dass die theoretische Möglichkeit des Einsatzes dieser Waffen bestehe, er aber derzeit keine Notwendigkeit sehe, sie einzusetzen.
Grundsätzlich seien Atomwaffen für Russland seit Beginn des Ukraine-Konflikts "eine Option, die auf dem Tisch liegt", gerade um die USA und ihre Verbündeten von einer direkten Einmischung abzuhalten. Dennoch haben die wiederholten öffentlichen Erinnerungen an den nuklearen Status Russlands seitens Putins und anderer Offizieller eine wachsende Eskalation der NATO-Beteiligung bisher nicht verhindert. Dadurch wurde deutlich, dass sich die nukleare Abschreckung, auf die viele in Moskau als glaubwürdiges Mittel zur Sicherung der lebenswichtigen Interessen des Landes vertrauten, als weitaus begrenzteres Instrument erwiesen hat, als sie erwartet hatten.
Tatsächlich haben sich die USA nun – undenkbar während des Kalten Krieges – die Aufgabe gestellt, zu versuchen, eine andere nukleare Supermacht in einer strategisch wichtigen Region zu besiegen, ohne auf Atomwaffen zurückzugreifen, sondern indem sie ein Drittland bewaffnet haben und politisch kontrollieren. Die Amerikaner gehen vorsichtig vor, loten die Reaktionen aus Moskau aus und erweitern konsequent die Grenzen des Möglichen hinsichtlich der Waffenlieferungen an Kiew sowie der Wahl der Angriffsziele dafür. Von der Einführung der "Javelin" zur Panzerabwehr bis hin zum Drängen, dass die Verbündeten auf dem Kontinent Panzer schicken, erwägen die USA nun offenbar den Transfer von F-16-Kampfflugzeugen und Langstreckenraketen.
Es ist wahrscheinlich, dass diese US-Strategie auf der Überzeugung basiert, dass die russische Führung es nicht wagen würde, im aktuellen Konflikt Atomwaffen einzusetzen, und dass ihre Hinweise auf das ihr zur Verfügung stehende Atomarsenal nichts weiter als ein Bluff sind. Die Amerikaner zeigten sich sogar – zumindest nach außen hin – gelassen, was die Stationierung russischer taktischer Atomwaffen in Weißrussland angeht. Diese "Furchtlosigkeit" ist eine direkte Folge der geopolitischen Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte und des Generationswechsels der Macht in den USA und im Westen im Allgemeinen.
Die Angst vor der Atombombe, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschte, ist verschwunden. Atomwaffen wurden aus der Gleichung gestrichen. Die praktische Schlussfolgerung daraus ist klar: Es besteht kein Grund, vor einer russischen atomaren Reaktion Angst zu haben.
Dies ist ein äußerst gefährliches Missverständnis. Der Verlauf des Ukrainekriegs deutet auf eine Eskalation des Konflikts sowohl horizontal – durch Ausweitung des militärischen Aktionsfeldes – als auch vertikal – durch Erhöhung der Stärke der eingesetzten Waffen und der Intensität ihres Einsatzes – hin. Es muss nüchtern anerkannt werden, dass diese Dynamik auf eine direkte bewaffnete Konfrontation zwischen Russland und der NATO zusteuert. Wenn die angesammelte Trägheit nicht gestoppt wird, wird es zu einem solchen Zusammenstoß kommen, und in diesem Fall wird der Krieg, nachdem er sich auf Westeuropa ausgeweitet hat, fast zwangsläufig zu einem nuklearen Krieg. Und nach einiger Zeit wird ein Atomkrieg in Europa höchstwahrscheinlich zu einem Schlagabtausch zwischen Russland und den USA führen.
Die Amerikaner und ihre Verbündeten spielen tatsächlich russisches Roulette. Ja, bisher war die russische Reaktion auf die Zerstörung von Nord Stream, den Drohnenangriff auf den strategischen Luftwaffenstützpunkt Engels, der Überfall bewaffneter Saboteure mit westlichen Waffen im Gebiet Belgorod, der Anschlag auf die Krim-Brücke und viele andere Aktionen der von Washington unterstützten und kontrollierten Seite relativ zurückhaltend. Wie Putin kürzlich klarstellte, gibt es gute Gründe für diese Zurückhaltung. Der Präsident betonte, dass Russland in der Lage sei, jedes Gebäude in Kiew zu zerstören, sich aber nicht der Terrormethoden des Feindes bedienen werde. Putin fügte jedoch hinzu, dass Russland verschiedene Optionen zur Zerstörung westlicher Kampfflugzeuge in Betracht ziehe, wenn diese in NATO-Ländern stationiert seien und sich direkt am Krieg in der Ukraine beteiligen.
Bisher bestand die Strategie Moskaus darin, dem Feind die Initiative zur Eskalation zu überlassen. Der Westen hat dies ausgenutzt und versucht, Russland auf dem Schlachtfeld zu zermürben und im Inneren zu untergraben. Es macht keinen Sinn, dass der Kreml bei diesem Plan mitspielt. Im Gegenteil, es ist eine bessere Idee, unsere Strategie der nuklearen Abschreckung zu präzisieren und zu modernisieren und dabei die praktischen Erfahrungen des Ukraine-Konflikts zu berücksichtigen. Die bestehenden Bestimmungen in der nuklearen Doktrin wurden nicht nur vor Beginn der aktuellen Militäroperation formuliert, sondern offenbar auch ohne genaue Vorstellung davon, was im Verlauf einer solchen Situation alles geschehen könnte.
Die Außenstrategie Russlands umfasst neben den militärischen Elementen auch eine Reihe diplomatischer Aktivitäten, Informationskampagnen und andere Aspekte. Dem Hauptgegner sollte ein eindeutiges Signal gegeben werden, dass Moskau sich nicht an die von der Gegenseite festgelegten Regeln halten wird. Natürlich sollte dies mit einem glaubwürdigen Dialog sowohl mit unseren strategischen Partnern als auch mit neutralen Staaten einhergehen, in dem wir die Beweggründe und Ziele unseres Handelns erläutern. Die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen im aktuellen Konflikt darf nicht verschwiegen werden. Diese reale und nicht nur theoretische Aussicht sollte ein Anreiz sein, die Eskalation dieses Krieges zu begrenzen und gar zu stoppen und letztendlich den Weg für ein zufriedenstellendes strategisches Gleichgewicht in Europa zu ebnen.
Was die von Professor Karaganow angesprochenen russischen Atomangriffe gegen Staaten der NATO betrifft: Hypothetisch gesehen würde Washington auf einen solchen Angriff höchstwahrscheinlich nicht mit einer eigenen nuklearen Reaktion gegen Russland reagieren – aus Angst vor einem russischen Vergeltungsschlag gegen die USA selbst. Dies würde den Mythos zerstören, der den Artikel 5 des Nordatlantikpakts seit Jahrzehnten umgibt, und zu einer tiefgreifenden Krise in der NATO selbst führen – möglicherweise sogar zur Auflösung der Organisation. Es ist möglich, dass unter solchen Umständen die atlantischen Eliten der NATO und der EU in Panik geraten und von patriotischen Kräften beiseite gefegt werden, die dann selbst erkennen würden, dass ihre Sicherheit tatsächlich nicht von einem nicht existierenden US-Atomschirm abhängt, sondern vom Aufbau einer ausgewogenen Beziehung zu Russland. Es ist auch möglich, dass die Amerikaner beschließen könnten, Russland in Ruhe zu lassen.
Es könnte durchaus sein, dass die eben beschriebene Berechnung am Ende genau so aufgehen würde. Aber es ist unwahrscheinlich.
Ja, ein US-Atomangriff auf Russland würde wahrscheinlich nicht umgehend folgen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Amerikaner Boston für Posen opfern würden, so wie sie im Kalten Krieg auch nicht Chicago für Hamburg geopfert hätten. Aber es wird sehr wahrscheinlich eine Reaktion aus Washington geben. Vielleicht vom nichtatomaren Typ, der, ohne zu wild zu spekulieren, für uns empfindlich und schmerzhaft sein könnte. Es ist wahrscheinlich, dass Washington damit versuchen würde, ein ähnliches Ziel wie der Kreml zu verfolgen: den Willen der russischen Führung zu lähmen, den Krieg fortzusetzen, und Panik in der russischen Gesellschaft zu erzeugen.
Es ist unwahrscheinlich, dass die Führung Russlands nach einem solchen Schlag kapituliert, da zu diesem Zeitpunkt die Existenz Russlands auf dem Spiel stünde. Wahrscheinlicher ist, dass es zu einem Vergeltungsschlag kommen würde, und zwar dieses Mal, wie man annehmen kann, gegen den Hauptgegner und nicht gegen seine Vasallen.
Lassen Sie uns vor diesem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, innehalten und unsere Analyse vorläufig zusammenfassen:
Soll die Atompatrone nachweislich in den Zylinder des Revolvers eingeführt werden, mit dem die US-Führung heute rücksichtslos spielt? Um einen verstorbenen amerikanischen Staatsmann zu paraphrasieren: Warum brauchen wir Atomwaffen, wenn wir uns angesichts einer existenziellen Bedrohung weigern, sie einzusetzen?
Andererseits besteht kein Grund, andere mit Worten zu erschrecken. Stattdessen müssen wir uns praktisch auf jede mögliche Wendung der Ereignisse vorbereiten, indem wir die Optionen und ihre Konsequenzen sorgfältig abwägen.
Der Krieg in der Ukraine hat sich in die Länge gezogen. Soweit wir das Vorgehen der russischen Führung erkennen können, erwartet sie strategische Erfolge durch den Rückgriff auf russische Ressourcen, die um ein Vielfaches größer sind als die der Ukraine. Sie stützt sich auch auf die Tatsache, dass für Moskau in diesem Krieg viel mehr auf dem Spiel steht als für den Westen. Diese Rechnung ist wahrscheinlich richtig, allerdings sollte berücksichtigt werden, dass der Gegner die Chancen Russlands anders einschätzt als Russland selbst und möglicherweise Schritte unternimmt, die zu einem direkten bewaffneten Zusammenstoß zwischen Russland und den USA oder der NATO führen könnten.
Auf eine solche Entwicklung müssen wir vorbereitet sein. Um eine allgemeine Katastrophe zu verhindern, ist es notwendig, die Angst vor dem Armageddon wieder in die Politik und das öffentliche Bewusstsein zu rücken. Im Atomzeitalter ist es die einzige Garantie für den Erhalt der Menschheit.
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Aus dem Englischen.
Dieser Artikel wurde ursprünglich von Russia in Global Affairs veröffentlicht.
Dmitri Trenin ist Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Senior im Kollegium für Forschung am Institut für globale Ökonomie und internationale Beziehungen. Er ist zudem Mitglied des russischen Rates für internationale Beziehungen.