Von Ilja Fabritschnikow
Der angesehene Akademiker Sergei Karaganow schlägt in seinem viel diskutierten Artikel vor, dass Russland aufhören sollte zu feilschen – mit dem kollektiven Westen, der weiterhin moderne Waffen in die ukrainischen Streitkräfte pumpt –, sondern sollte so schnell wie möglich die Leiter der atomaren Eskalation hinaufsteigen. Gleichzeitig glaubt er, dass Russland seine wirkliche Bereitschaft zum "präventiven nuklearen Verteidigungsschlag" auf das Territorium eines europäischen Landes, das die Kiewer Führung unterstützt, unter Beweis stellen müsse. Wir reden hier offenbar über Polen. Und wenn selbst eine derartige Eskalation die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht dazu zwingen würde, zur Besinnung zu kommen, wäre es laut Karaganow sogar notwendig, gegen eine "Gruppe von Staaten" vorzugehen.
Die russische Nuklearwaffendoktrin ist in den "Grundlagen der Staatspolitik der Russischen Föderation im Bereich der nuklearen Abschreckung" vom 2. Juni 2020 verankert. Darin heißt es ganz klar: "Die Russische Föderation betrachtet Atomwaffen ausschließlich als Mittel der Abschreckung. Der Einsatz dieser Maßnahme stellt eine extreme und erzwungene Situation dar. Russland unternimmt alle notwendigen Anstrengungen, um die nukleare Bedrohung zu verringern und eine Verschärfung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu verhindern, die militärische Konflikte, einschließlich nuklearer Konflikte, provozieren könnten. Die Russische Föderation ist zum Einsatz von Atomwaffen nur bereit im Falle von vier Szenarien – oder einer Kombination derer:
a) wenn glaubwürdige Informationen über den Abschuss ballistischer Raketen zum Angriff auf das Territorium der Russischen Föderation und/oder ihrer Verbündeten vorliegen;
b) beim Einsatz von Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen durch einen Feind auf dem Territorium der Russischen Föderation und/oder ihrer Verbündeten;
c) wenn ein feindlicher Angriff auf kritische staatliche oder militärische Einrichtungen der Russischen Föderation erfolgt, der eine Aktivierung der Nuklearstreitkräfte gefährden würde;
d) wenn eine Aggression gegen die Russische Föderation mit konventionellen Waffen stattfindet, bei der die Existenz des russischen Staates bedroht wird.
Zum jetzigen Zeitpunkt liegt keines der oben genannten Szenarien vor, in denen der russische Präsident den Einsatz von Atomwaffen anordnen könnte. Dennoch gibt es klare Konturen einer verbalen Eskalation seitens des Westens, die noch nicht von einer symmetrischen Reaktion seitens russischer Offizieller begleitet wurde. Bisher handelte es sich bei dieser verbalen Eskalation um eine Konfrontation im Informationsraum, die darauf abzielt, eine rein psychologische Reaktion des Hauptentscheidungsträgers über den Einsatz von russischen Atomwaffen – also des Präsidenten Wladimir Putin – auszuloten. Es gibt im Land keine weiteren Personen, die für den Einsatz strategischer Waffen verantwortlich sind. Sie sind weder in der Verfassung noch in einschlägigen Vorschriften oder Präsidialerlassen vorgesehen.
Es sollte betont werden, dass Russlands nukleare Doktrin unter Bedingungen entwickelt wurde, als westliche Länder ständig die russischen nationalen Kerninteressen bedrohten und es darum ging, eine Bereitschaft und eine Fähigkeit zur Selbstverteidigung zu demonstrieren. In diesem Sinne ist die Doktrin eindeutig und nicht offen für alternative Interpretationen, sondern ist genau ausgewogen und praktikabel angelegt.
Wenn wir hier von einer verbalen Eskalation sprechen, dann muss man sich als Beispiel nur auf einen aktuellen Vorschlag eines ehemaligen amerikanischen Beamten von vergleichsweise niedrigem Rang beziehen, auf Michael Rubin, der aktuell beim neokonservativen American Enterprise Institute tätig ist und der die Übergabe taktischer Atomwaffen an die Ukraine vorschlug. Wir sprechen auch von einer hypothetischen Bereitschaft der USA, F-16-Kampfflugzeuge der Serie Block 40/42 an die ukrainischen Streitkräfte zu übergeben, von denen einige für den Einsatz von B-61-Freifall-Atombomben umgerüstet sein oder werden können.
In Wirklichkeit ist dies alles Teil einer Informationskampagne in den westeuropäischen und teilweise auch US-amerikanischen Medien, die ab Mitte des vergangenen Jahres erheblich an Dynamik zugenommen hat. Westliche Kommentatoren spekulierten aktiv und immer nachdrücklicher darüber, nicht ob, sondern wann Russland endlich seine taktischen Nuklearkapazitäten gegen Kiew einsetzen werde. Damit versuchen sie, Moskau aktiv dazu zu drängen, das Tabu eines proaktiven Einsatzes von Atomwaffen zu brechen.
Das Ziel dieser Informationskampagne ist klar: Eine öffentliche Gegenreaktion zu provozieren, nicht nur seitens der russischen Medien oder der Expertengemeinschaft, sondern auch psychologischen Druck auf die außenpolitischen Entscheidungsträger Russlands auszuüben und die Schwelle der Anfälligkeit für solche Entscheidungen zu senken. Mit anderen Worten: Russland in eine moralische Gleichstellung mit den USA zu bringen, die als erstes und einziges Land der Welt Atomwaffen auf dem Schlachtfeld eingesetzt haben.
Bisher wurde dieses Ziel nicht erreicht, und der Ansatz der russischen Führung bei der Nutzung seiner nuklearen Fähigkeiten blieb zuverlässig eingeschränkt: durch doktrinäre Rahmenbedingungen, durch eine pragmatische Sicht des Präsidenten auf diese Frage und durch eine verantwortungsvolle Haltung gegenüber allen Fragen der militärischen Eskalation.
Nach gewissen Einschätzungen – darunter denen hochrangiger russischer Diplomaten und anderer Praktiker internationaler Beziehungen – würde ein begrenzter und präventiver Atomschlag Russlands – zum Beispiel gegen Polen – keine ähnliche Reaktion der USA und von deren Vasallen hervorrufen. Vielmehr gehe es darum, dass ein Absenken der Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen – und erst recht für deren Einsatz gegen Staaten ohne Atomwaffen –, eben nicht zu einer Beschwichtigung der westlichen Welt führen würde. Vielmehr würde das dazu führen, dass auch die Möglichkeiten des Einsatzes von Atomwaffen durch Länder außerhalb des großen nuklearen Clubs, also etwa durch Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea, dann zunimmt. Ganz einfach, weil dies dann unwiderruflich zur neuen Norm in einer politisch-militärischen Konfrontation werden könnte.
Würde man darüber hinaus für einen proaktiven, präventiven Atomschlag zur Selbstverteidigung plädieren – "für all das Böse, das sie uns angetan haben, für alles Gute, das wir erreichen können" –, dann würde man praktisch gemäß den vom Westen vorgelebten, uns dann auferlegten Regeln spielen. Stattdessen sollte man vielmehr stets durch pragmatische politisch-militärische Maßnahmen konsequent die Fehlerhaftigkeit ebendieser westlichen "Regeln" aufzeigen und sie in nicht allzu ferner Zukunft – gemeinsam mit anderen verantwortlichen Akteuren der internationalen Gemeinschaft – vollständig abschaffen.
Man sollte nicht darüber nachdenken, Polen in ein nuklear verseuchtes Ödland zu verwandeln – ganz so, als würde man ein unvernünftiges Kind enthaupten, weil es gelegentlich eine Fensterscheibe einschlägt –, sondern vielmehr darüber, wie eine Weltordnung zu schaffen ist, in der die bloße Idee des Einsatzes militärischer Gewalt und des politisch-militärischen Drucks zur Durchsetzung einer sogenannten "regelbasierten Ordnung" unmöglich und allgemein verurteilt wird.
Andererseits hat Russland gegenüber seinen westeuropäischen und US-amerikanischen Gesprächspartnern hinreichend deutlich gemacht, dass bei einem direkten Einsatz konventioneller westlicher Kräfte gegen russische Bodentruppen – zum Beispiel bei direktem Kontakt polnischer Soldaten mit unseren Kampftruppen in dem Falle etwa, dass polnische Einheiten Gebiete in der Westukraine besetzen, oder beim Versuch einer Invasion in Kaliningrad oder bei militärischen Aktionen gegen Weißrussland – die nationale Doktrin der nuklearen Abschreckung in voller Übereinstimmung mit dem Geist und Buchstaben des russischen Rechts umgesetzt wird. Es wäre und bleibt somit eine gute und notwendige Übung für die zuständigen politisch-militärischen Planungsstäbe der NATO, diese russische Doktrin sorgfältig zu lesen.
So paradox es auch klingen mag, die Staaten der NATO sind in der heiklen und fehleranfälligen Angelegenheit der weiteren Eskalation inzwischen nachweislich proaktiv. Und die außenpolitische Führung Russlands scheint auf diese riskanten Initiativen verspätet reagiert zu haben. Tatsächlich bestätigt die demonstrative Unruhe des kollektiven Westens nur den Verlust der Initiative, und Eile führt immer zu dramatischen Fehleinschätzungen.
Wir sollten unseren ausländischen "Partnern" nicht ihr Privileg streitig machen wollen, all jene Fehler zu machen, zu denen sie uns allzu gerne zwingen wollen. Stattdessen sollten wir jedoch – auch über den von ihnen kontrollierten englischsprachigen Informationsraum – ausgefeilte und mehrdimensionale moralpsychologische Operationen mit dem klaren Ziel durchführen, ihre Bereitschaft zu untergraben, auf lange Sicht immer so weiterzumachen wie bisher.
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Übersetzt aus dem Englischen
Ilja Fabritschnikow ist Mitglied des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Kommunikationsberater.