Von Dagmar Henn
Im Grunde sollte man die letzte Folge von Hart aber Fair aus der Mediathek nehmen und durch eine Folge von Sex and the City ersetzen. Das wäre nicht nur unterhaltsamer, sondern an vielen Punkten auch informativer. Ansonsten baute die ganze Sendung eine Welt, in der es nur zwei denkbare Verhaltensmuster zu geben schien – woke oder CDU.
Einen kleinen Auftrag, letztere wider die AfD zu stärken, könnte man durchaus dahinter vermuten. Drei Politiker tauchten ausführlicher in der Sendung auf: eine junge Kommunalpolitikerin, Rita Süßmuth und Friedrich Merz (per Videoeinspielung), alle drei CDU. Andere gab es nur in Ultrakurzversion, und (nicht nur) in Bezug auf die deutsche Geschichte war die ganze Erzählung zutiefst manipuliert.
Eigentlich müsste jetzt die SPD protestieren. Schließlich war das die Partei, die die ersten Frauen ins deutsche Parlament schickte. Allerdings nicht 1985 unter Helmut Kohl, sondern ganze 37 Frauen im ersten Parlament der Weimarer Republik (die frisch gegründete KPD hatte die Wahl boykottiert); damals der höchste Frauenanteil weltweit. Die meisten der weiblichen Abgeordneten der Weimarer Zeit stammten allerdings aus der Arbeiterbewegung, wie etwa Clara Zetkin. Im Bundestag der BRD fiel der Frauenanteil dann wieder; in der Volkskammer der DDR sah das allerdings anders aus – von 23 Prozent Frauen stieg er bis 1989 auf 32 Prozent. Das ist ungefähr der Wert, bei dem die BRD heute liegt.
Passt das nur nicht in eine sensationalistisch verkaufte Sendung, die immerhin mit dem Skandal um Lindemann aufmacht? Es werden doch sogar kurz einige der materiellen Tatsachen erwähnt, wie der nach wie vor bestehende Lohnabstand zwischen Männern und Frauen. Aber gleichzeitig wird, wie in Deutschland üblich, so getan, als wäre der Abstand zwischen Friseurin und Metallfacharbeiter, zwischen sozialen und technischen Berufen naturgegeben und nicht das Produkt menschlicher Entscheidungen. Sollen sie doch technische Berufe studieren, die Mädels. In diesem Zusammenhang ist immer ein Blick auf die Löhne der Schweiz lehrreich – es geht nämlich, das völlig anders zu machen und auch Reinigungskräfte anständig zu bezahlen.
Aber der Reißer dreht sich ja um Rammstein. Und es gibt eine ordentlich geteilte Welt, in der auf der einen Seite Frau Lohaus, Journalistin, aber eben auch in der Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen tätig, und auf der anderen die CDU-Kommunalpolitikerin Lisa Schäfer steht. Die eine, völlig der Erwartung entsprechend, ganz empört über die Übergriffe, die Lindemann zugeschrieben werden, und die andere dann doch darauf verweisend, dass es für solche Fragen das Strafrecht gebe, und Ermittlungen und Urteile die Aufgabe von Polizei und Justiz seien.
Schäfer wird während der Debatte gelegentlich ins Lächerliche gezogen. Was nicht allzu schwer fällt, schließlich wurde offenkundig nach jung, blond, vom Land und, nun, es wäre falsch, sie unsouverän zu nennen, aber eben im medialen Umfeld begrenzt erfahren gecastet. Eines darf man bei solchen Sendungen nämlich nie vergessen: Dass die Auswahl der Gäste durch die Redaktion letztlich der entscheidende Akt ist und sie in der Mehrzahl der Fälle in der Sendung schlicht die Rolle spielen, für die sie vorgesehen sind.
Schäfer tut das, und das Spiel funktioniert, indem alle, denen Lohaus zu undifferenziert ist, dann auf der Seite von Schäfer landen. Die Sympathieverteilung funktioniert.
Erst wird eine Umfrage eingeblendet, nach der 87 Prozent der Frauen "mindestens einmal in ihrem Leben ungewollt Körperkontakt erfahren hätten". Wir reden also nicht von sexuellen Übergriffen, sondern von "Körperkontakt".
Schäfer sagt, sie fühle sich unwohl, wenn ihr in bestimmten Gegenden junge Männer etwas nachriefen. Der Moderator erwidert darauf, ob sie kein Englisch könne (da es mittlerweile nur noch wenige US-Kasernen in Deutschland gibt, ist das eher exotisch, was er auch weiß) – klar, Schäfer wird in diesem Moment herabgesetzt. Was sie allerdings in ihrer Rolle, die Alternative zur woken Position von Lohoff darzustellen, eher bekräftigt. Wobei sie dann, ganz politisch korrekt, nur sagt, das seien eher andere Sprachen, und es gebe Männer, die mit ihrem Frauenbild ... Und Lohoff sagt daraufhin, sie fühle sich auf dem Oktoberfest unwohl ...
Das ist genauso unscharf wie die ganze Debatte. Dabei ist es nicht so, als gäbe es nicht Vorfälle ganz anderer Art, bei denen es nicht um Worte geht. Die erlaubte gesellschaftliche Sicht teilt da sauber in zwei Welten. In der einen, der (auch als bürgerlich dargestellten) deutschen Gesellschaft, geht es um Worte. Da wird eine Überschreitung skandalisiert, die in Zeiten von Tinder eher absurd ist, und eine Art des als "gesittet" anerkannten Umgangs gefordert, die deutlich viktorianische Züge trägt; und in der anderen, der Unterwelt, gibt es dann die gewalttätigen Übergriffe auf Frauen, über die man aber nicht sprechen darf, weil die Täter ja schließlich arme Opfer sind. Kölner Silvesternacht irgendwer?
Es sind Klassenzugehörigkeit und Herkunft, die weitgehend darüber entscheiden, ob um eine Frau herumzutänzeln und selbst das Spiel des Flirts verboten ist, oder ob selbst eine Gewalttat keine Rolle spielt. Wobei phasenweise die Übergriffe junger männlicher Migranten auf deutsche Frauen dann doch an die Oberfläche schwappen, diejenigen auf migrantische Frauen (die sich etwa 2015 in den Unterkünften häuften) aber irgendwie gar niemanden interessieren.
Gut bürgerliche deutsche Frauen wie Lohoff wissen nicht einmal mehr, dass sie ihre Rechte der Arbeiterbewegung verdanken, die jedoch nie Gleichberechtigung mit Prüderie gleichsetzte (man kann sich einmal den alten Film "Kuhle Wampe" von 1932 ansehen; leider gibt es ihn nicht online, außer auf Französisch. Was die DDR, den verschluckten Teil der deutschen Geschichte, betrifft, zeigt die Serie "Die lange Straße" ganz gut, was sich dort bewegt hatte).
Mädchen müssten halt für technische Berufe gewonnen werden, lautet das Fazit bei der Lohnfrage. Dieses Lied ist seit den 1970ern zu hören und hat herzlich wenig bewegt. Dabei spielt natürlich auch der Rückbau des zweiten Bildungswegs eine Rolle. Im Bundesarchiv gibt es in den Ordnern des FDGB einen Beschluss von 1952, nach dem alle Betriebe zwei Frauen zu benennen hätten, die man in einen Ingenieursstudiengang schicken könne; im Verhältnis dazu ist alles, was die BRD je an Frauenförderung zu Stande gebracht hat, Pillepalle. In der Sendung ist die Tatsache, dass es mehr Vorstandsvorsitzende deutscher Unternehmen mit Vornamen Christian gibt als weibliche, wichtiger als miserable Frauenrenten. Und Frau Lohoff (eben eine Grüne) klagt darüber, dass auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Konzerne (überwiegend Rüstungskonzerne) nur von Männern vertreten wurden, weil die Zeiten, als die Grünen diese Bestellveranstaltung der Rüstungsindustrie für die NATO ablehnten, eben schon lange vergessen sind.
Lindemann hat schlicht den falschen Beruf erwischt. Im normalen Leben spielen bei wirklichen Übergriffen oft ganz reale Machtverhältnisse eine Rolle; der Star hat an sich keine Macht über seine Bewunderer, sie wird ihm freiwillig verliehen, ganz anders als dem Chef im Büro. Das macht die ganze Causa Lindemann so bizarr, in einer Zeit, in der junge Frauen sich Partner per Tinder suchen.
Wenn man Fragen materieller Macht mit Fragen guter Sitten vermengt, kommt eine unappetitliche Mischung dabei heraus. Die ganze Darstellung der reißerischen Lindemann-Geschichte ist manipulativ, weil man den Sänger nur im Bühnen-Make-Up sieht, das unnatürlich sein soll, und auf keinem einzigen Bild als die Person Lindemann. Das ist so, als würde man eine erregte Debatte darüber führen, dass die Gabel in die linke Hand gehört, während daneben andere vor leeren Tellern sitzen. Das bürgerliche Publikum wird amüsiert und bei moralischer Erregung gehalten, während die wirklichen Fragen untergehen.
Diese Teilung der Welt folgt brav dem großen Vorbild der Vereinigten Staaten, in denen auch auf der einen Seite ein unaufgefordertes Anlächeln schon fast ein Verbrechen ist, während mit den Zeltreihen der Obdachlosen eine zweite Welt entsteht, in der kein Recht und keine Hoffnung mehr existieren und die Überlebensnot selbst jede Debatte über reale Übergriffe unmöglich und absurd macht, die wirklich Mächtigen und Reichen sich jedoch jedes Vergehen leisten können, ohne zur Verantwortung gezogen zu werden (und das gilt für die weiblichen Vertreter ebenso wie für die männlichen).
Die moralisch begründete Tatsache, über die wirklichen Übergriffe, die Schäfer mit ihrer Erzählung andeuten sollte, nicht zu sprechen, erfüllt letztlich genau die Funktion, eine untere Etage der Gesellschaft zu schaffen, die aus der Wahrnehmung ausgeblendet wird. Was dort passiert, geht "uns" nichts an, außer die Schwelle zwischen den Bereichen wird irgendwann überschritten. Es klingt auf den ersten Blick absurd, aber die strikte Rollenzuweisung, die damals, 2015, durchgesetzt wurde – auf der einen Seite die armen, hilfsbedüftigen Opfer, auf der anderen die edlen deutschen Helfer – lässt eben nicht nur Übergriffe und Gewalttaten verschwinden, sondern gleich den gesamten Menschen, der alles ist, nur kein Wesen gleicher Qualität. Denn wäre er das, müssten auch die gleichen Gesetze gelten.
Wie die Gendersprache erzeugt diese hochmoralische Debatte, welche vermeintlichen Verstöße sich ein Sänger hat zuschulden kommen lassen, eine Welt der Ungleichheit, eine Dressur fingierten Respekts, deren Regeln vor allem dazu dienen, sich selbst vom Pöbel abzugrenzen. Interessanterweise wird dabei die in ihren Ursprüngen dem obersten Bürgertum entstammende AfD zum Pöbel gerechnet, den man daran erkennen kann, dass er gegen die Redeverbote verstößt.
Was in früheren Jahrzehnten der Dialekt war, ist heute das falsche Pronomen. Schäfer darf in dieser Welt noch sein, denn auch sie bringt es nicht einmal mehr fertig, die türkischen oder arabischen Jungs, deren Aufmerksamkeit ihr zuwider ist, als solche zu benennen. Das ist es, was dem Moderator die Schneise eröffnet, mit seiner Frage, ob sie denn kein Englisch könne, noch eine weitere Schaufel bürgerlicher Arroganz obendrauf zu geben.
Warum ausgerechnet Lindemann als Opfer auserkoren wurde, bleibt nach wie vor rätselhaft, außer man würde davon ausgehen, dass allein die Geburt in der DDR ebenso sehr zum Angehörigen des Pöbels macht wie eine im vorderen Orient. Dass nun Lindemann dazu dienen muss, die Grenze zum östlichen Pöbel nachzuziehen, ergab sich womöglich schlicht deshalb, weil die Zahl der DDR-Geborenen, die überhaupt eine gesellschaftlich sichtbare Stellung haben, ohne ihr ganzes Dasein dem Kotau vor dem "Unrechtsstaat" zu widmen, äußerst begrenzt ist.
Mit Sexualität hat diese Debatte nichts zu tun. Deren Spiel ist komplexer, zweideutiger, sie stirbt, wenn man sie auf eine Weise verrechtlicht, wie das in Schweden bereits geschehen ist, wo zumindest in gewissen gesellschaftlichen Schichten jede sexuelle Handlung vorab vertraglich festgelegt werden muss.
Ein Schritt, der sicherlich auf eine kleine gesellschaftliche Schicht begrenzt bleibt (etwa an dem steigenden Migrantenanteil dort völlig vorbeigeht); aber der sehr nützlich war, als es darum ging, Julian Assange eine Falle zu stellen. Vorwürfe sexueller Art sind nun einmal etwas, das sich vielfach instrumentalisieren lässt, und dieser ins Immaterielle entfleuchte "Feminismus" bürgerlicher Damen ist dafür immer zu haben. Schäfer ist in diesem Umfeld als Verwaltungsfachangestellte geradezu die letzte Vertreterin der arbeitenden Menschheit, weshalb sie ja auch für Positionen steht, die gerade noch von dieser Blase toleriert werden.
Die ganze Debatte um Lindemann versucht, die Grenzen des Erlaubten noch ein wenig enger zu ziehen. Man wünscht sich beim Betrachten von ganzem Herzen in ein Gespräch zwischen Bauarbeitern über die Vorzüge ihres Lieblingsvereins. Von wegen "hart, aber fair". Aber das deutsche Fernsehen reproduziert immer nur die Sicht jener kleinen Schicht überangepasster Intelligenz, der die Erzeuger entstammen. Und sie wissen genau, warum sie niemanden in solchen Sendungen erscheinen lassen, der auch nur einen Funken des vielfältigen (ja, auch in sich widersprüchlichen) sozialen Zorns in die Runde würfe, der im Land glimmt. Die Runde würde sofort nach dem Riechfläschen greifen müssen.
Zugegeben, auch die Figuren von Sex and the City sind weit entfernt von der Gruppe Bauarbeiter. Aber es ist noch etwas von dem Humor zu finden, vom Vergnügen an der offenen Aussprache; es war ein frisch eroberter Platz, dieser weibliche Anspruch auf Lust, und die Freude daran war spürbar. Zwanzig Jahre später ist davon das übrig, was in dieser Fernsehsendung vorgeführt wurde.
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