Von Dr. Karin Kneissl
Als ich vor zehn Tagen aus dem Libanon, wo ich seit einem Jahr lebe, in Sankt Petersburg ankam, führte mich mein erster Weg in einen Park nahe dem Hotel. Dort genoss ich ein Eis auf einer Parkbank zwischen sprießenden Blumenbeeten. Ich hatte den Eindruck, dass Stiefmütterchen und Pfingstrosen zeitgleich aus der Erde schießen. Um mich herum schwirrten Spatzen, die ich mit den Resten meiner Eistüte fütterte. Innig erfreute ich mich an diesem tiefen Moment des Lebens. Wie verzaubert schien mir diese Wirklichkeit der gepflegten Parkanlage ohne hungrige Kinder, die verzweifelt um Trinkwasser betteln und ohne all das andere Elend der Alten und der Tiere. Zudem ist mein libanesischer Alltag vom dauernden Zusammenbruch der Haustechnik bestimmt. Probleme lösen, wenn man allein auf sich gestellt ist, das ist sehr anstrengend. Umso mehr genoss ich diese ersten Momente in einer der schönsten europäischen Städte. Es irritiert vielleicht meine ehemaligen Landsleute, aber Österreich vermisse ich nicht, auch wenn ich dort alles verloren habe, was ich mir im Laufe von Jahrzehnten aufgebaut hatte. Zuviel an Hass ist passiert und erreicht mich weiterhin, sodass ich meine Entscheidung im Rückblick mit Erleichterung sehe.
Die Sehnsucht nach Europa
Nach der Verweigerung eines Bankkontos und der Ausweisung aus Frankreich ohne jede Rechtsgrundlage hatte ich zwischen April und Mai des Jahres 2022 meine Tiere und mich in den Libanon übersiedelt. Ich hatte damals kaum eine andere Wahl. Ohne Konto kann man nicht existieren und logistisch war es unmöglich, nach Russland zu übersiedeln. Hierfür wäre umfassende Hilfe erforderlich gewesen.
Aber Europa vermisse ich zunehmend. Dazu gehört für mich ein Konzertbesuch, das Flanieren durch ein Museum, ein Kaffeehaus, Schaufensterbummeln und mit angenehmen Menschen gepflegte Konversation zu führen. All dies finde ich nun wieder in Sankt Petersburg – zweifellos eine der schönsten Ecken Europas. Und wieviel hat diese Stadt durchgemacht! Das dunkelste Kapitel ist ganz ohne Frage die Leningrader Blockade, als deutsche Soldaten fast eintausend Tage lang die Stadt von jeder Versorgung abriegelten und annähernd eine Million Menschen unter grauenhaften Bedingungen verendeten. Die Überlebenden vegetierten dahin und aßen Katzen, Ratten oder auch Menschenfleisch. Es war der Horror auf Erden. Einer jener Überlebenden ist der 90-jährige Dirigent Wladimir Sinowjew, der viele Jahre die Wiener Symphoniker dirigierte, heute dies aber nicht mehr darf, da er weiterhin auch in Russland Konzerte gibt.
Über die Leningrader Blockade sah ich im Laufe meines Lebens nur einmal eine TV-Dokumentation, wir wurden mit diesem Verbrechen von Deutschen und Österreichern weder in der Schule noch zu einem späteren Zeitpunkt konfrontiert. Anders verhält es sich bekanntermaßen mit den nicht weniger grausamen Kapiteln des Holocaust oder des Aufstands im Warschauer Ghetto.
Die Leningrader Belagerung führte auch zur Zerstörung all der Bauwerke rund um die Stadt, die Deutschen zogen eine Brandspur. Das Bernstein-Zimmer wurde aus dem Sommerpalast der Zarin Katharina II. binnen Stunden abmontiert und wie vieles andere geraubt. Dass heute diese Schlösser, die herrlichen Palazzi entlang des Newa-Flusses wieder stehen, ist dem Durchhaltewillen seiner Bewohner, dem Genius seiner Architekten und auch den vielen engagierten Bürgermeistern der Stadt zu verdanken.
Welche Leichtigkeit herrscht zwischen den Kanälen trotz der Schwere der Geschichte. Auch die totale Isolation Russlands in unserer Zeit erschüttert die Menschen nicht. Die Straßen quellen über von Menschen aller Generationen, die die langen Tage, die berühmten weißen Nächte und die milde Luft nach einem langen Winter genießen. Musik und Schönheit atme ich hier nach einer Zeit der Entbehrungen. Fast jeden Abend darf ich Konzerte genießen, Künstler treffen und so vieles erleben. Welch ein Kontrast zum isolierten Dasein im kleinen Dorf im Norden des Libanons.
Der Hauptgrund meiner Reise war aber nicht, durch Sankt Petersburg zu flanieren, vielmehr kam ich als Vortragende an der Sankt Petersburger Staatlichen Universität, wo wir ein Institut eröffneten. Dessen englische Abkürzung G.O.R.K.I steht für Gepolitical Observatory for Russia's Key Issues. Wir haben viel vor, die ersten Treffen mit den 20 Kollegen, die mitarbeiten, verliefen sehr gut. Es war eine Freude, vor aufmerksamen Studenten zur Rückkehr der Geographie vorzutragen. Hinzu kamen vier sehr intensive Tage beim Wirtschaftsforum, das die Stadt mit eindrucksvollen Staus teils lahmlegte.
Ein anderes SPIEF
Im Juni 2021 besuchte ich erstmals das internationale Sankt Petersburger Wirtschaftsforum, das SPIEF. Damals gaben sich – trotz der Sanktionen seit dem Jahr 2014 – alle Energiekonzerne und global agierenden Firmen die Türklinken in die Hand. Auf den Korridoren dominierte die deutsche Sprache. Das SPIEF war ein Fixpunkt im Kalender aller großen deutschen Firmenchefs, vor allem auch der deutschen Mittelstandsunternehmen als Rückgrat der deutschen Wirtschaft. In diesem Jahr kamen die neuen Partner, wie sie in Russland genannt werden. Das ist der große globale Süden neben den vielen asiatischen Kollegen, unter anderem aus dem arabischen Raum, Iran und Indien. Es ist der große weite Rest der Welt jenseits jener 42 Staaten, welche Sanktionen über Russland verhängten. Bewusst ausgeschlossen waren diesmal westliche Medien, die nun von russischen und anderen Nachrichtenagenturen abschreiben müssen, dies aber erst recht oft selektiv und fehlerhaft machen.
Es war zweifellos ein neues, anderes Forum, aber es findet statt. Geht es nur darum, Normalität aufrechtzuerhalten oder werden hier tatsächlich Kontakte angebahnt? Ich war zwischen mehreren Panels und Dutzenden Interviews so beschäftigt, dass ich von solchen Dingen keinen persönlichen Einblick gewinnen konnte. Aber die Rede des Präsidenten Wladimir Putin war eine fundierte Wirtschaftsrede, gepickt mit Zahlen, Daten, Fakten. Der Grundtenor war der voller Zuversicht. Die russische Volkswirtschaft ist gut durch diese schwere Zeit gesegelt und ist auf Platz 6 unter den zehn wichtigsten Volkswirtschaften. Sollte die Rezession in Deutschland sich verschärfen, dann könnte Russland sich noch um einen Platz verbessern, meinte der Präsident nicht ohne Ironie. Auch zeigen einige Daten, dass sich Russland von seiner Rohstoffabhängigkeit zunehmend befreit, denn die Sektoren außerhalb der Energie wachsen besser als jene von Kohle, Erdöl und Erdgas.
Verdrießlicher erscheint mir – aus der Ferne betrachtet – die Stimmung in Europa, wo Arbeitslosigkeit und Inflation sowie Energiearmut in vielen EU-Staaten die Lage der Menschen bestimmen.
Russland ist trotz der "Sanktionen aus der Hölle", wie die bisherigen zehn Sanktionspakete genannt wurden, nicht daran zerbrochen. Die Versorgung musste nicht auf Mangelwirtschaft umgestellt werden, viele westliche Firmen wollen den russischen Markt in Wirklichkeit gar nicht verlassen. Deutschland erwies sich im vorauseilenden Gehorsam aber als besonders eifrig. Wo die deutschen Autofirmen wegzogen, rücken nun dauerhaften die chinesischen Konkurrenten ein. Russen scheinen – wieder einmal in der Geschichte – den längeren Atem zu haben.
Die Kontinuität der Stadt und im ganzen Land
Am vergangenen Wochenende wurden am Ufer des Finnischen Meeres drei Flaggen gehisst: jene des zaristischen Russlands, der Sowjetunion und der Russischen Föderation. Erstmals stehen diese drei Flaggen nebeneinander und zeigen damit etwas klar auf. Die Geschichte geht weiter und trotz aller gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüche, welche Land und Menschen 1917 und 1991 und wohl auf 2022 erleben mussten, es herrscht eine Kontinuität. Auch wenn der Krieg in der Ukraine tobt, ukrainische Drohnen von russischen Saboteuren auf den Kreml geschossen werden, russische Grenzregionen unter Angriffen stehen, in einer Stadt wie Sankt Petersburg wird Zuversicht ausgestrahlt. Die Geschichte geht weiter. Die Touristen kommen aus anderen Ländern, Allianzen werden überdacht, neue Ideen werden gewälzt.
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