Nord Stream: "Enthüllungen über mögliche Verwicklung der Ukraine stören"

Zu groß, zu auffällig und zu folgenreich, um unter den Teppich zu passen – das muss man wohl über die Sprengung der Nord Stream-Pipelines sagen. Denn auch der nächste Versuch dazu erzeugt eher Verwirrung als die gewünschte Friedhofsruhe.

Von Dagmar Henn

Irgendwie muss gerade etwas in der Kommunikation zwischen der CIA und dem MI6 quer sitzen. Denn während die US-Medien, von der CIA-nahen Washington Post über die New York Times bis hin zum Wall Street Journal, die Geschichte weiter füttern, der Anschlag auf Nord Stream sei eine ukrainische Aktion gewesen, die vom Chef des Generalstabs, Waleri Saluschny, in Auftrag gegeben wurde (selbstverständlich ohne Wissen des Präsidenten), veröffentlicht die BBC eine Lobpreisung des Generals unter dem Titel "Waleri Saluschny, der Mann hinter der Gegenoffensive der Ukraine". Was eine ganze Reihe von Fragen aufwirft.

Natürlich nicht die Frage, ob dieser Anschlag tatsächlich aufs ukrainische Konto geht. Klar, ihre terroristischen Neigungen und Fähigkeiten haben die Kiewer inzwischen weidlich bewiesen. Nicht die Frage des Wollens ist da ausschlaggebend, sondern die des technischen Könnens und die der gesamten Kommandostruktur. Denn das schlagende Argument gegen jede Vorstellung, da könnte in Kiew irgendetwas gegen den US-amerikanischen Wunsch geschehen, war und ist, dass schon vor Beginn der militärischen Sonderoperation ohne westliche Hilfen keine Büroklammer beschafft werden konnte. Der Staat Ukraine ist schon lange bankrott, und die Geber sind nicht dafür bekannt, auf Eigenwilligkeiten freundlich zu reagieren, nicht einmal die EU. Da mag man in Kiew sicher gelegentlich den Wunsch hegen, sich von der Leine zu reißen, aber will man wirklich den Nachschub im Fressnapf riskieren? Oder gar, am Straßenrand ausgesetzt zu werden?

Die ganze Welle, die durch die Medien schwappte, zeigte eindeutig, dass Saluschny, über den seit Wochen das Gerücht kursiert, er sei gar nicht mehr am Leben, zum Sündenbock bestimmt wurde. Zum einen, um eine Hintertür zu schaffen, durch die man sich doch irgendwie aus der Ukraine zurückziehen könnte, zum anderen, um das ganze leidige Thema Nord Stream, eine Tretmine inmitten der NATO, zu entschärfen. Aber wie an dem BBC-Text zu erkennen ist, scheint der MI6 mit dieser Lösung nicht einverstanden zu sein.

Lebt Saluschny überhaupt noch oder nicht? Der BBC-Artikel hat eigentlich Nachruf-Qualitäten; so viel Lob ergießt man selten über Lebende. Ein "ehrgeiziger und moderner Kommandeur, aber auch ein bescheidener Mann, der gerne mit seinen Untergebenen scherzte und die Nase nicht hoch trug"; ein unbestrittener Nationalheld: "Wenn Saluschny einen dunklen Raum betritt, schaltet er das Licht nicht an, er schaltet die Dunkelheit ab." Er habe einem Soldaten Urlaub gegönnt, der seine Hochzeit wegen seiner Versetzung an die Front nach Artjomowsk habe verschieben müssen, und sei sogar zur Hochzeit erschienen (ob er dann später womöglich der jungen Witwe auch den Sarg des Bräutigams übergeben hat, erwähnt die BBC nicht).

Die Gerüchte über Saluschnys Hinscheiden werden zwar erwähnt, aber nur als russische Propaganda. Zweifel an seinem Zustand weckt dann nur der letzte Satz, wonach er eine Interviewanfrage abgelehnt habe. Aber nachdem er zuvor als so bescheiden und leutselig porträtiert wurde, könnte das auch aus Abscheu über diese allzu salbungsvolle Darstellung geschehen sein.

(Übrigens gibt es eine kurze Passage zum Kachowka-Damm, aus nicht näher spezifizierter Vergangenheit, in der die BBC unter Berufung auf zwei anonyme Zeugen erklärt, Saluschny habe, als ihm entsprechende Pläne vorgetragen wurden, erklärt, "unter keinen Umständen tun wir das, das wäre ein Verrat an der Zivilbevölkerung und dem Militär, das am östlichen Ufer geblieben ist". Entweder, die Briten fürchten, dass die ukrainische Beteiligung doch noch belegt wird und versuchen, ihre Hauptfigur zu retten, oder es ist ein subtiler Hinweis, dass man bereit ist, mit entsprechenden Informationen über eine den USA wichtige Figur zu kontern. Bei dem gigantischen Vorwurf, Saluschny habe Nord Stream sprengen lassen, macht eine Verteidigung bezüglich des Damms von Kachowka nämlich keinen Sinn, schon gar nicht, wenn schon zuvor die Rede davon war, dass Saluschny gar nicht mehr unter den Lebenden weilt.)

Oder hatte der MI6 größere Pläne mit ihm, etwa, ihn an Selenskijs Platz zu setzen, und ist jetzt ernsthaft "not amused", dass ausgerechnet diese Figur zum Sündenbock für Nord Stream auserkoren wurde? Taucht Saluschny auf ähnliche Weise in einer britischen Klinik auf wie Budanow in einer deutschen (und ist das so Sitte, dass die Spielfiguren immer bei den Eigentümern in Reparatur gehen? Wie damals Timoschenko?)

Das Bedürfnis in Deutschland, doch irgendwie zu einem Abschluss der Nord Stream-Episode zu kommen, ohne gänzlich in der Kategorie der Wirbellosen zu enden, ist jedenfalls groß. Das Handelsblatt ventilierte jüngst: "Sollte sich aber erweisen, dass die ukrainische Führung doch von den Pipeline-Sprengungen wusste, sie womöglich gar angeordnet hat, müsste das Bündnis reagieren – in welcher Form, das ist offen."

Ein klein wenig gemein von dem Blatt ist, anschließend die NATO-Erklärung vom September 2022 zu zitieren, in der von "vorsätzlichen, rücksichtslosen und unverantwortlichen Sabotageakten" die Rede war und betont wurde, dergleichen werde "mit einer gemeinsamen Reaktion beantwortet werden". Die NATO wechselt die Seiten und unterstützt ab sofort Russland bei der SMO? Kaum anzunehmen.

Wobei der letzte Text der Washington Post wirklich böse ist. Drei Monate vor dem Anschlag soll man davon gewusst und es dann nicht geschafft haben, die Kiewer Marionettentruppe davon abzuhalten? Um Himmels willen, in Kiew herrscht eine solche Dichte von CIA-Agenten, in drei Monaten wird sich wohl noch jemand finden, der bei Bedarf einen Wet Job erledigt … Sogar die Bundesregierung soll inzwischen vorher Bescheid gewusst haben. Hätte die Ansage gelautet "Finger weg oder der Fressnapf bleibt leer", wäre die Ukraine im Falle eines Widerspruchs verhungert, ehe der Anschlag überhaupt stattfand. Das Einzige, was von der Märchenstunde bleibt, ist, dass – vielleicht aus Panik vor eventuell drohenden weiteren Enthüllungen – inzwischen erklärt wird, im Grunde hätten alle lange davor Bescheid gewusst. Die Belgier, die Niederländer, die Deutschen, die Amerikaner und dann mit Sicherheit auch Schweden, Dänen und Briten.

Trotzdem zitiert das Handelsblatt einen "Sicherheitsexperten" namens Nico Lange mit der Aussage, "es liegt im Eigeninteresse der NATO, die Unterstützung für die Ukraine fortzusetzen und über Sicherheitsgarantien nachzudenken".

Der Mann wurde in der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgebrütet und hatte dort bis 2017 Leitungspositionen. Gut denkbar, dass er mit dem Ausbildungsprogramm zu tun hatte, das die KAS 2013 für Funktionäre der ukrainischen Nazipartei Swoboda veranstaltete. "Er befasste sich mit politischer Planung und Strategie, Analyse und Beratung politischer Parteien", findet sich dazu in Wikipedia. Dann war er bis 2022 unter Kramp-Karrenbauer Leiter des Leitungsstabs im Verteidigungsministerium. Man kann ihm außerdem nicht unterstellen, im Zusammenhang mit der Ukraine nicht zu wissen, womit er es zu tun hat – von 2004 bis 2006 war er sogar an der staatlichen Universität Petersburg beschäftigt. Man kann also davon ausgehen, dass er Russisch spricht und daher keine Probleme hat, die Aussagen ukrainischer Nazis zu verstehen.

Der als äußerst machtbewusst beschriebene Nico Lange, der zurzeit auf einem Posten bei der Münchner Sicherheitskonferenz in Reserve gehalten wird, hat sich sicher darüber gefreut, dem Handelsblatt die erforderlichen Zeilen liefern zu dürfen. Womöglich spekuliert er bereits auf eine Rückkehr in einer künftigen Großen Koalition. Aber jemanden, der so lang und tief im ukrainischen Dreck steckt wie Nico Lange, den Lesern als "Sicherheitsexperten" zu präsentieren, als sei diese Stimme in irgendeiner Weise neutral … nun, das zeigt den derzeitigen Stand des deutschen Journalismus.

Allerdings, Saluschny ist nicht der Einzige, der im aktuellen Schub zu Nord Stream geopfert wird. Das Handelsblatt scheint es zumindest zu ahnen: "Die unausgesprochene Hoffnung ruht nun darauf, dass es den Ermittlern nicht gelingt, den Tathergang gerichtsfest zu rekonstruieren. Und dass die Debatte langsam verebbt, ohne dass der Erkenntnisstand den Punkt erreicht, an dem es politische Konsequenzen geben muss."

Nord Stream ist übrigens nicht der einzige Vorfall, der in einem Loch des Schweigens entsorgt wurde. Hat irgendwer gehört, was nun wirklich den Brand in Notre-Dame ausgelöst hat? Man könnte in Versuchung geraten, dahinter dieselben Täter zu vermuten (nicht die Ukraine). Allerdings war die Brandstiftung in Notre-Dame zwar ein Anschlag auf ein zentrales nationales Symbol, hatte aber keine Auswirkungen auf den Lebensalltag der Franzosen, was man von Nord Stream nicht behaupten kann.

Sollte man jedoch die neueste Version ernst nehmen, die mit "alle haben davon gewusst", dann hieße das für die Bundesregierung, der schwere Landesverrat hat nicht erst nach, sondern bereits vor dem Anschlag stattgefunden. Man mag gerne so tun, als gäbe es kein Recht mehr; aber eine Regierung, die auf eine solche Bedrohung für das Wohl ihrer Bürger und ihres Landes nicht einmal reagiert, ja, sogar eine Möglichkeit, sie zu verhindern, nicht wahrnimmt, hat eine äußerst ernst zu nehmende Straftat begangen. Sie hat auf eine Art und Weise gegen die aus dem Amt erwachsenden Verpflichtungen verstoßen, dass langjährige Haftstrafen fällig wären, so man denn das Strafgesetzbuch ernst nähme.

In einer Welt, in der Deutschland souverän und seine Regierung der Bevölkerung verpflichtet wäre, wäre die Bewertung von Nord Stream heute so eindeutig, wie sie es am 26. September war. Wer diesen Akt begangen hat, beging eine Kriegshandlung gegen Deutschland. Gleich, ob die Vereinigten Staaten oder die Ukraine, mit diesem Land befände sich Deutschland im Krieg. Aber diese simple, einleuchtende Konsequenz liegt leider auf dem Stapel der politischen Illusionen, gleich neben der Fantasie einer unabhängigen Ostrepublik, die Nord Stream wieder in Betrieb nähme.

Was bleibt, ist zuzusehen, wie sich die Chinakrieger und die Ukrainekrieger in Washington weiter beharken, wie aus London die eine oder andere Blase des Missfallens aufsteigt, weil man nicht ausreichend gefragt wird (obwohl es doch Johnson war, der letzten April die ukrainische Leine straffte, um einen Friedensschluss in Istanbul zu verhindern); und wie die deutschen Medien und die Bundesregierung Kapriolen schlagen, um weiter brav an der Seite der Ukraine zu stehen (oder zu liegen, weil Stehen eine Handlung ist, die Wirbellosen unmöglich ist).

Irgendwie ist es nicht gelungen, Nord Stream neben Notre-Dame zu bestatten. Das wird es auch künftig nicht, selbst wenn man Saluschny dazulegt.

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