Von Dagmar Henn
Zuerst einmal eine Entschuldigung – dieser Text kommt mit einer kleinen Verzögerung; das Gespräch, um das es geht, fand bereits am 13. Juni statt. Die offizielle englische Übersetzung (auf die ich zumindest immer noch angewiesen bin) auf der Webseite eng.kremlin.ru war allerdings bis vor Kurzem nicht vollständig; es fehlte nach wie vor ein Stück, und das Transkript endet mit "to be continued" – wird fortgesetzt. Weshalb ich erst einmal auf die Ergänzung wartete (inzwischen ist das Transkript komplett).
Aber was war das für ein Gespräch! Es geht um das Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit einer Runde von Kriegsreportern (eine Reihe davon dürfte unseren regelmäßigen Lesern vertraut sein). Zwei Stunden, unzählige Themen und eine sehr interessante Atmosphäre, in der phasenweise die Reporter eher als Delegierte von der Front agierten, mit Fragen im Gepäck, hinter denen man den Vorlauf förmlich spüren kann ("wenn du dann bei Putin bist, vergiss nicht ..."). Im Gegensatz zu Pressekonferenzen, die immer schon formal eine Hierarchie herstellen, wirkte das eher wie ein Arbeitstreffen. Eigentlich müsste man das ansehen, Minute für Minute, und dann nach einzelnen Themen und Aspekten absuchen.
Das war – und das wird am Anfang klar – nicht das erste dieser Gespräche, aber das erste, das aufgezeichnet wurde. Es gibt unzählige Aufnahmen, in denen Putin eine Rede hält, in einer förmlichen Umgebung, und diese Reden sind oft wichtig, weil sie den Endpunkt eines politischen Prozesses darstellen, der in der Regel weitaus mehr Personen einbezog. Aber die Auftritte in der Rolle als Staatsoberhaupt haben einen grundsätzlich anderen Charakter, das ist dann weitgehend Auftragshandeln. Bei diesem Treffen hier sitzt nicht Putin, das Staatsoberhaupt, sondern Putin, der Chef der Verwaltung.
In dieser Runde wird nichts kaschiert, es werden reihenweise Probleme angesprochen, von der Anzahl der Drohnen über den Status von Freiwilligen bis hin zu unterschiedlichen Zusatzleistungen für die Teilnehmer der militärischen Spezialoperation in den Regionen oder die Bürokratie im Verteidigungsministerium. Und wer aufmerksam liest, kann auch genau wahrnehmen, wie begrenzt die Macht Putins beziehungsweise des russischen Präsidenten und der russischen Regierung überhaupt ist.
Wer weiß in Deutschland denn schon, dass es in Russland ähnliche Probleme mit Zuständigkeiten gibt wie zwischen dem Bund und den Ländern, wenn die meisten nicht einmal wissen, wer in Deutschland für welche Gesetze und Bereiche zuständig ist? Es wäre die Aufgabe von Korrespondenten etwa der öffentlich-rechtlichen Sender, darüber zu informieren. Aber die folgen lieber dem Narrativ vom Autokraten Putin, der allein alles entscheidet, anstatt solche Details zu erwähnen.
Ein Beispiel: Die Journalistin Irina Kuksenkowa fragt nach der Versorgung Verwundeter in der Rehabilitation. Es gibt eine neu gegründete Stiftung auf Föderationsebene – die "Verteidiger des Vaterlands" –, die Hilfen für Verwundete und Hinterbliebene bereitstellen soll. Der Hintergrund des Ganzen ist allerdings, dass offenkundig der Sozialbereich eigentlich in die Zuständigkeit der Regionen fällt. Auf die gleiche Art und Weise werden solche Probleme in Deutschland auch oft gelöst.
"Die Staatsgarantien sind die gleichen für jeden. Und alle verdienen das Gleiche – 196.000 zu Beginn und später all die Dinge, die mit Zulagen zu tun haben. Soziale Garantien mit unterschiedlichen Zahlungen aus Regierungsquellen sind auch die gleichen für jedermann.
Aber Sie haben einen Punkt – wenn es um die Zahlungen der Regionen geht, das sind freiwillige soziale Leistungen der Regionen, niemand zwingt sie dazu, sie tun es zusätzlich. Da wirkt sich der Umstand aus, den Sie erwähnt haben: Die Regionen haben unterschiedliche Ansätze – sie versuchen es, einige sorgen für zusätzliche Zahlungen, andere helfen Familien. Kostenlose Schulmahlzeiten für Kinder beispielsweise, vorrangige Zulassungen zu Universitäten, was eine allgemeine Regel in Russland ist; sie tun viel für Familien in den Vorschuleinrichtungen."
Auch das zweite Rezept, um solche aus der politischen Struktur stammenden Unterschiede zu bewältigen, wird jeder kennen, der mit Verwaltungsprozessen zu tun hatte. "Ich denke, wir müssen die besten Praktiken nehmen und den anderen Regionen empfehlen. Wir können sie nicht zwingen."
Später im Gespräch stellt Ilja Ljadwin eine Frage nach Zusatzzahlungen, die die Regionen an Vertragssoldaten leisten, die ebenfalls eine freiwillige Leistung sind. Als der Reporter aber dann die Forderung ins Spiel bringt, das über die Legislative zu lösen, gibt Putin, der Jurist, sogar eine ziemlich scharfe Antwort:
"Die Regionen haben bestimmte Rechte, die Regionen haben bestimmte Verantwortungen, die Föderation hat bestimmte Rechte. Die Föderation kann, so paradox das klingen mag, in diesem Fall in Übereinstimmung mit der Teilung der Macht keine direkte Anweisung geben. Aber wir können empfehlen."
Man kann es sich natürlich denken, ein Land mit 150 Millionen Einwohnern lässt sich noch weniger zentral regieren als eines mit 80 Millionen. In Deutschland ist die größte ungeteilte Verwaltungseinheit die Stadt München, da Berlin und Hamburg aus Sicht der Kommunalverwaltung mehrere Städte sind (zentral ist nur die Landesverwaltung der Stadtstaaten). Und die Größe von München mit 1,5 Millionen Menschen ist eigentlich bereits zu groß für eine zentrale Steuerung, in der nach der bayerischen Gemeindeordnung der Oberbürgermeister in vielen Bereichen absolute Entscheidungsgewalt hat. Moskau ist in Wirklichkeit eher ein ganzes Bündel von Millionenstädten.
Aber die Fiktion, im Kreml säße ein Wladimir Putin, der alles kontrolliert, ist viel zu wichtig für die hiesige Propaganda, um da die Realität eines begrenzten Zugriffs durchsickern zu lassen. Denn begrenzter Zugriff bedeutet auch, dass eine ganze Menge weiterer Personen Entscheidungsgewalt haben und eben nicht alles die Entscheidungen von Putin allein sind.
Inzwischen hat Der Spiegel über das Gespräch berichtet. Er gesteht zumindest ein, Putin habe "in vergleichsweise lockerer Form" über den Krieg gesprochen, sieht dann aber "einen rührseligen, selbstzufriedenen, mangelhaft informierten Mann beim vergeblichen Versuch, seine Filterblase im Kreml zu verlassen". Glashaus und Steine kommen einem da in den Sinn, Nichtinsolvenzen und Tierpanzer. Im Gegenteil: wenn man das gesamte Gespräch liest, ist Putin sehr wohl gut informiert, einschließlich der Zahlen der im Donbass vorhandenen Magnetresonanztomografen.
Was schreibt Der Spiegel? "Wladimir Putin ist ein mächtiger Mann. Er kann Armeen in Bewegung setzen, Grenzen niederreißen, Länder ins Unglück stürzen. Aber es gibt Dinge, die nicht einmal ein Putin kann, und dazu gehört: Sich festzulegen, was er damit bezweckt. Ein genaues Kriegsziel zu formulieren."
Der erste Teil dieser Aussage ist eine aufgeblasene Selbstverständlichkeit. Jede Verfassung eines jeden Landes hat eine Person, die der Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist, und das ist in Russland der Präsident, so wie in Deutschland der Bundeskanzler (der ziemlich gut darin ist, Länder ins Unglück zu stürzen, angefangen mit dem eigenen). Aber der zweite Teil ist eine unzulässige Verkürzung. Denn natürlich gibt es Ziele. Etwa eine Entnazifizierung – hier gibt es ein interessantes Detail zu den Verhandlungen, die vergangenes Frühjahr in Istanbul stattfanden.
"Wir haben dieses Thema immer wieder in unseren Verhandlungen aufgebracht, auch in Istanbul. Und als Antwort wurden wir gefragt: 'Wir haben nichts mit Neonazis zu tun, was wollt ihr von uns?' Wir wollen zumindest, dass bestimmte gesetzliche Beschränkungen eingeführt werden. Nebenbei, insgesamt hatten wir uns in dieser Runde von Gesprächen sogar geeinigt – ehe sich unsere Truppen von Kiew zurückzogen, weil sie danach alle unsere Übereinkünfte wegwarfen."
Und zur Entmilitarisierung?
"Womit kämpfen die Streitkräfte der Ukraine? Produzieren sie Leopard-Panzer oder Bradleys oder die F-16, die sie noch nicht bekommen haben? Sie produzieren nichts. (...) Alles wird geliefert. Auf diese Weise kann man nicht lange leben, das hält nicht. Also wird das Thema der Entmilitarisierung auf sehr praktische Weise angegangen. (...) Also haben sich insgesamt unsere Prinzipien und damit unsere Ziele seit Beginn des Einsatzes nicht geändert."
Das ist eigentlich die Antwort, die es laut dem Spiegel gar nicht gegeben habe. Das, was Putin nicht genauer sagen konnte, ist, wie die Umsetzung dann im Detail aussieht. So taucht im Verlauf des Gesprächs im Zusammenhang mit den ukrainischen Angriffen auf Belgorod die Frage auf, ob es nicht eine Sicherheitszone zwischen Russland und dem vom Westen kontrollierten Gebiet bräuchte.
Der Spiegel zitiert unter anderem folgenden Satz als Beleg für vermeintliche Orientierungslosigkeit Putins: "Wir haben Pläne unterschiedlicher Art je nach der Situation, die dann entstehen wird, wenn wir es für nötig halten werden, etwas zu tun." Was da als "schwammig" interpretiert wird, bezieht sich in Wirklichkeit auf das, was Militärs Kontingenzplanung nennen. Es ist völlig normal und vernünftig, für eine Situation mit einer ganzen Reihe von Unbekannten einen ganzen Satz von Planungen zu erstellen, die so oder so aktiviert werden, wenn die entsprechende oder eben eine andere Situation eintritt. Natürlich werden dabei die meisten Pläne nie umgesetzt; aber das ist ein geringer Schaden, schließlich geht es bei militärischen Einsätzen um Menschenleben. Der Spiegel aber nimmt eine Aussage, die außerhalb des Generalstabs so genau ist, wie sie nur sein kann, und erfindet daraus eine angebliche Unklarheit.
Die Fortsetzung folgt im zweiten Teil.
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