Risse im Block – Das Leben eigener Soldaten will der Westen in der Ukraine nicht riskieren

Ukrainische Drohnen greifen Moskau an. Ortschaften im russischen Kernland werden von der ukrainischen Seite aus beschossen. Mit Kiew verbündete Kräfte, darunter Exilrussen, rücken sogar auf russisches Gebiet vor. Was aussieht wie eine Bedrohung für Russland, bereitet dem Westen wesentlich größere Sorgen.

Von Rüdiger Rauls

USA in Erklärungsnot

Eigentlich hätten sie gar nicht dort sein dürfen, wo Bilder von ihnen gemacht wurden. Amerikanische Armeefahrzeuge wurden bei den Angriffen von Kiewer Getreuen auf russischem Gebiet zerschossen zurückgelassen. Offiziell wurden alle amerikanischen Waffen unter der Maßgabe an Kiew geliefert, dass sie nur zur Verteidigung des eigenen Territoriums eingesetzt werden dürfen, nicht für Angriffe auf russisches Gebiet.

Die Bilder brachten die Amerikaner in Erklärungsnot. Geschah dies mit amerikanischem Wissen, gar mit aktiver Unterstützung aus Washington? Was bedeutet das in Bezug auf die bisherigen Beteuerungen der USA, alles zu unterlassen, was zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland führen könnte? Wie sehr kann der Westen den Zusagen der ukrainischen Führung trauen und vor allem die Russen beruhigen?

Zu allem Überfluss hatte zuvor Vize-Außenministerin Victoria Nuland vollmundig und ohne Not öffentlich gemacht, dass die USA seit Monaten mit der Ukraine zusammen die Offensive gegen Russland vorbereiten. Sie bestätigte damit, was Russland immer wieder behauptet hatte und dass die westliche Seite ihre eigene Bevölkerung ständig in dieser Frage hinters Licht geführt hatte. Damit nicht genug, schlug sie all jenen den Propaganda-Knüppel aus der Hand, die Russlands Behauptungen immer als Desinformation darzustellen versuchen. Immer öfter erweisen sich die westlichen Medien selbst als Verbreiter von Fehleinschätzungen und sogar Falschmeldungen.

Nun stehen die USA nach den Bildern des zerstörten Militärgeräts auf russischem Boden entweder als Lügner da, als naiv oder gar als Aufschneider, die ihre Schützlinge in Kiew doch nicht so gut im Griff haben, wie sie immer wieder glauben machen wollten. Jedenfalls ist die Öffentlichkeit im Westen beunruhigt, zumal man sich auch nicht erklären kann, was Kiew mit diesen Angriffen erreichen will. Prophezeiungen von Podoljak, dem Berater des ukrainischen Präsidialamtes, "dass sich ihre Anzahl [der Angriffe] steigern werde" (1), werfen die Frage auf, was Kiew sonst noch im Schilde führen könnte.

Kiew unter Druck

Trotz aller Waffenlieferungen aus dem Westen und der unvorstellbaren Menschenopfer, die das Land erbracht hat, werden die Zweifel am Sieg der Ukraine nach dem Fall von Artjomowsk immer größer. Die immer wieder angekündigte Offensive lässt weiterhin auf sich warten und die Zweifel wachsen, ob die Ukraine überhaupt noch zu einem solchen Kraftakt in der Lage ist.

Nach den unterschiedlichen Äußerungen ukrainischer Offizieller zu urteilen, scheint man sich selbst unter den Vertretern der Regierung über die Gegenoffensive nicht einig zu sein. Wenn diese aber nicht bald kommt und die Erwartungen im Westen wenigstens teilweise erfüllt, dürfte es auch für die Unterstützer in den westlichen Hauptstädten immer schwieriger werden, der eigenen Bevölkerung den Sinn der Kriegsunterstützung für die Ukraine zu erklären.

Kiew weiß, dass es ohne westliche Unterstützung innerhalb kürzester Zeit wird kapitulieren müssen. Und selbst in ihrer bisherigen Form scheint die westliche Hilfe nicht für einen Sieg über Russland auszureichen. Deshalb erhöht die Ukraine den Druck auf die NATO, in das Militärbündnis aufgenommen zu werden, um unter westlichem Schutz den weiteren Angriffen Russlands entgegen sehen zu können. Man hofft auf die mit der Mitgliedschaft verbundene Beistandsverpflichtung, von der man erwartet, dass sie Russland abschreckt.

Besonders nach den russischen Raketenangriffen Mitte Mai und der enttäuschenden Wirkung westlicher Raketenabwehr sieht man in der Einrichtung einer von der NATO ausgerufenen Flugverbotszone das einzig wirkungsvolle Mittel gegen die übermächtige russische Lufthoheit. Denn was nützen alle Waffenlieferungen und Munition aus dem Westen, wenn nur ein Bruchteil davon die Front erreicht? Aus ukrainischer Sicht ist diese Forderung verständlich, sogar folgerichtig.
Kiew steht mit dem Rücken zur Wand.

Wenn man schon die Freiheit des Westens verteidigt in diesem Krieg gegen Russland, dann soll dieser Westen sich auch stärker beteiligen als nur durch Waffenlieferungen, während die ukrainische Jugend im Donbass verblutet. Aber mit diesem Drängen bringt Kiew die NATO in größere Schwierigkeiten als Russland. Das wird auch an den Reaktionen aus dem Westen deutlich. Die Erfüllung dieser Forderung würde nicht nur eine dramatische Ausweitung des Krieges bedeuten, allein schon die Forderung selbst stellt das Bündnis vor eine Zerreißprobe.

Risse im Block

Die NATO will zwar Russland schwächen, aber man will nicht tiefer hineingezogen werden in diesen Krieg. Man unterstützt die Ukraine finanziell und mit Waffen, aber keinesfalls will man die Leben eigener Soldaten riskieren. Denn schon jetzt sind die westlichen Gesellschaften gespalten in der kostspieligen Unterstützung der Ukraine, wo doch im eigenen Land selbst das Geld gebraucht würde zur Linderung von Not. Es besteht die Gefahr, dass diese mühsam gewahrte Ruhe vollends dahin wäre, würde dieser Krieg neben den finanziellen auch Opfer an eigenen Soldaten fordern.

Dennoch ist die Ablehnung des ukrainischen Aufnahmebegehrens nicht Konsens in der NATO. Die baltischen Staaten, Polen und Großbritannien unterstützen Kiews Anliegen. Sie waren bisher stets die treibenden Kräfte weiterer Eskalationen. Aber selbst in den übrigen Staaten mehren sich die Stimmen, die glauben im Krieg gegen Russland mehr riskieren zu können. Sie glauben der eigenen Propaganda, dass Russland schwach ist, weil es bisher seinen Drohungen keine atomaren Taten hat folgen lassen.

Diese Uneinigkeit unter den NATO-Mitgliedern versucht die Ukraine, für ihre Interessen auszunutzen. Gleichzeitig erschwert sie damit die ohnehin immer schwieriger werdenden Einigungsversuche innerhalb des Bündnisses und des Westens. Dies zeigen die Weigerung Ungarns und Griechenlands, einem weiteren Sanktionspaket gegen Russland zuzustimmen und die Proteste von Bauern im Osten der EU, die ihre Existenz bedroht sehen durch zollfreie Getreideimporte aus der Ukraine.

Gibt die NATO dem ukrainischen Drängen nach, wäre sie, in welcher Form auch immer, zum Beistand verpflichtet. Sie würde sich damit offiziell im Krieg mit Russland befinden. Was man bisher immer zu vermeiden versucht hat, trotz aller materiellen Unterstützung, die man der Ukraine gewährte. Nimmt man aber die Ukraine auf unter einem wie auch immer gearteten Ausschluss dieser Beistandsverpflichtung, dann erweist sich das Bündnis als Papiertiger und büßt an Abschreckung ein gegenüber vergleichbar starken militärischen Gegnern wie Russland oder China.

So verständlich aus ukrainischer Sicht die Forderung nach Aufnahme in das Bündnis auch ist, und ebenso ihre Versuche, die Differenzen innerhalb des Bündnisses für die eigenen Interessen auszunutzen – sie erweist der NATO damit dennoch einen Bärendienst. Denn Russland kann dieser Entwicklung ruhig zusehen und gleichzeitig die eigenen militärischen Operationen und seinen Vormarsch weiter entwickeln.

Bloß kein Atomkrieg!

Äußerungen von Vertretern der westlichen Regierungen und der NATO deuten daraufhin, dass man sich darüber im Klaren ist, dass ohne weitere westliche Unterstützung die Ukraine wohl nicht mehr lange durchhalten wird. Es scheint in ihren Reihen aber Unklarheit darüber zu herrschen, wie man die ukrainischen Angriffe auf das russische Kernland deuten soll.

Einerseits zeigt sich die ukrainische Führung über die Angriffe auf Russland zwar erfreut, was man ihnen als Kriegsgegner auch nicht verdenken kann. Andererseits aber beteuert sie, "dazu keinen direkten Bezug zu haben" (1). Das allerdings ist schwer zu glauben, schließlich handelte es sich um nicht alltägliches Gerät, das eingesetzt worden war.

Jedenfalls wirken der Westen und die NATO stärker beunruhigt und verunsichert über das ukrainische Vorgehen als die russische Führung. Denn durch dieses Handeln, das sich offenbar nicht an die getroffenen Abmachungen bezüglich des Einsatzes westlicher Waffen hält, wachsen die Zweifel an der Zuverlässigkeit der ukrainischen Partner. Insofern haben diese Angriffe dem Westen mehr geschadet als Russland, wie an den öffentlichen Reaktionen zu erkennen ist.

Besonders die USA – das ist immer wieder deutlich geworden in den Monaten seit Kriegsausbruch – wollen wegen der Ukraine keinen Krieg mit Russland. Denn sollte dieser Krieg eine direkte Bedrohung für die Existenz Russlands werden, dann dürfte er – anders als vielfach vermutet – gerade nicht auf der europäischen Ebene mit Atomwaffen ausgetragen werden. Noch unlängst hat Putin den Amerikanern unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht zu sicher fühlen sollten auf der anderen Seite des Atlantiks.

Sollten sie es bisher noch nicht gewusst haben, so dürfte den Amerikanern spätestens nach den Angriffen vom 16. Mai dieses Jahres auf Kiew überdeutlich geworden sein, dass gegen die russischen Kinschal die westliche Raketenabwehr sehr alt aussieht. Zudem haben die USA für einen eventuellen Zweitschlag gegen Russland keine Hyperschall-Waffen, die den russischen vergleichbar wären.

Natürlich kennt niemand die Überlegungen in Moskau. Aber ist damit zu rechnen, dass bei einer atomaren Eskalation die russischen Raketen erst gegen unbedeutende europäische Hauptstädte aufsteigen statt dorthin, wo sich die Hebel der Macht befinden und es das größte atomare Bedrohungspotential auszuschalten gilt?

Die Amerikaner scheinen das genau so zu sehen, weshalb sie den Ukrainern nichts liefern, was das russische Kernland bedrohen könnte. Sie liefern ihnen zwar alles, was sie brauchen, um die Russen im Krieg zu binden und zu schwächen. Aber all dies soll auf dem Territorium der Ukraine geschehen, keinesfalls in Russland und schon gar nicht so, dass die Russen sich existenziell bedroht fühlen könnten.

Deshalb erhalten die Ukrainer keine weitreichenden Raketen, vorerst auch keine Kampfflugzeuge und selbst die Abrams-Panzer sind bisher nicht geliefert, nur in Aussicht gestellt. Gleiches gilt für die F-16, deren Piloten erst einmal ausgebildet werden müssen. Auch das dauert seine Zeit. Und wer weiß, was bis dahin ist? Für die USA rückt der Konflikt mit China immer mehr in den Vordergrund.

Vielleicht wird die Ukraine bald dasselbe Schicksal ereilen wie den Irak, Libyen und Afghanistan. Die USA ziehen sich zurück und hinterlassen ein verwüstetes Land, weil sich ihre Interessen geändert haben. Vielleicht dauert es deshalb so lange mit der Lieferung von Abramspanzern, F-16 und Patriot-Systemen. Man braucht alles, was man noch hat, zur Vorbereitung auf den Konflikt mit China.

(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung (31.05.23): "Nur keine Panik".

Rüdiger Rauls ist Buchautor und betreibt den Blog Politische Analyse.