Von Dagmar Henn
Lassen wir einmal den Unfug beiseite, den Bundeskanzler Olaf Scholz schon wieder geäußert hat. Er schiebt die Sprengung des Staudamms sogleich in russische Schuhe und erklärt, das sei ein Ereignis, "das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind". Wobei, bei den ukrainischen hat er doch immer weggesehen ...
Nein, gehen wir doch ganz anders vor, rein geografisch. Das hat den Vorteil, dass womöglich jeder die Aussagen überprüfen kann, denn Karten und die Flussrichtung des Dnjepr ändern sich nicht nach Vorlieben.
Die erste Frage: Welchem Ufer lag die Beschädigung näher, dem der Ukraine oder dem von Russland kontrollierten? Die Aufnahmen sind eindeutig – in Flussrichtung rechts – also der ukrainisch kontrollierten Seite. Das muss nichts besagen, kann aber.
Zweite Frage: Wie verteilen sich die niedrig gelegenen Landflächen? Auch hier ist das Ergebnis eindeutig, sie liegen weit überwiegend in Flussrichtung links, also auf russisch kontrolliertem Gebiet. Womit wir beim ersten Indiz wären – bei der Seite, die evakuieren muss, werden Kräfte gebunden, die dann für Kämpfe nicht zur Verfügung stehen. Das wäre schon einmal ein Punkt für eine Täterschaft der Ukraine.
Aber das muss noch nicht notwendig erklären, wer von einer solchen Sprengung den größeren Vorteil hat. Schließlich könnte man davon ausgehen, dass eine überflutete Fläche schwerer zu queren ist als der trockene Boden. Ja, wenn nicht die russischen Truppen die Bereiche in Frontnähe befestigt und zum Teil auch vermint hätten. Vorhandene Schützengräben, Panzersperren und Minenfelder werden nutzlos, sobald sie unter Wasser sind. Andererseits ändert sich für die Gegenseite wenig, denn der Dnjepr muss auf jeden Fall überwunden werden, sprich, die Voraussetzungen für die ukrainische Seite werden eher günstiger.
Das Reservoir, das durch den Damm aufgestaut wurde, dient auch dazu, den Kanal zur Wasserversorgung der Krim zu befüllen. Jener Kanal, der bereits 2014 auf Kiewer Befehl blockiert wurde und erst seit letztem Jahr wieder frei ist – ein ukrainisches Kriegsverbrechen übrigens – diese Wasserversorgung erneut zu behindern und damit die Landwirtschaft auf der Krim entscheidend zu schädigen, könnte ein ukrainisches Ziel sein. Der Wasserpegel des Kanals ist bereits gefallen; da die Entnahmestelle aber oberhalb des Damms liegt, ist es unwahrscheinlich, dass er trockenfällt.
Unklar ist, ob die Strom- und Wasserversorgung des Kraftwerks Energodar am Kachowka-Damm hängt – dieses, wie auch der Krim-Kanal, ein ukrainisches Lieblingsziel. Aus dem Kraftwerk hieß es allerdings, dass man ein eigenes Reservoir habe und weder beim Wasser noch beim Strom abhängig vom Wasserkraftwerk Kachowka sei.
Die Gefahr einer Sprengung des Damms durch die ukrainische Seite war übrigens einer der Gründe, warum sich die russische Armee im vergangenen Herbst aus der Stadt Cherson zurückgezogen hatte. Der Damm war – wie die Brücken über den Dnjepr – mit HIMARS-Raketen beschossen worden. Eine Sprengung hätte die Truppen rechts des Dnjepr von der Versorgung abgeschnitten und die Möglichkeit geschaffen, sie einzukesseln. Das russische Außenministerium hatte damals übrigens ein Schreiben an den UN-Sicherheitsrat geschickt, in dem die Befürchtungen, dass Kiew den Damm sprengen könnte, dargelegt wurden.
"Ein solcher rücksichtsloser ukrainischer Angriff würde zu einer katastrophalen Überflutung der nahegelegenen Gebiete und zu irreparablen Schäden an der Stadt Cherson selbst führen. Sie könnte tausende unschuldiger Leben kosten. Die Autoritäten in Kiew und ihre westlichen Unterstützer werden die volle Verantwortung für alle Konsequenzen eines solch zerstörerischen Szenarios tragen."
Mit anderen Worten, bei Betrachtung der konkreten Lage gibt es kein Argument, das für eine Sprengung durch die Russen spricht. Im Gegensatz dazu gibt es einen Artikel der Washington Post vom 29. Dezember letzten Jahres, in dem ein ukrainischer Generalmajor namens Andrei Kowaltschuk sich zu seinen Überlegungen äußert, den Damm zu sprengen.
"Kowaltschuk überlegte, den Fluss zu fluten. Die Ukrainer, sagte er, unternahmen sogar einen Probeangriff mit einem HIMARS-Raketenwerfer auf eines der Flutgatter des Kachowka-Damms und machten drei Löcher ins Metall, um zu sehen, ob der Wasserpegel des Dnjepr weit genug angehoben werden könne, um russische Überquerungen zu behindern, aber die nahe gelegenen Dörfer nicht zu überfluten."
Wenn man diese Aussage eines ukrainischen Kommandeurs heute betrachtet, darf man dabei allerdings nicht vergessen, dass alle Einwohner der Orte links des Dnjepr aus Kiewer Sicht ohnehin Kollaborateure sind. Es gibt also nicht nur weitaus mehr Motive für die ukrainische als für die russische Seite, es gibt auch bereits das Bekenntnis, dass solche Pläne existieren.
Aber das ist weder für die deutsche Presse noch für die deutsche Politik ein Problem. So beantwortet der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, der SPD-Abgeordnete Michael Roth, die Frage nach der Verantwortung schlicht so:
Er argumentiert nicht, sondern behauptet schlicht, dass Russland Kriegsverbrechen begehe, und darum hätte es auch diesen Damm gesprengt. Natürlich kann man so etwas tun, man kann es auch schreiben. Und weil die Ukraine monatelang das Kernkraftwerk Energodar beschossen hat und auch sonst Kriegsverbrechen begeht (wie mittlerweile neben dem täglichen Beschuss der Zivilbevölkerung im Donbass auch den im Gebiet Belgorod), müsse es die Ukraine gewesen sein.
Aber eigentlich ist das unter der Würde intelligenter Menschen, die zumindest etwas Zeit aufwenden sollten, über das Für und Wider, über Vor- und Nachteile für jede der beiden Seiten nachzudenken, ehe sie ein Urteil fällen.
Bei der deutschen Reaktion geht es nicht um Wahrheit, es geht darum, Positionen zu besetzen, in der Erwartung, dass wenn man nur schnell und laut genug "hier" schreit, es ausgeschlossen sei, dass abweichende Informationen überhaupt noch zur Kenntnis genommen werden. So wie man beim Beschuss des Bahnhofs von Kramatorsk auch sogleich schrie, das sei ein russisches Verbrechen, und sich nicht einmal korrigierte, als nach den Aufnahmen einer Totschka-U-Rakete feststand, dass es die Ukraine gewesen sein muss. Die ganze Geschichte wurde schlicht aus den Nachrichten genommen.
Das mag mit dem Angriff auf den Staudamm ebenso geschehen. Oder aber die Wirklichkeit wird wieder einmal völlig ignoriert und durch eine eigene Erzählung ersetzt. Für Letzteres spricht, dass sich inzwischen so gut wie alle aus dem Fenster gelehnt haben, die eines besitzen, aus dem sie sich lehnen können. EU-Ratspräsident Charles Michel beispielsweise, der gleich erklärte, "wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Verantwortung ziehen", und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der meinte, "das ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität des russischen Krieges in der Ukraine zeigt".
Wer immer noch geneigt ist, der westlichen Zuschreibung trotz ihrer Inhaltsleere zu folgen, möge daran denken, dass acht Monate nach der Sprengung von Nord Stream weder Scholz noch Stoltenberg bereit oder willens sind, einen Täter zu benennen und auf Ermittlungen zu pochen. Ermittlungen, die offenkundig weder nötig sind, wenn es darum geht, wer von der Sprengung eines Damms in Cherson profitiert, noch, um zu sagen, wer das Atomkraftwerk bei Saporoschje beschießt. Stattdessen wird der vermeintlich Schuldige derart schnell benannt, dass man vermuten könnte, die Stellungnahmen zu dieser Tat steckten bereits fertig formuliert in den Jackentaschen, ehe der Angriff auf den Damm überhaupt stattfand. Was, wenn man berücksichtigt, wie tief die westlichen Nasen im ukrainischen Schlamm stecken, ebenfalls nicht verwundern würde.
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