Von Dagmar Henn
Wahrscheinlich wollte der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes Frank Überall sich selbst endlich wieder in Meldungen lesen. Oder er hat den Auftrag, endlich das Thema Habeck-Heizung von den Titelseiten zu verdrängen. Schließlich ist jeder Kritikpunkt an der herrschenden Koalition harmloser als jener, sie wolle Millionen deutsche Besitzer von Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen in absehbarer Zeit in den Ruin treiben.
Auch in den Tageszeitungen ist der Satz von Friedrich Merz ein großes Thema, und mit Begeisterung wird Empörung darüber gesammelt. Was letztlich ein völliges kommunikatives Scheitern darstellt, denn die Aussagen, die Merz tatsächlich traf, können an sich gar kein Anlass zur Empörung sein. Blicken wir einmal auf das Original:
Wenn man diese Sätze genau liest, stellt man fest, dass sie keine Meinungsäußerung sind, sondern aus Tatsachenbehauptungen bestehen. Sicher, es fehlt die Quellenangabe, und man kann die Richtigkeit der Aussage anzweifeln, aber damit ist das Angebot möglicher Reaktionen auch schon abgearbeitet, sofern man sich im Rahmen einer normalen politischen Debatte bewegt.
Was in keiner Weise eine Reaktion auf eine Tatsachenbehauptung ist, ist ein Satz wie dieser: "Die Situation ist ernst und er geistert nur hetzend durch die Gegend", ein Vorwurf, den die Grüne Renate Künast gegen Friedrich Merz erhob. Interessant dabei ist, dass die oben zitierte Reihe von Tatsachenbehauptungen keine derartigen Emotionen enthält. Zu sagen, dass jemand Dritter etwas ablehnt oder als übergriffig empfindet, ist nichts, das sich mit halbwegs funktionierendem Verstand als "Hetze" klassifizieren ließe.
Diese Art der Reaktion belegt allerdings, dass die Absonderung des Begriffs "Hetze" wie beim Reiz-Reaktions-Schema eines pawlowschen Hundes schon durch den Gebrauch des Wortes Gendern zusammen mit einer negativen Konnotation ausgelöst wird, die konkrete Aussage also gar keine Rolle spielt.
Ähnlich bei Clara Bünger von der Linken. "Es wird immer deutlicher, dass Merz die Zukunft des deutschen Konservatismus wohl in einer illiberalen Demokratie à la Viktor Orbán sieht." Noch einmal eine rein pawlowsche Reaktion, die noch dazu zu einer völlig falschen Aussage führt. Zum einen ist da die Frage, ob einer Demokratie mit Souveränität nicht mehr gedient ist als mit Gendern, und zum anderen ist Merz eingefleischter Transatlantiker. Er mag sich zwar gegen Gendersprache äußern (was er im strengen Sinne nicht einmal getan hat), aber er wird keinesfalls für eine deutsche Souveränität eintreten wie Orbán für die ungarische.
Nun, das sind Politiker. Da erwartet man nicht unbedingt, dass sie den Unterschied zwischen einer Tatsachenbehauptung (es hat 20 Grad) und einer Meinungsäußerung (ich finde das heute zu kühl) erkennen können. Bei Menschen, die beruflich mit Sprache umgehen, ist das anders. Was sagt nun Überall?
"Das Gendern ist Ausdruck einer zutiefst demokratischen Grundhaltung, Menschen unabhängig von Geschlecht, Identität, Herkunft und Einstellungen gleich zu behandeln. Darin ein Stimmenbeschaffungsprojekt für die Demokratiefeinde der AfD zu sehen, ist politisch wirr."
Die Frage, die sich bei Tatsachenbehauptungen stellt, lautet nicht, ob sie wirr oder logisch, sondern, ob sie richtig oder falsch sind. Einen Ansatz einer Aussage hierzu liefert Überall nur außerhalb des Zitats in seiner Presseerklärung: "Friedrich Merz bleibe zudem jegliche Fakten für seine steile These schuldig."
Allerdings – die Bild beruft sich auf eine Umfrage für den WDR, nach der 59 Prozent das schriftliche, 69 Prozent das gesprochene Gendern ablehnen. Diese Zahlen stützen zumindest auf die Frage der Sprache bezogen durchaus die Behauptung einer großen Mehrheit.
Beim Tweet zur Presseerklärung wurde übrigens die Kommentarfunktion eingeschränkt. Trotzdem blieben die Kommentare mehrheitlich kritisch (Schreibweise wie im Original):
"Hört mit dem Gendern auf! Es ist nicht Aufgabe des ÖRR, mit Zwangsgebühren finanzierter Medienmacht gegen die Bevölkerung Sprache ideologisch zu verändern."
"Ohne Sympathien für Merz teile ich seine Kritik aber in Teilen. In Eurer Blase ist Gendern populär. Anders als andere habt Ihr die 'Betriebsmittel', für Eure Überzeugungen zu werben. Professionell wäre hier die Wahrung von Neutralität. Das tut Ihr aber überwiegend nicht."
Die Mehrzahl der erhaltenen Kommentare ist vergleichsweise nüchtern; einzig die Unterstützer stechen heraus. Von "Merz auf Fascho-Kurs" bis zu "das liegt in erster Linie daran, dass der Merz ein charakterloses rektum ist. Und ein hetzer. Und ein lügner." (Schreibweise wie im Original)
In seiner Presseerklärung hängt Überall nach der Beschwerde, die CDU solle die Journalisten unterstützen und ihnen keine "Nackenschläge" verpassen, noch eine weitere Aussage an: "Die Kollegen stehen wegen ihrer unabhängigen und kritischen Berichterstattung mächtig unter Druck vom rechtsextremen Rand. Da braucht es eher Zuspruch als Genderkritik."
In Wirklichkeit stehen die Journalisten nicht einfach vom "rechtsextremen Rand" unter Druck; die Zahl der Menschen, die sich und ihre Probleme in der Berichterstattung einfach nicht wiederfinden, wächst stetig. Dass die ausgesprochen unnachgiebige Position der deutschen Mainstreammedien bei Corona dauerhafte Spuren hinterlassen hat, sollte selbst Überall bewusst sein. Und auch die unerbittliche Durchsetzung der NATO-Position treibt Zuschauer zum Abschaltknopf, die nur insofern unter Überalls Etikett "rechtsextrem" fallen, als für ihn schon zu Corona-Zeiten schlicht alles rechtsextrem war, was nicht mit ihm übereinstimmte.
Ob ein Mainstream-Vertreter wie Überall noch begreift, dass Unwille und Ablehnung auch mit all den Themen und Problemen zu tun haben, die entweder ignoriert werden, wie zunehmende Armut, oder gar verschärft, wie die Wohnungsnot durch die Habeck-Heizgesetze, dass es eine zunehmende Zahl völlig rationaler Gründe gibt, diese Koalition, die NATO-Politik und die Selbstisolation des Westens abzulehnen, ist mehr als fraglich. Auch er ist längst im pawlowschen Modus und reagiert auf jedes "Nein" gleich: "Nazis, Nazis, Nazis" …
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