Von Dagmar Henn
Heute ist wieder einer jener Tage, an dem man einen Blick zurück auf die Entwicklung des Krieges in der Ukraine werfen sollte. Am 2. Juni 2014 geschah der Luftangriff auf die Regionalverwaltung in Lugansk, und er zeigte ein weiteres Mal, wie sich der Umgang des Westens mit dem Bürgerkrieg in den folgenden Jahren gestalten sollte.
Nicht der Angriff, aber dessen unmittelbare Folgen waren wieder Teil eines Livestreams; der Streamer hatte zuvor einen Versuch, die Kaserne der Grenzpolizei zu stürmen, begleitet und eilte dann zurück in die Innenstadt, als er von dem Angriff erfuhr. Die ukrainische Armee hatte das Gebäude der Regionalverwaltung mit Raketen beschossen, vermutlich in der Erwartung, die in diesem Gebäude tagende Führung der Volksrepublik Lugansk auszulöschen (in Donezk gab es an diesem Tag einen Anschlag mit einer Autobombe). Stattdessen wurden Mitarbeiter der Verwaltung und Bürger getötet, die sich zu diesem Zeitpunkt vor dem Gebäude aufhielten.
Als der Streamer dort eintraf, war zuerst nur klar, dass reihenweise blutende Menschen am Boden lagen und die Bäume des Parks von Splittern getroffen waren. Im Original dieses Streams hört man den Filmenden nur laut fluchen (diesmal ist die Warnung von Youtube wirklich berechtigt); sein Entsetzen angesichts dieses Anblicks war unüberhörbar. In einem Augenblick filmt er eine Frau, die ihn bittet, ihr ihr Handy zu geben, weil sie ihre Tochter anrufen wollte; kurz darauf war diese Frau tot, der Angriff hatte ihr die Beine abgerissen.
In Deutschland war nichts davon zu sehen oder zu hören. Die Kiewer Regierung bestritt, einen Angriff geflogen zu haben. Die Erzählung, die sie sich einfallen ließ, war: Da haben einige Separatisten mit MANPADS versehentlich den Bau beschossen, und die Geschosse seien von der Klimaanlage angezogen worden.
Die deutschen Medien übernahmen dieses Märchen, ungeachtet der Tatsache, dass ein einziger Blick auf ein Foto dieser Regionalverwaltung gezeigt hätte, dass dort gar keine Klimaanlagen waren, also auch keine Hitzequellen für diesen imaginierten Fehlschuss. Der Streamer hatte übrigens anschließend den Park abgesucht und tatsächlich noch eine im Boden stecken gebliebene Rakete gefilmt, aber solches Material fand sich nie in deutschen Sendungen.
Der kleine Park vor der Regionalverwaltung wurde allerdings von einer Webcam überblickt, und die Aufnahmen dieser Webcam zeigten eindeutig, wie der Bau mit Raketen beschossen wurde. Am Folgetag kam dann auch das Geständnis aus Kiew: Ja, wir haben das Gebäude beschossen. In Deutschland kam diese Korrektur jedoch niemals an.
Anders damals noch bei der OSZE. Deren Bericht las sich wie folgt:
"In Lugansk blieb die Lage volatil. Am 2. Juni, kurz nach 15 Uhr, trafen Raketen das besetzte Gebäude der Regionalverwaltung. Nach den begrenzten Beobachtungen der SMM (special monitoring mission / besondere Beobachtungsmission) waren diese Schläge das Ergebnis ungelenkter Raketen, die aus einem Flugzeug abgeschossen wurden. Die Zahl der Opfer ist unbekannt."
Auch CNN berichtete noch. In einem Tonfall, den man später, bezogen auf die Bevölkerung des Donbass, nie wieder hören sollte:
"Blutbeflecktes Pflaster, die Puderdose einer Frau, eine zersplitterte Brille, ein einzelner, staubbedeckter Schuh waren unter den Trümmern, die eine zerstörerische Serie von Explosionen hinterließ, die das Hauptquartier der pro-russischen Separatisten in der ostukrainischen Stadt Lugansk am Montag traf.
Das Gemetzel war plötzlich, unerwartet. Das war die Mitte einer Stadt, ein Gebäude neben einem schattigen Platz, wo Zivilisten entlanggingen und arbeiteten. Acht Menschen wurden getötet, fünf Frauen und drei Männer, der selbsterklärten Lugansker Volksrepublik zufolge; die Kiewer Behörden melden die gleiche Opferzahl."
Und dann wurden die beiden Varianten der Erklärung benannt, auch die Kiewer Ausreden für dieses Kriegsverbrechen: "Die Kiewer Behörden bestritten, dass ihre Flugzeuge beteiligt waren. Anfänglich sagte die Antiterroroperation, die Explosion hätte im Inneren des Gebäudes stattgefunden, dann, dass Flugabwehrraketen der Separatisten daneben getroffen hätten, angezogen von der Hitze einer Klimaanlage außerhalb des Gebäudes."
Wie man sehen kann, ist hier auch die Version zitiert, die es in die deutsche Tagesschau schaffte. Aber der Text geht weiter: "Eine Untersuchung von CNN in Lugansk fand klare Belege dafür, dass, welche Explosionen auch immer das Gebäude und den danebenliegenden Park trafen, aus der Luft gekommen waren. Die Spitzen der Bäume waren gesplittert, und eine Reihe von kleinen Kratern – etwa ein Dutzend – war in einer geraden Linie entstanden, im Park beginnend, bis zur Wand des Gebäudes." Dann wird ein Experte zitiert, der vermutet, dass 30-Millimeter-Munition entweder aus einer Su-25 oder einer Su-27 abgefeuert wurde.
Acht Tote und über 20 Verletzte an dem Tag, an dem das Gemetzel in Lugansk Einzug hielt. So wie einige Tage zuvor mit dem Beschuss des Donezker Flughafens für Donezk wurde an diesem Tag auch in Lugansk aus einer politischen Auseinandersetzung ein Bürgerkrieg. In beiden Fällen geschah das durch Einsätze der ukrainischen Luftwaffe. In beiden Fällen gab es noch etwas Berichterstattung im Westen, wie die obigen CNN-Zitate belegen – aber nicht in der deutschen Presse, den deutschen Fernsehsendern, die zu jenem Zeitpunkt durchaus noch Personal in der Gegend hatten. Kein Bild, kein Ton, nur ein Foto der angekohlten Fassade mit dem Kiewer Märchen vom MANPADS. Und das, obwohl der Beschuss dieses Gebäudes eindeutig ein Verbrechen war; diesmal, im Gegensatz zu Odessa oder selbst Mariupol, eines, das nur auf Kiewer Befehl geschehen konnte.
Wenn man das damalige deutsche Schweigen betrachtet, das trotz der geografischen Nähe weitaus früher das heutige Ausmaß annahm als beispielsweise in den Vereinigten Staaten, dann kommt man zu der Vermutung, dass zumindest zu diesem Zeitpunkt das Interesse der deutschen Politik an der Entstehung dieses Bürgerkriegs noch ausgeprägter war als das der Vereinigten Staaten. So wie zuvor das Massaker von Odessa und der Einfall der Nationalgarde in Mariupol wurde auch dieser Luftangriff auf Lugansk vom Schweigen verschluckt. Das Entsetzen, mit dem der Streamer den Beginn des Krieges gegen seine Stadt zeigt, hat deutsche Ohren nie erreicht (von einigen kleinen Webseiten und ein paar Konten auf Facebook abgesehen).
Und auch bei diesen Bildern stellt sich wieder die Frage: Wäre es heute denkbar, die Geschichte von der demokratischen Ukraine zu verkaufen und vom unprovozierten russischen Angriffskrieg zu reden, wenn der Augenblick, in dem die verblutende Frau den Filmer um ihr Handy bittet, ebenso in den deutschen Gedächtnissen verankert wäre wie in den russischen?
Vielleicht ist der Unterschied die Perspektive ‒ der Stream aus Donezk einige Tage zuvor (ja, auch dort gab es einen) war nicht so nahe dran am Zielpunkt der Raketen; aber die Aufnahmen von diesem 2. Juni 2014 lassen sich übertragen auf das andere historische Datum dieses Monats, den Beginn des Unternehmens Barbarossas, des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941.
Die Tiefe des Schreckens, die in dem Video so hautnah ist, dieses plötzliche Entsetzen mitten in einer friedlichen Stadt, die aus ihrem Alltag herausgerissen wird und in den Krieg gestürzt, so, genau so muss das damals auch gewesen sein. Viele der sowjetischen und auch der russischen Filme versuchen, diesen Moment einzufangen, aber nirgends ist das so präzise und so erschütternd wie in den Aufnahmen aus Lugansk vom 2. Juni 2014.
Die Tatsache, dass dieser Schrecken in Deutschland so gründlich verhüllt wurde, zeigt, dass es in diesem Krieg neben dem Kiewer Regime und der transatlantischen Räubertruppe namens NATO noch einen weiteren Schuldigen gibt: die Medien, die heute in Deutschland mindestens ebenso sehr zur Schaffung von Kriegen beitragen, wie sie einst zu den Zeiten des Vietnamkriegs dazu beitrugen, die Wahrheit über den Schrecken zu enthüllen.
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