Von Dagmar Henn
Im Englischen gibt es den Begriff "loose cannon", eine lose Kanone. Er bezieht sich auf Kriegsschiffe aus Holz, die Kanonendecks knapp über der Wasseroberfläche hatten. Löste sich eine Kanone aus ihrer Verankerung und geriet ins Rutschen, konnte sie die Bordwand durchschlagen und womöglich das ganze Schiff zum Sinken bringen. Selbst wenn das nicht geschah, verursachte sie in der Regel schwere Verletzungen unter der Besatzung. Eine lose Kanone bezeichnet also eine Gefahr für die eigene Seite.
Das Kiewer Regime hatte von vornherein Anlagen in diese Richtung. Man erinnere sich nur an diverse Aussagen des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko; vor allem jene kurz nach seinem Amtsantritt, für jeden getöteten ukrainischen Soldaten müssten "Hunderte Separatisten mit dem Leben bezahlen". Ein Satz, der nicht nur wegen seines überzogenen Racheanspruchs, sondern auch wegen der fehlenden Unterscheidung zwischen Zivilisten und Militär an die Partisanenbefehle der Wehrmacht erinnert, die dazu führten, dass für einen Wehrmachtssoldaten, der durch Partisanen getötet wurde, 50 Geiseln ermordet wurden.
Poroschenkos Satz, der es Ende Mai 2014 unkommentiert in die deutschen Medien schaffte, blieb allerdings die Ausnahme, und sowohl das Gebaren der ukrainischen Truppen als auch der Donbasskrieg selbst verschwanden weitgehend in einem schwarzen Loch. Eine Ausnahme bildete ein Vorfall mit einem Bus bei Wolnowacha, der auf eine ukrainische Mine zurückzuführen war, aber von Poroschenko zu einem dramatischen Auftritt in Davos 2015 genutzt wurde.
Seit Beginn der militärischen Spezialoperation ist es nicht mehr möglich, das ganze Thema Ukraine im Nirwana zu versenken, und es ist auch nicht mehr erwünscht. Im Gegenteil, immer wieder werden in westlichen Medien Aussagen von Angehörigen der ukrainischen Führung kolportiert, um die Stimmung im Westen aufrechtzuerhalten. Das ist aber keine einfache Aufgabe, denn weder die Handlungen noch die Aussagen sind mit dem Bild kompatibel, das der westlichen Bevölkerung serviert wird.
Wenn man beispielsweise die Reaktion auf die heutigen Drohnenangriffe auf Moskau betrachtet, ist sie geradezu schizophren. Zum einen wird betont, wie furchtbar die (auf militärische Ziele) gerichteten russischen Raketen auf Kiew seien; gleichzeitig wird der Drohnenangriff auf Moskau (auf irgendwelche Ziele) bejubelt, aber die ukrainische Behauptung übernommen, die Ukrainer seien es nicht gewesen und die russische Bewertung als Terrorangriff sei unangebracht. "Russen jammern über 'Terrorangriff'", titelt beispielsweise der Focus.
Nun gibt es Kriterien, die definieren, ob es sich um eine legitime Kriegshandlung oder um einen Terrorakt handelt. Das erste der Kriterien ist das Ziel. Angriffe auf rein zivile Objekte (wozu beispielsweise auch der Kreml zählt), sind per se nach Kriegsrecht unzulässig und damit Terrorakte. Aber selbst wenn sich die Drohnenangriffe auf militärische Ziele gerichtet hätten, wären sie einzig unter der Voraussetzung, dass sie tatsächlich von der Ukraine begangen worden wären, keine Terrorakte. Eben dieser Punkt wird allerdings gerade mal wieder von Kiew bestritten, so lächerlich das sein mag.
Wobei man sich nur an den ständigen Beschuss des Kernkraftwerks Energodar erinnern muss, den ja auch nie die Ukraine beging. Dem westlichen Publikum wird seit bald einem Jahr zugemutet zu glauben, dass die russische Armee auf sich selbst schießt und die Ukrainer damit nichts zu tun hätten.
Das Problem ist allerdings die Geschwätzigkeit der ukrainischen Führung, die den Verzehr ihrer täglichen Kreideportionen zu verweigern scheint. Das betrifft nicht nur den Nachrichtendienstchef des ukrainischen Verteidigungsministeriums Kirill Budanow, der sich offen zu Mordanschlägen in Russland bekannte und ankündigte, diese Strategie weiterzuverfolgen. Mordanschläge auf Zivilisten im Ausland – dafür gibt es keinen anderen Begriff als Terrorismus. Auch wenn die USA seit Jahren daran arbeiten, diesen Begriff aufzuweichen, um ihre Drohnenmorde legal erscheinen zu lassen.
Oder der Chef der SBU, der sich zum Anschlag auf die Brücke von Kertsch bekannte. Dabei sollte man sich daran erinnern, dass nicht nur der Fahrer des mit Sprengstoff beladenen Lkw nichts ahnend in den Tod geschickt wurde, sondern auch noch weitere unbeteiligte Fahrzeuginsassen ums Leben kamen. Kriegshandlung oder Terrorakt? Es war der Auto-, nicht der Eisenbahnteil der Brücke, der Ziel der Attacke war. Wenn etwas an der Brücke legitimes militärisches Ziel ist, dann allerdings nur die Eisenbahnverbindung.
Wie ist es mit der Aussage von Budanow, man müsse einen Großteil der Krim-Bewohner eliminieren? Das entspricht jedenfalls nicht dem Verhalten einer Regierung, die davon ausgeht, die Menschen auf der Krim lebten wider Willen unter fremder Besatzung. Insofern ist darin auch ein Quäntchen Wahrheit verborgen. Aber gehört es zum Handlungsrepertoire einer demokratischen Regierung, eigene Staatsbürger "physisch zu eliminieren", nur weil diese sich nicht als solche begreifen?
Tatsächlich hat die Ukraine seit der Regierung Poroschenko genau so gehandelt, wenn auch vor allem gegenüber den Bewohnern des Donbass. Beginnend bereits mit dem ersten Einsatz der ukrainischen Luftwaffe am 26. Mai 2014, als schon auf dem Weg zum damals umkämpften Flughafen das eine oder andere Fahrzeug auf der Straße dorthin zum Ziel von Raketen wurde, blind und zufällig. Was sich weiter fortsetzte mit dem Beschuss eines Lastwagens, der Verletzte vom Flughafen in die Stadt brachte. Auf diese Weise wurde gleich zu Beginn zu erkennen gegeben, wie diese Kämpfe geführt werden.
Aber das damals wurde schlicht verschwiegen. Das ist schwieriger, wenn sich Geheimdienstchef Wassili Maljuk, Budanow oder Präsidentenberater Michail Podoljak mit Sätzen wie "Sobald wir die Krim betreten, müssen wir alles Russische auf ihr auslöschen" äußern.
Das Nachrichtenportal UNIAN, das seine Leser abstimmen ließ, welche prominenten Russen das Ziel für den nächsten Mordanschlag sein sollten, arbeitet sowohl mit dem Spiegel als auch mit der BBC zusammen. Besteht das Wesen dieser Zusammenarbeit wirklich darin, dass die Kooperationspartner die Veröffentlichungen des anderen nicht zur Kenntnis nehmen?
Allein das Vokabular – "auslöschen", "physisch eliminieren", "mit ihrem Leben bezahlen" – sollte deutlich genug sein, um die tiefe Menschenfeindlichkeit zu erkennen, die offenkundig die gesamte Kiewer Politmafia prägt. Und es ist nicht so, dass sie dem im Westen nicht zuhören. Budanow, der die Entvölkerung der Krim androhte, wurde vor einigen Wochen von der Süddeutschen Zeitung geradezu gepriesen: "Der Mann für die ukrainischen Kommando-Aktionen", lautete schon die Überschrift des Textes über ihn, der womöglich "einmal zum Star wird, wenn die Geschichte des Kriegs in der Ukraine auch auf der Leinwand aufgearbeitet wird". Er sei im August 2016 daran beteiligt" gewesen, auf der Krim "einen hohen Offizier des russischen Geheimdienstes FSB zu töten". Eine Handlung, die unbestreitbar auch zu diesem Zeitpunkt ein terroristischer Akt war. "Seine kühnen Aktionen und präzisen Voraussagen verschafften ihm hohes Ansehen."
Und niemand hat gehört, wie ebendieser Mann ankündigte, große Teile der Bevölkerung der Krim "physisch zu eliminieren", sofern es der Ukraine gelänge, sie einzunehmen? Und niemand kommt angesichts dieser Aussagen auf den Gedanken, das Schicksal, das dem Donbass drohte, könnte ähnlich sein?
Auch wenn man die Handlungen betrachtet, ist klar, dass es für diese Truppe keinerlei Grenze zu geben scheint. Der Beschuss von Energodar hätte ein weiterer Punkt sein müssen, sich auf Distanz zu dieser Macht zu begeben. Stattdessen wird nach wie vor das Märchen vom russischen Selbstbeschuss aufrechterhalten. Russische Berichte über vereitelte Anschläge auf Kernkraftwerke werden ignoriert oder zur Propaganda erklärt, und Gleiches geschieht, wie an der Berichterstattung über den Drohnenangriff auf Moskau zu sehen ist, jedes Mal, wenn die Ukraine Dinge tut, die bei so gut wie jedem anderen Staat als Terrorismus gesehen würden.
Allerdings täuscht die westliche Wahrnehmung, man könne das laufen lassen, weil es ein Problem für Russland sei. Es gab bereits die mehr oder weniger verhüllte Drohung aus Kiew, im Falle einer Niederlage werde der ukrainische Terror auch Westeuropa treffen. Schon der Beschuss von Energodar hatte diese Komponente – der Wind weht häufiger gen Westen, und ein Angriff, der in dieser Anlage ein atomares Unglück auslösen würde, träfe mit seinen Folgen weit eher Westeuropa als Russland. Was der Grund dafür ist, dass die Legende vom russischen Beschuss solange irgend möglich aufrechterhalten werden muss – der eine oder andere Westeuropäer könnte sich dann doch von dieser Ukraine bedroht fühlen.
Wie war das noch einmal mit der S-300-Rakete, die auf Polen fiel? Eine Luftabwehrrakete, die eindeutig umgebaut worden war, um nicht mehr über, sondern am Boden zu explodieren, die aus Kiew immer noch zur russischen erklärt wurde, als längst feststand, dass es eine ukrainische war, und die kaum aus Versehen in diese Richtung geflogen sein konnte? Ein klarer Versuch, weitere Länder direkt in den Krieg hineinzuziehen. Auch das ein Moment, aus dem keine Konsequenzen gezogen wurden.
So, wie auch der Einsatz aus dem Westen gelieferter Waffen gegen die Zivilbevölkerung des Donbass – zuletzt zu sehen beim Beschuss von Lugansk mit britischen Storm-Shadow-Raketen – maximal ein kurzes "Du, du" hervorruft, weiter aber nichts.
Jeder, der die Schlachten des letzten Jahres beobachtet hat, weiß, dass diese Kiewer Regierung nicht einmal ihre eigenen Soldaten wertschätzt. Natürlich wird es auch unter den Journalisten und Politikern des Westens einige geben, die Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden sind und brav glauben, wenn in Kiew erzählt wird, es gäbe kaum ukrainische Opfer. Aber die Liste der eigenartigen Vorfälle ist ebenso längst zu lang wie die Liste der enthüllenden Aussagen, sodass eigentlich selbst jene, die einen irrationalen Hass gegen Russland hegen oder um jeden Preis die US-Hegemonie aufrechterhalten wollen, stutzen müssten, mit welchen Kräften sie sich da eingelassen haben. Einen tollwütigen Hund kann man nicht abrichten, und eine lose Kanone richtet zwar großen Schaden an, aber nicht beim Gegner.
Wenn irgendjemand im Westen ernst nähme, was die ukrainischen Handlungen wie auch die ukrainischen Aussagen besagen, müssten längst Pläne in Arbeit sein, wie im hoch wahrscheinlichen Falle einer ukrainischen Niederlage die westlichen Grenzen so gesichert werden können, dass diese Ukrainer auf keinen Fall ihr Land verlassen. Anderenfalls hätte Westeuropa tatsächlich ein Terrorproblem, verglichen mit dem die gesammelten Anschläge durch "Gladio" ein Sonntagsausflug gewesen sein dürften. Und selbst die Hoffnung, dass es dann diejenigen träfe, die diese Natter an ihrer Brust genährt haben, die Regierungen, die jetzt Waffenlieferung nach Waffenlieferung in die Ukraine schicken, dürfte täuschen; so wie jetzt im Donbass, bei ihren Mordanschlägen und Angriffen auf Russland würden sie zivile Ziele vorziehen. Auch dann müssten die Falschen den Preis bezahlen.
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