Von Dr. Karin Kneissl
Seit dem November 2001, als die AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, erstmals die türkischen Parlamentswahlen gewann, bestimmt Erdoğan die Geschicke in der Türkei. Das kemalistische Erbe des türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk ist teilweise einem konservativen politischen Islam gewichen. Doch die ideologische Zusammensetzung des Landes ist zu komplex, als dass man von einer gesellschaftlichen Veränderung im Sinne einer Islamisierung sprechen sollte. Vielmehr geht es auch der AKP um Stimmenmaximierung über alle politischen Lager hinweg, und Erdoğan ist meiner Beobachtung nach heute pragmatischer als noch vor 20 Jahren.
Zunächst wirkte er bis 2014 als Ministerpräsident und nach der Verfassungsänderung in einer Präsidialrepublik als Präsident. Als solcher überstand er auch den Putschversuch im Juli 2016. Der ehemalige Bürgermeister von Istanbul Erdoğan ist ein "politisches Tier" par excellence. Er setzt mit viel Instinkt seine Themen und weiß die Wähler hinter sich. Was die restliche Welt denkt, ist ihm ziemlich egal. Ob es um die Umwandlung des Museums Hagia Sophia in eine Moschee geht oder um Waffenkäufe in Russland, Erdoğan tut das, was ihm seine politische Einschätzung rät. Im syrischen Kriegsgeschehen hat die Türkei jedoch konsequent auf die Vernichtung von Baschar al-Assad gesetzt und sich damit verschätzt.
Im Gleichgewicht der Kräfte zwischen Moskau und Ankara
Als Staatschef des zweitwichtigsten NATO-Staates hat er seit 2014 eine Allianz mit Russland aufgebaut, die über Energiefragen und Luftabwehr hinausgeht. Die offenbar gute persönliche Chemie zwischen den Präsidenten Erdoğan und Wladimir Putin spielt ihre Rolle. Zeitgleich stehen und standen die Armeen der beiden Staaten einander in Syrien und Libyen als Gegner gegenüber. Durch Jahrhunderte hindurch waren die beiden Mächte in viele Kriege verwickelt. Das Misstrauen sitzt tief bei allem Neuanfang, den Putin und Erdoğan seit einem Jahrzehnt wagen. Die Türkei ist immerhin der zweitwichtigste NATO-Staat, der Druck der USA auf türkische Behörden und die Politik ist heftig, wenn es um Sanktionen gegen Russland geht. Doch die Regierung Erdoğan hält dem Druck stand, der auch gegen die türkische Wirtschaft gerichtet ist. Dabei steht sehr viel mehr auf dem Spiel als der russische Tourismus in der Türkei. Man beteilige sich nur an Sanktionen des UN-Sicherheitsrates, ließ das türkische Außenministerium mehrfach wissen. Indes wurde der große neue Flughafen von Istanbul zur Drehscheibe schlechthin für Flugverbindungen zwischen Russland und Europa. Die USA und die EU wissen, dass sie die Türkei mehr brauchen als dies umgekehrt der Fall ist. Das gilt insbesondere für die Migration, die sich aus Afghanistan über den arabischen Raum ins östliche Mittelmeer zieht.
Erdoğan seinerseits zeigt sich zunehmend vom Konzept Eurasien angezogen. Sollte die Türkei beispielsweise der Shanghai Cooperation Organization beitreten, wo sie einen Beobachterstatus innehat, dann wäre dies ein heftiger Schlag für die NATO und hätte logischerweise einen Austritt der Türkei aus dem Militärbündnis zur Folge. Ob es Washington darauf ankommen lässt, ist unklar. Seitdem die EU im Frühjahr 2014 das Pipeline-Projekt South Stream platzen ließ, arbeiten russische und türkische Energiekonzerne verstärkt zusammen. Kurioserweise kaufen EU-Kunden nun unter anderem über die Türkei russisches Erdgas ein und die Idee Putins, die Türkei zu einem Energiehub zu machen, trifft in der Türkei auf großes Interesse.
Das US-amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek bezeichnet den Sieg Erdoğans als einen "Punktesieg Putins", und will offenbar damit andeuten, dass Russland in den türkischen Wahlen mitgemischt hätte. Erdoğan erhielt 52,14 Prozent der Stimmen, Kılıçdaroğlu 47,86 Prozent, wie die Wahlbehörde nach Auszählung von 99,43 Prozent mitteilte. Damit blieb Erdoğan bei der ersten Stichwahl um das Präsidentenamt in der Geschichte der Türkei unter seinem Ergebnis der letzten Wahl im Jahr 2018, als er auf 52,6 Prozent gekommen war. Die Wahlbeteiligung betrug 85,7 Prozent. Erdoğans Hochburgen lagen in Zentral- und Nordanatolien sowie im südosttürkischen Erdbebengebiet. Sein Rivale Kılıçdaroğlu siegte in Großstädten wie Istanbul und Ankara, an der Ägäis-Küste und im Kurdengebiet.
In der Nachfolge der Osmanen
Dass der charismatische Erdoğan stark unter den Wählern in der türkischen Diaspora, wie in Deutschland, Österreich und in den Niederlanden punktet, hat gute Gründe. Seine Politik, dass der Nationalstaat Türkiye, wie sich das Land offiziell seit Juli 2022 nennt, in der historischen Nachfolge zu den politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Osmanen steht, hat das Selbstbild der türkischen Migranten grundlegend verändert.
Die Millionen türkischstämmigen Menschen in Europa sehen sich dank diesem "neo-osmanischen" Gedankengut nicht mehr als die Kinder der geduldeten Gastarbeiter, sondern als die Nachfahren der erfolgreichen Osmanen. Diese Entwicklung hat einiges mit den Menschen in den türkischen Gesellschaften, ob in Wien oder in Berlin, gemacht, was meines Erachtens nicht zu unterschätzen ist. Ein neues Selbstbewusstsein entstand, das mehr mit Nationalstolz als mit Religion zu tun hat, wie manche Integrationsexperten vermuten. Man kann zu Recht die Parallelgesellschaften kritisieren, die gerade in den letzten 20 Jahren unter dem Einfluss türkischer TV-Stationen und diverser Vereine wohl noch angewachsen sind.
Doch es war vor allem auch für die türkischen Immigranten stets ein Handicap, wirklich ein Teil der Mehrheitsgesellschaften zu werden. Da konnte sich so mancher noch so assimilieren, noch so viele Pokale für den deutschen Fußball gewinnen, viele fühlten sich weiterhin als Fremde. Wie auch Generationen türkischer Diplomaten vergeblich die Dossiers für einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union verhandelten. Waren vor rund 15 Jahren noch zwei Drittel der Türken für eine Mitgliedschaft in der EU, so sind die Befürworter heute zur Minderheit geworden. Und dies hat nicht nur mit dem Verhalten Brüssels zu tun.
Die tektonischen geopolitischen Verschiebungen, von denen Präsident Putin und Kanzler Scholz gleichermaßen sprechen, wenn sie auch etwas anderes meinen, könnten gerade am Beispiel der Türkei zu völlig neuen Ausrichtungen führen. Kaum ein Staat ist so stark vom Wort "Geostrategie", also der militärischen Verbindung von Geographie und Geopolitik, durchdrungen wie die alte Regionalmacht Türkiye. Trotz der hohen Inflation ist die Türkei alles andere als der "kranke Mann am Bosporus" des 19. Jahrhunderts. Türkische Unternehmen sind gleichsam omnipräsent von Turkmenistan bis Saudi-Arabien, ob in der Bauwirtschaft oder im Textilwesen. Der wichtige türkische Dienstleistungssektor ist innovativer und flexibler als so manche Branche in Deutschland und bildet das Rückgrat für den türkischen Mittelstand. Der Tourismus musste mit der Pandemie, Wirtschaftskrisen und nun mit dem Krieg in der Ukraine zu Rande kommen. Doch das Hauptproblem ist die geschwächte Währung der Lira, welche den Menschen schwer zu schaffen macht.
Erdoğan als Zentralbanker
In den letzten zehn Jahren hat Erdoğan regelmäßig sowohl in die Agenda als auch in die Personalpolitik der türkischen Notenbank eingegriffen und unter anderem mehrere Zentralbankchefs entlassen. Seit 2019 galoppiert die Inflation und bewegt sich derzeit um die 80 Prozent. Erdoğan besteht anders als die Zentralbank auf niedrigen Zinsen, um das Wirtschaftswachstum zu stärken. Ein Grund für diese vom Präsidenten gleichsam verordnete Zinspolitik ist die hohe Verschuldung seiner Wählerschaft. Oft handelt es sich um Familien, die über Kredite zu kleinem Wohlstand gelangt sind, ob es das Auto oder die Waschmaschine ist. Mit der hohen Verschuldung der Haushalte wie auch die Schuldenlast des Staatshaushaltes erinnert die Türkei sehr an die USA, aber eben diese setzen auch die nun weiche türkische Lira vermehrt unter Druck. Eine Entdollarisierung im Energiegeschäft schreitet in der Türkei mit der Herausbildung eines regionalen Erdgasmarkts voran. Die Idee eines neuen regionalen Währungskorbs im Rahmen der BRICS, die bereits über ihre Bank verfügen, kann den türkischen Interessen eventuell besser dienen als die traditionelle Abhängigkeit vom US-Dollar.
Erdoğan ist nun angetreten, um die nächsten fünf Jahre zu regieren und zu gestalten. Das Jahr 2023 ist auch das Jubiläum "100 Jahre seit Gründung der Republik". Grundsätzlich hatte sich Erdoğan viel hierfür vorgenommen. Die Weltpolitik machte ihm teils einen Strich durch die Rechnung. Aber es gebe kein Problem, das die Türkei nicht lösen könne, sagte Erdoğan bei der Wahlfeier am Sonntagabend in Ankara. Er versprach den raschen Wiederaufbau des Erdbebengebietes im Südosten des Landes und Hilfen für die Bürger, um die Folgen der hohen Inflation zu lindern.
Mit der Wahl vom Sonntag hätten laut dem Präsidenten die Wähler "das Jahrhundert der Türkei" eingeläutet. Schon in einer ersten Rede hatte er nach der Wahl seine Anhänger auf die Kommunalwahlen im Frühjahr eingestimmt, bei denen er die Metropole am Bosporus für seine Partei AKP zurückgewinnen will: "Vor uns liegt 2024", sagte er. "Mit euch gehen wir zu neuen Siegen."
Erdoğan illustriert das Phänomen, dass Totgesagte länger leben. Wie viele Redaktionen und Türkei-Experten hatten ihn bereits abgeschrieben, wie viele Krankheiten wurden ihm in der medialen Gerüchteküche zugeschrieben. Ich hatte die Gelegenheit, Erdoğan mehrmals im Gespräch zu erleben. Über eine natürliche Autorität verfügt er jedenfalls, das erforderliche Charisma des Volkstribuns, der die Menschen bewegt, ist ihm gegeben. Am Arm seiner Frau, die wie ein guter Kurschatten um ihn herum ist, wirkt er manchmal zerbrechlich. Doch in dem Moment, in dem er ans Redepult tritt, scheint alle Müdigkeit wie weggeblasen und er kann aus dem Stegreif heraus Reden halten, die einen roten Faden haben und die Menge zum Applaudieren bringen. Beeindruckend ist dies allemal, wie immer man ihn sonst beurteilen mag.
Erdoğan hatte gestern auch angekündigt, dass ihn nur das Grab von der Türkei und seinen Wählern trennen würde. Er ist jedenfalls beim Wort zu nehmen. Der angespannte Wahlkampf war für ihn trotz aller Strapazen wie ein Jungbrunnen. Er ist und bleibt eine Kategorie für sich, der zwischen "elder statesman" und Parteichef rasch die Hüte zu wechseln versteht.
Mehr zum Thema - Schicksalswahl: Kommen auf die Türkei chaotische Zeiten zu?