Von Wladimir Kornilow
Die Idee, Russland seinen Sitz im UN-Sicherheitsrat oder zumindest das Vetorecht zu entziehen, ist nicht neu. Seit dem Beginn der Militäroperation in der Ukraine wurde sie auf verschiedenen Ebenen geäußert, unter anderem von US-Kongressabgeordneten. Ganz zu schweigen von zahlreichen Kolumnen in verschiedenen westlichen Zeitungen. Doch nun hat die Idee eine neue Färbung angenommen, denn vorgeschlagen wurde, Russland nicht nur aus dem Sicherheitsrat auszuschließen, sondern seinen Platz der Ukraine zu übergeben.
Diese "revolutionäre" Idee stammt von Bernard-Henri Lévy, einem französischen "Sänger des Maidan" und Lobbyisten der ukrainischen Nazis und wurde in der amerikanischen Zeitung The Wall Street Journal vorgestellt. Lévy präsentiert dort "Argumente", mit denen das offizielle Kiew seit Langem hantiert: Sie gehen dahin, dass Russland seinen Sitz im Sicherheitsrat unrechtmäßig innehat, weil es nach dem Zusammenbruch der UdSSR keinen Anspruch auf eine automatische Übertragung dieses Sitzes hatte. Dementsprechend kommt Lévy zu dem Schluss, Russlands ständige Mitgliedschaft und sein Vetorecht hätten "keine rechtliche Grundlage".
Doch der Franzose geht noch weiter. Er begründet seinen Vorschlag, der Ukraine den freien Sitz im Sicherheitsrat zu übergeben, mit der "genialen" Behauptung, dass die 1. Ukrainische Front, die die Gefangenen von Auschwitz befreit hat, einen wesentlichen Beitrag zur Niederlage der Nazis im Jahr 1945 leistete! Die Weitsicht dieses Philosophen verblüfft einfach!
Es wird interessant sein, wie er reagiert, wenn er davon erfährt, dass die 1. Ukrainische Front schlicht die umbenannte Woronescher Front ist, die ihrerseits auf der Grundlage der Brjansker Front aufgestellt wurde. Bedeutet dies, dass ein Sitz im UN-Sicherheitsrat an Brjansk oder an Woronesch gehen sollte? Oder an beide? Und wenn Lévy auch noch von der Existenz der Wolchow- oder Steppenfront erfährt, wäre wohl zu erwarten, dass der Denker ähnlich bahnbrechende Ideen auch für die Vertretung der Wolchow- und Steppenfront in der UNO entwickelt.
Wie wäre es mit einem ständigen Sitz für Weißrussland? Schließlich hieß die taktische Formation, die im April und Mai 1945 unter dem Kommando von Schukow Berlin eroberte, "1. Belorussische Front". Und dann gibt es noch die baltischen Staaten. Gleich vier "Baltische Fronten" hat es 1945 gegeben. Was es andererseits nie gegeben hat, ist eine "Französische Front".*
Trotz der offensichtlichen Lächerlichkeit wurde Lévys Vorschlag in einer angesehenen Wirtschaftszeitschrift veröffentlicht und war Gegenstand ernsthafter Diskussionen. Es ist kein Zufall, dass er mit einem Vorschlag des UN-Generalsekretärs António Guterres zusammenfiel, die ihm unterstellte Organisation zu reformieren, deren Struktur veraltet ist und nicht mehr den aktuellen Verhältnissen in der Welt entspricht.
Vielleicht ist das der Grund, warum die Idee des Franzosen auf eine gewisse Resonanz stieß. Der amerikanische Blogger Daniel Larison, ein promovierter Historiker, lachte herzlich darüber und nannte es "eine weitere dumme Intervention von Lévy". The American Conservative hingegen nahm die Debatte sehr ernst und bezeichnete den Vorschlag als gefährlich, da seine Umsetzung die Stabilität in der Welt untergraben würde. Die New York Sun hingegen unterstützte Lévys Idee mit beiden Händen: "Die Zeit ist reif", heißt es in ihrem Leitartikel.
In der Tat ist unstreitig, dass die Struktur der Sitze und Stimmen im UN-Sicherheitsrat die Kräfteverhältnisse des Jahres 1945 widerspiegelt und schon lange nicht mehr mit der modernen Struktur einer multipolaren Welt vereinbar ist. Darauf hat insbesondere der russische Außenminister Sergei Lawrow in seiner jüngsten Funktion als Vorsitzender des Sicherheitsrates hingewiesen. Er sprach sich in diesem Zusammenhang für eine stärkere Vertretung des Globalen Südens aus, um "die derzeitige unzulässige Überrepräsentation des Westens in diesem wichtigsten UN-Gremium" zu beseitigen.
Natürlich würde der Westen eine solche Änderung nicht akzeptieren, da sie überhaupt nicht zur amerikanischen Vorstellung von einer "regelbasierten Welt" passt. Genauso wie Russland und China niemals ernsthaft über verrückte Ideen wie die von Lévy oder der Ukraine diskutieren werden.
Wir sollten uns jedoch darüber im Klaren sein, dass Versuchsballons wie der Artikel des französischen Provokateurs immer wieder auftauchen werden. Der Westen wird auf Biegen und Brechen immer wieder nach Wegen suchen, Russland aus dem Sicherheitsrat zu drängen oder ihm sein Vetorecht zu entziehen oder einzuschränken – solche Formeln wurden bereits mehrfach von verschiedenen Seiten vorgeschlagen.
Daher sollten auch solche völlig abwegigen Ideen mit größter Ernsthaftigkeit betrachtet werden. Immerhin erleben wir gerade, wie die abenteuerlichen Pläne des Westens für Russland, die einst völlig unmöglich schienen, in die Tat umgesetzt werden. Daher kann man über Lévys Idee vom Einfluss der 1. Ukrainischen Front auf den modernen UN-Sicherheitsrat zwar lachen; woraufhin man sich jedoch ernsthaft vorbereiten sollte, sind neue Angriffe gegen Russland an allen Fronten – nicht nur an den militärischen.
Übersetzung aus dem Russischen. Der Artikel ist am 27. Mai 2023 auf ria.ru erschienen. Der mit * markierte Absatz wurde von RT ergänzt.
Mehr zum Thema - Ende einer Ära: Vereinte Nationen sind zu einem parteiischen Instrument des Westens verkommen